Halik zur Lage der Kirche: Gott sendet Zeichen zur Reform
Tomas Halik findet in seinem neuen Buch "Die Zeit der leeren Kirchen" ungewohnt scharfe Worte. Nicht die Welt müsse sich ändern, sondern die Kirche, schreibt Halik. Der Prager Theologe kritisiert "fehlende Weisheit" in der Kirchenleitung. Angst um Macht und kirchliche Egozentrik stoßen ihm ebenso auf wie die Idee einer Kirchenrettung durch Ghettoisierung. Die Nachahmung "einer prämodernen Volksfrömmigkeit" ist für ihn eine "bedauernswerte Peinlichkeit". Was muss also passieren? Mit katholisch.de hat er darüber gesprochen.
Frage: Herr Halik, Sie haben Ihre Predigten vom Beginn der Coronakrise veröffentlicht. Es scheint als könnten Sie der Krise auch Gutes abgewinnen.
Halik: Jede Krise ist Herausforderung und Chance. Die Pandemie ist nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die Kirche und den Glauben eine Herausforderung. Sie hilft der Kirche über krankhafte und primitive Gottesbilder nachzudenken. Wir müssen weg von einem Gott, der wie ein Regisseur das Welttheater lenkt oder durch die Pandemie Sünden bestraft. Corona ist auch eine Krise leichtfertiger Frömmigkeit.
Frage: Sie schreiben in Ihrem Buch, Gott habe mit der Pandemie die Welt erschüttert. Jetzt sagen Sie aber, er lenke die Welt doch nicht. Das widerspricht sich.
Halik: Nein, Gott handelt nicht unmittelbar. Er handelt nicht mechanisch, "von oben und von außen". Er inspiriert die Menschen, er handelt auch durch Glaube, Hoffnung und Liebe in den Menschen. Ich habe die Präsenz Gottes in der solidarischen Liebe der Menschen während der Pandemie gespürt. Das war etwas „Heiliges“, dort können wir dem Willen und der Präsenz Gottes begegnen. An einen Gott der Rache hinter Naturkatastrophen glaube ich nicht.
Frage: Es gibt die These, dass Krisen zu sozialen Verbesserungen führen. In ihrem Buch schreiben Sie, dass der coronabedingte Verzicht auf den Empfang der Eucharistie zur Solidarität mit Menschen in irregulären Situationen führen sollte, die "die Kirche vom göttlichen Tisch weggestoßen" habe. Wen haben Sie da vor Augen?
Halik: Das sind erst einmal die nicht-katholischen Christen, aber auch wiederverheiratete Geschiedene. Ich meine, dass der coronabedingte Eucharistieverzicht als Solidarität mit diesen Menschen verstanden werden kann.
Frage: Was sind die Konsequenzen?
Halik: Wir sollen dadurch verstehen, dass die Eucharistie keine Belohnung ist, sondern eine Stärkung für uns Schwache und für die Suchenden. Das heißt auf der anderen Seite nicht, dass es eine Einladung für alle geben kann. Wir können aber auch nicht einfach alle, die in "irregulären Situationen" leben, ausschließen. Darunter gibt es viele auf dem Weg des Glaubens, die Hunger und Sehnsucht nach dem "panis viatorum" haben. Grundsätzlich sollten wir Menschen am Rand immer wieder in den Mittelpunkt stellen. Wer am Rand steht sieht oft mehr und weiter: Sowohl nach innen als auch nach außen.
Frage: Wer steht denn in der Kirche noch am Rand?
Halik: Da gibt es viele, die sich nicht ganz mit den kirchlichen Gesetzen und der Kirchenpraxis identifizieren, die sich nicht akzeptiert fühlen. Dazu gehören auch viele LGBT-Menschen. Die Leute in "Grenzsituationen" in den Blick zu nehmen, bedeutet die Weitung der eigenen, mentalen Grenzen. Die spirituelle Erfahrung der Suchenden muss einen Platz in der Kirche bekommen – nicht als "Vorhof für die Heiden", wie Benedikt XVI. das vorschlug. Das genügt heute nicht mehr – sondern als Bereicherung für den Glauben und die Praxis der Kirche.
Frage: Wie könnte so eine bereicherte Kirche dann aussehen?
Halik: Theologen sind keine Futurologen, aber: Es braucht Veränderung. Geistliche Vertiefung und institutionelle Veränderung. In Deutschland liegt der Fokus oft zu sehr auf den Strukturen. Das heißt nicht, dass wir nicht über Frauenordination oder Zölibat sprechen müssten, aber jede authentische Reform braucht eine spirituelle und theologische Tiefe.
Frage: Was heißt das praktisch? Für die Kirche vor Ort?
