Über Umwege zum weißen Jesus

Warum wir uns Jesus als Europäer vorstellen – und das ändern sollten

Veröffentlicht am 06.04.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ In vielen Köpfen hat Jesus weiße Haut – aber warum eigentlich, wenn er doch aus dem Nahen Osten stammte? Ein Blick in die Geschichte zeigt Jesusbilder mit unterschiedlichen Funktionen und wenig Sinn für die Realität - und manchmal sogar einem gefährlichen Machtanspruch.

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Wie darf oder soll man sich Jesus vorstellen? Die meisten Menschen weltweit haben da ein klares Bild vor Augen: hoch gewachsen, hager, lange, dunkelblonde bis hellbrünette Haare, blaue Augen, weiße Haut. Es ist also ein Europäer – präziser, ein Mitteleuropäer – der in den Köpfen der meisten Menschen unabhängig von ihrem Wohnort oder ihrer religiösen Ausrichtung vorherrscht. Und dass bei einem Mann aus dem Nahen Osten?

Im Zuge der "Black Lives Matter"-Bewegung und der wachsenden Sensibilisierung für das immer noch weit verbreitete und die Gesellschaft beeinflussende koloniale Erbe ist auch die Diskussion um die Darstellung von Jesus entfacht. Der US-Aktivist Shaun King forderte im vergangenen Jahr gar Zerstörungen: "Ich glaube, die Statuen eines weißen Europäers, der Jesus sein soll, sollten gestürzt werden. Sie sind eine Form der weißen Vorherrschaft – und waren es immer." Erzbischof Justin Welby, Primas der anglikanischen Kirche von England, wollte sich dieser Forderung zwar nicht anschließen. Doch auch er forderte, die Vorstellung von Jesus als weißem Mann zu überdenken.

Wie Jesus tatsächlich aussah, ist völlig unklar. Die Bibel liefert nur wenige biografische Daten: Er kam in Bethlehem in der Nähe von Jerusalem zur Welt (Mt 2,1), seine Familie stammte aus dem nordisraelischen Nazareth (Lk 1,26). Dass Judas bei der Auslieferung Jesu den Soldaten extra ein Zeichen vorgeben musste (Mt 26,48), könnte darauf schließen lassen, dass Jesus keine besonderen körperlichen Merkmale hatte und nicht auffiel. Informationen über die Haut, Haare oder Größe Jesu gibt die Bibel aber nicht. Dagegen hat sich die Forschung bereits mit dem wahren Aussehen Jesu auseinandergesetzt. Nach verbreiteter Ansicht hatte Jesus wahrscheinlich olivfarbene bis braune Haut, dunkelbraunes oder schwarzes Haar und braune Augen – also in etwa die Physiognomie der Menschen, die auch heute noch etwa im Irak leben.

Keine Bilder aus der Lebenszeit Jesu

Der weiße Jesus hat also einen anderen – kunsthistorischen – Ursprung. Dazu ist zunächst einmal wichtig anzumerken, dass es aus der Lebenszeit Jesu und der Zeit des frühen Christentums so gut wie keine bildlichen Darstellungen Jesu gibt – und zwar ganz bewusst. Denn wie im Judentum herrscht auch in den frühen Jesusgemeinden die Auffassung vor, dass Jesus nicht dargestellt werden dürfe – es gibt schließlich das Bilderverbot im zweiten Gebot. Im 4. Jahrhundert fragt die Schwester des damaligen römischen Kaisers Konstantin den Kirchenvater Eusebius von Caesarea nach einem Bild von Jesus. Sie bekommt zur Antwort, dass sie dafür einfach die Bibel aufschlagen solle.

Bild: ©picture alliance/akg-images/André Held

Christus als Guter Hirte auf einer Wandmalerei aus dem 3. Jahrhundert in den Priscilla-Katakomben in Rom.

