Familienstrukturen und gesellschaftliche Verankerung ändern sich

Soziologe Pollack: Menschen weltweit entfremden sich von der Kirche

Veröffentlicht am 11.03.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Münster ‐ In Deutschland sind die Austrittszahlen aus den Kirchen hoch – nicht zuletzt wegen des Umgangs von Kirchenverantwortlichen mit Missbrauchsfällen. Doch das sei kein rein deutsches Phänomen, sagt der Religionssoziologe Detlef Pollack im katholisch.de-Interview. Er sieht kein Ende des Trends.

  • Teilen:

Die Meldungen aus Köln reißen nicht ab: Auf Monate hin sind beim dortigen Amtsgericht keine Termine für einen Kirchenaustritt mehr zu haben. Grund sind der Streit um das Missbrauchsgutachten des Erzbistums Köln sowie Empörung über mögliche persönliche Verstrickungen in Missbrauchsvertuschung von Kardinal Rainer Maria Woelki. Doch wie sieht es in anderen Ländern aus – geht dort die Kirchenbindung ebenso zurück? Detlef Pollack ist Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster und arbeitet dort im Exzellenzcluster "Religion und Politik". Im Interview spricht er über allgemeine Dynamiken und Beispiele aus der Welt.

Frage: Herr Pollack, in Köln ist es gerade klar zu erkennen: Menschen nehmen die Missbrauchsvertuschungen und Konflikte darum zum Anlass, der Kirche endgültig den Rücken zu kehren. Gibt es diese Dynamik in anderen Ländern auch?

Pollack: Das gibt es beispielsweise auch in Irland und den USA – zum Teil mit dramatischen Folgen. Aufgrund der Erhöhung des Wohlstandsniveaus, aber auch aufgrund von Individualisierung und kultureller Pluralisierung ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten die Beteiligung am kirchlichen Leben in einem so hochkatholischen Land wir Irland stark zurückgegangen. Dann kommen die Missbrauchsfälle hinzu und die Art, wie die Kirche damit umgeht – mit der Folge, dass viele Katholiken das Vertrauen in die Kirche verlieren und zu ihr auf Distanz gehen. In den USA werden die Entkirchlichungsprozesse zum Teil dadurch aufgefangen, dass Migranten aus katholisch geprägten Ländern Lateinamerikas einwandern. Der Katholikenanteil ist dort zwar von 24 (2007) auf 21 Prozent (2014) zurückgegangen, nachdem er über Jahrzehnte hinweg stabil war, aufgrund der Zuwanderung fällt der Rückgang in den USA aber nicht so dramatisch aus wie in Irland oder Deutschland.

Der große Unterschied zwischen der Religionslandschaft Irlands und Deutschlands besteht darin, dass in einem Land wie Irland die Religionszugehörigkeit lange Zeit national geprägt war. Diese Verbindung zwischen politischer und religiöser Orientierung ist auch etwa für Polen, Russland, Griechenland oder Kroatien typisch. In Deutschland sind nach der Katastrophe des Nationalsozialismus Kirche und Religion jedoch nicht mehr national verankert, sodass sich die Kirchen hierzulande nicht mehr darauf verlassen können, durch diesen Zusammenhang gestärkt zu werden.

Frage: In Polen hatte der Katholizismus vor allem in kommunistischer Zeit einen hohen Stellenwert als Gegenpol zum politischen System – das ist nun mehr als 30 Jahre her. Wie stark ist diese Bindungskraft heute noch?

Pollack: Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus war die Kirchenbindung in Polen über zwei Jahrzehnte hinweg erstaunlich stabil. Erst in den letzten zehn bis 15 Jahren können wir beobachten, dass die Integrationskraft der katholischen Kirche zurückgeht. Vor allem die aufstiegsorientierten und kulturell aufgeschlossenen jungen Menschen in den großen Städten wenden sich von der Kirche ab. Zunächst kommt es bei vielen Menschen in Polen zu einer Art Individualisierung des Glaubens. 2005 sagten noch zwei Drittel der Polen, sie würden in ihrem Glauben den kirchlichen Vorschriften folgen. Zehn Jahre später waren es nur noch etwas mehr als ein Drittel, die das sagten. Zugleich ist im selben Zeitraum der Anteil derer, die sich als religiös auf ihre eigene Weise bezeichnen, auf mehr als die Hälfte gewachsen. Diese Individualisierung der Religiosität ist nicht nur ein religiöser Formenwandel, sondern geht mit einer Abschwächung der religiösen Bindung und einem Rückgang der Bedeutung, die der Einzelne der Religion in seinem Leben einräumt, zusammen.