Halik: Ich habe keine Hoffnung, dass Priester aus Osteuropa, Afrika, Asien oder "viri probati" das jetzige Pfarreisystem am Leben erhalten. Sie lösen unsere Probleme nicht. Erstens muss die Kirche von ihrem Egozentrismus weg. Die Pfarreipastoral frisst zu viele Ressourcen. Und zweitens muss die Kirche das Phantasma klassischer Mission aufgeben. Viele Leute haben Johannes Pauls' II. Anliegen der Neuevangelisierung völlig missverstanden. Sie missionieren wie Evangelikale. Das funktioniert aber nicht wirklich. Was es jetzt braucht, ist eine spirituelle Begleitung der Suchenden – dort liegt die Zukunft der Kirche. Es reicht nicht, einfach die Gläubigen zu versorgen, aber Mitgliederzuwachs ist auch nicht das Ziel. Es braucht respektvollen Dialog, spirituelle Begleitung für alle, wie in der kategorialen Seelsorge: bei der Armee, in Gefängnissen, Krankenhäusern und Hochschulen. Die Kapläne sind dort nicht nur für die Gläubigen, sondern für alle da. Wir brauchen spirituelle Zentren für Begegnung und Gespräch.
Frage: Das klingt nach grundlegenden Umbrüchen. Kann sich die katholische Kirche mit ihrer langen Tradition so verändern?
Halik: Veränderung ist nicht einfach. Die Kirche ist aber eine ecclesia semper reformanda. Es gab schon so viele Paradigmenwechsel in der Kirchengeschichte. Manchmal war das sehr schwierig. Wir verstehen aber selbst das Credo heute anders als vor tausend Jahren. Es gibt die Pflicht zur Rekontextualisierung. Nur so kann man der Tradition treu bleiben. Der Kontext muss ernstgenommen werden, wenn wir die Authentizität bewahren wollen. Authentizität liegt gerade nicht in der reaktionären Unbeweglichkeit. Wir müssen immer wieder nach der Identität des Christentums fragen: Sie ist nicht etwas, das einmal für immer gegeben worden ist.
Frage: Das sind scharfe Töne. Auch in Ihrem Buch finden Sie sehr deutliche Worte. Das kennt man nicht aus allen Ihren Büchern. Hat sich ihr Verhältnis zu Kirche und Tradition verändert?
Halik: Nein, mein Verhältnis dazu hat sich nicht geändert. Aber mit Blick auf die Kirche gehören Veränderungen doch dazu. Es wird immer deutlicher, wie wichtig die Erfahrungen der Leute außerhalb der Kirche sind. Wir müssen sie endlich ernst nehmen. Die Kirche ist doch kein Selbstzweck. Es braucht einfach mehr Dialog und Respekt. Papst Franziskus setzt diese Impulse.
Frage: Welche Impulse sind das?
Halik: Verwandlung, Vertiefung und Umkehr. Wir müssen den Egozentrismus überwinden. Nicht nur jeder persönlich, sondern auch die Kirche. Die Kirche muss ihren Egozentrismus und "kollektiven Narzissmus" aufgeben. Die Kirche muss zum Kern kommen. Sie muss weg von institutionellen Machtinteressen hin zur Gesellschaft. In Tschechien führte die rechtliche und ökonomische Absicherung der Kirche zu kirchlichem Egozentrismus. Dabei haben wir die Verantwortung der Kirche für die ganze Gesellschaft aus dem Blick verloren. Es muss darum gehen, was die Kirche der Gesellschaft geben kann und nicht umgekehrt.
Frage: "Die Strukturen der Kirche sind so sehr zerstört, dass nicht viel mehr als eine Klagemauer übrig ist." – Ein Bild, das Sie in ihrem Buch verwenden. Was ist zerstört an der Kirche?
Halik: Ihr Monopol auf den Glauben. Ihre Macht, den Glauben zu kontrollieren. Der Glaube ist da, er ist vital. So wie ein Fluss, der sich durch die Mauern der Kirche seinen Weg sucht.
Frage: Wer hat die Kirche zerstört?
Halik: Sie selbst, genauer: ihre strukturelle Unfähigkeit, auf Änderungen in der Gesellschaft und Kultur flexibel zu reagieren. Aber auch Dinge wie der Missbrauch haben die Kirche zerstört.
Frage: Die Kirche ist streng hierarchisch aufgebaut. Also haben die Bischöfe versagt?
Halik: Das ist ein Versagen des Systems. Papst Franziskus spricht zu Recht über Klerikalismus.
Frage: In Deutschland versuchen die deutschen Bischöfe gerade, gemeinsam mit Laien in einem Reformprozess gegen das Systemversagen vorzugehen. Was ist Ihr Tipp an den Synodalen Weg?
Halik: Ihr müsst Reform und geistliche Fundierung zusammenbringen.
Frage: Reformen sind das Ziel – etwa auch mit Blick auf die Stellung der Frauen in der Kirche. Meinen Sie diese Reform?
Halik: Ich bin überzeugt, dass jetzt die Stunde der Frauen ist. Wir dürfen diese Stunde nicht verpassen. Die Kirche hat wichtige Momente, den "kairos", schon zu oft verspielt. Im 19. Jahrhundert hat sie die Arbeiterklasse verloren; dann viele Intellektuelle durch ihren einseitigen Antimodernismus; die Jugend in den 1960er Jahren durch die panische Reaktion auf die "sexuellen Revolution". Jetzt sehe ich die Gefahr, die Frauen zu verlieren. Ihr Charisma muss in den Dienst mehr eingegliedert werden.
Frage: Was heißt das?
Halik: Wir müssen Schritt für Schritt gehen, es gibt so viel Stereotype und Vorurteile in der Kirche. Es ist ein heißes Eisen. Das wissen wir alle. Hier droht ein Schisma. Dazu brauchen wir Weisheit. Ein kleiner – sehr kleiner – Schritt war diese Erklärung des Papstes für das Lektorat und Akolythat.
Frage: Sie sagen auf der einen Seite, wenn wir nichts tun, verlieren wir die Frauen. Auf der anderen Seite sagen Sie, wenn wir etwas tun, kommt es zum Schisma.
Halik: Nein, nicht ganz. Das Schisma kommt, wenn wir jetzt zu schnell werden. Die Reform setzt eine ruhige, aber tiefgreifende Atmosphäre des Dialogs in der Kirche voraus. Daran müssen wir jetzt arbeiten. Beharrlich Schritt für Schritt.
Frage: Was wäre der nächste Schritt?
Halik: Der nächste Schritt müsste die Predigten von Frauen sein.
Frage: In Deutschland sagt man: "Auf einem Bein kann man nicht stehen." Was ist der zweite Schritt?
Halik: Dann kommt das Diakonat der Frau. Das sind zwei Schritte, die jetzt machbar sind. Die Priesterordination ist schwierig. Von meiner Seite spricht nichts dagegen. Die Argumente dagegen überzeugen mich nicht. Wenn wir sagen, Jesus habe nur Männer berufen, müssen wir auch sagen, Jesus hat sich nur Juden ausgewählt. Mit dieser Logik können wir auch keine Slawen, Deutsche oder Chinesen ordinieren. Das ist aber eine Gewohnheitsfrage – keine wirklich theologische Frage. Johannes Paul II. hat das so entschieden. Dieser Schritt ist nicht leicht.
Frage: Nicht leicht oder unmöglich?
Halik: Es wurde in der Kirche schon so viel geändert. Viele Dinge, denen gegenüber sich die Lehrautorität hysterisch und empört verhielt, sind heute selbstverständlicher Bestandteil des christlichen Bewusstseins und der kirchlichen Lehre. Vergleichen Sie den Syllabus von Pius IX. mit Gaudium et Spes. Das sind zwei Welten. Wir müssen eben verantwortlich mit Veränderungen umgehen. Es geht nicht alles in einem Moment.
Frage: Sie schreiben über die kirchliche Haltung zur Gendertheorie, dass die Kirche in zehn Jahren mit derselben Beschämung darauf zurückblicken werde, wie man sie heute beim Lesen der Verlautbarungen des 19. Jahrhunderts zur Pressefreiheit, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit empfinde. Wofür wird man sich in zehn Jahren noch schämen?
Halik: Ach, unsere Perspektive ist begrenzt. Ich meine aber, dass es große Impulse des Papstes zur Kirche als Instrument für die Kultur der Geschwisterlichkeit gibt. Sie werden von manchen Christen und kirchlichen Gruppen nicht akzeptiert und verlacht. Das ist eine Schande. Wir werden uns schämen, dass wir die Impulse von Papst Franziskus hatten und sie nicht verwirklicht haben. Genauso war es doch auch mit dem Katakombenpakt. Da gab es sehr wichtige Impulse von einigen Konzilsbischöfen an ihre Mitbrüder. Sie wurden nicht gehört. Papst Franziskus hat etwas davon verwirklicht in seinem eigenen Lebensstil. Solche Zeichen wirken sich auf die Denkstile der Menschen aus. Dafür schickt uns Gott Propheten.
Frage: Wer ist so ein Prophet?
Halik: Zum Beispiel Papst Franziskus, oder die Gemeinschaft in Taizé. Taizé zeigt: Wir müssen den Ökumenismus vertiefen und verbreiten. Wir stehen vor der Entscheidung: Gibt es einen Kulturkampf oder eine neue Ökumene?
Zur Person
Tomas Halik (*1948) wurde 1978 heimlich zum Priester geweiht und war enger Mitarbeiter von Kardinal Tomasek und Vaclav Havel. Er ist Professor für Soziologie und Pfarrer der Akademischen Gemeinde Prag. Papst Benedikt XVI. verlieh ihm den Ehrentitel Päpstlicher Prälat. 2010 erhielt er den Romano-Guardini-Preis. 2014 wurde er mit dem Templeton-Preis ausgezeichnet.