Religionssoziologe Detlef Pollack
Bild: ©epd/Norbert Neetz

Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack.

Frage: In Italien ist die Kirche nicht zuletzt durch den Sitz des Vatikan fest verankert und spielte auch lange politisch eine große Rolle. Von der Mandatssteuer, deren Empfänger sich die Italiener selbst aussuchen dürfen, lassen allerdings nur etwa ein Drittel das Geld der Kirche zukommen. Wie kam es dazu?

Pollack: In Italien ist das Niveau der Religiosität, des Glaubens an Gott und die Beteiligung am kirchlichen Leben deutlich höher als in den meisten Ländern Westeuropas. Es gibt allerdings dort mehrere Faktoren, die zur Lockerung der kirchlichen Bindungen beitragen. Dazu gehört die Familienstruktur. Das Familienbild in Italien inklusive der Rollenverteilung der Geschlechter ist noch recht traditionell. Gleichzeitig drängen vor allem gut ausgebildete junge Frauen ins Berufsleben und müssen deshalb die Doppelbelastung von Beruf und Familie tragen. So haben sie nicht mehr so viel Zeit für die religiöse Erziehung ihrer Kinder, zudem ist die Scheidungsrate in Italien sehr hoch – höher als in Deutschland oder Großbritannien. Die Veränderung dieser traditionellen Familienstrukturen ist ein wichtiger Grund, warum Religiosität nicht mehr so gut von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden kann. Weiterhin ist es in Italien zu einer Fragmentierung der politischen Landschaft gekommen: Bis in die 1980er Jahre war die Partei "Democrazia Cristiana" prägend und hat das katholische Milieu zusammengehalten. Die Partei verschwand durch einen Korruptionsskandal, rechte und populistische Parteien wie jene von Silvio Berlusconi oder heute die von Matteo Salvini kamen auf und betrieben eine polarisierende Politik. Seitdem ist der einst so mächtige politische Katholizismus zersplittert: rechtspopulistische Sympathisanten stehen neben sozial engagierten Katholiken, konservativen Papsttreuen und so weiter. Dadurch ist der politische Katholizismus insgesamt geschwächt und die politische Unterstützung religiöser Positionen funktioniert nicht mehr.

Frage: Was ist am Ende für die Entfremdung der Menschen entscheidender: Was in der Kirche um die Ecke passiert oder die großen kirchenpolitischen Entwicklungen?

Pollack: Für die evangelischen Kirchenmitglieder stellt die Unzufriedenheit mit der Ortsgemeinde und mit dem Handeln des Personals dort kaum einen Austrittsgrund dar. Überhaupt besitzt für sie die Kritik an der Kirche keinen hohen Stellenwert. Ihre Entfremdung hat mehr mit einem religiösen und kirchlichen Desinteresse zu tun. Anders bei den Katholiken, deren Kritik an der Institution Kirche und ihren verhärteten Strukturen teilweise harsch ausfällt, die sich aber ihrer Kirche insgesamt doch mehr verbunden fühlen als die Evangelischen. Stets ist es eher die große Institution, die Skepsis auf sich zieht, als der lebensweltliche Nahraum der Gemeinden.

Frage: Wird sich die Entfremdung von den Kirchen noch intensivieren – auch in der Schnelligkeit?

Pollack: Man sieht, dass in den vergangenen 50 Jahren das Niveau der Kirchenaustritte sehr stark schwankt. Es gibt Kirchenaustrittswellen und danach gehen die Austrittzahlen wieder zurück. Beunruhigend aber ist, dass das Niveau dieser "Austrittstäler" über die Jahrzehnte immer weiter angestiegen ist. Früher lag dieses Niveau bei etwa 0,5 Prozent der Kirchenmitglieder pro Jahr, heute bei über 1 Prozent – also doppelt so hoch. Ich könnte mir vorstellen, dass sich mit dem Anstieg des Austrittsniveaus eine Eigendynamik entwickelt, die dazu führt, dass je mehr austreten, auch desto mehr darüber nachdenken, ebenfalls auszutreten. Diese Prozesse hängen von familiären, kommunalen und gesellschaftlichen Faktoren ab und lassen sich schwer abschätzen. Eins lässt sich jedoch ganz sicher sagen: Es sieht nicht danach aus, dass sich diese Austrittsdynamik abschwächt.

Von Christoph Paul Hartmann