Die ersten bis heute überlieferten Christusdarstellungen stammen aus römischen Katakomben, in denen sich die verfolgten Untergrundgemeinden treffen. Sie stellen Jesus als guten Hirten und damit ganz klassisch als ein Trostbild dar: Mit weißer Haut, Tunika und kurzem, lockigen Haar – also sehr römisch. Nachdem durch Kaiser Konstantin das Christentum von einer verfolgten zur Staatsreligion wird, tauchen neue Jesusbilder auf, die nun der sich gewandelten gesellschaftlichen und politischen Position des Christentums Rechnung tragen: Er ist nun der strahlende allmächtige Herrscher, mit Bart und langem Haar, heutigen Darstellungen also schon recht ähnlich.

Woher kommen diese Bilder? Es ist ganz entscheidend festzustellen, dass Bilder in der damaligen Gesellschaft eine andere Funktion hatten als heute: Noch bis ins Mittelalter hinein spielt die lebensechte, individuelle Darstellung einer Person wenn überhaupt nur eine eher untergeordnete Rolle. Die Entdeckung der Individualität ist eine Errungenschaft der Renaissance. Die Bilder der Antike sollen vielmehr eine Rolle abbilden – und zwar sowohl bei den Christen des guten Hirten in der Verborgenheit wie auch beim Herrscher-Christus der jungen Staatsreligion: Ziel ist nicht ein individuelles, sondern eine klar wiedererkennbare Funktion des Dargestellten.

Wiedererkennbarkeit gewährleisten

Um diese Wiedererkennbarkeit zu gewährleisten, greifen die Künstler der Zeit auf eine für jeden klar identifizierbare Ikonografie zurück – und die orientiert sich an der pagan geprägten Alltagswelt. Forscher sind sich uneins, welches genau ihre Quellen waren. So könnte es sein, dass sich der gute Hirte mit seiner pastoralen Romantik und seiner beinahe süßlichen Jugendlichkeit von Darstellungen Orpheus', Hermes' oder Apollons geprägt ist. Die kaiserliche Anmutung Jesu als Herrscher könnte auf Götterbilder wie Zeus als Weltenherrscher zurückgehen, vielleicht auch mit alttestamentlichen Einflüssen der Samson-Figur. Andere Forscher sehen die Schablone für das Jesusbild eher bei den Darstellungen von charismatischen Philosophen mit Bart und Toga.

Das sind also die Startvoraussetzungen, als der Bilderstreit um die Darstellbarkeit Jesu im 8. und 9. Jahrhundert ausgetragen wird und sich die Vertreter der Auffassung durchsetzen, dass die Darstellung Jesu in Ordnung sei und nicht gegen das zweite Gebot verstoße. Der byzantinische Mönch Theodoros Studites meint etwa Anfang des 9. Jahrhunderts, Jesus habe durch seine menschliche Natur auch eine darstellbare Seite – die seiner Verehrung dienen könnte.

Bild: ©picture alliance/Godong/Pascal Deloche

Viele Jesusdarstellungen, die weltweit in Umlauf sind, sind bis heute prototypisch europäisch.

Nun verbreiten sich Jesusbilder in der gesamten Christenheit, die sich immer mehr vereinheitlichten. Eine große Rolle spielen dabei die sogenannten, nicht von Menschenhand gemachten Abbilder Jesu (bekannt sind das Mandylion und das Schweißtuch der Veronika), "wundersam aufgefundene" Jesusdarstellungen, die die Tradition der Ikonen begründen, also Bildern, denen keine künstlerische Interpretation innewohnt, sondern die nur immer wieder das "authentische" Bild reproduzieren. Doch auch diese "authentischen" Bilder stehen in einer kunsthistorischen Tradition der Rezeption vor allem griechischer paganer Einflüsse auf das Gottesbild. Der weiße Jesus setze sich durch.

Der weiße Jesus setzt sich durch

Im Mittelalter sind Jesusbilder Andachtsbilder – die wiederum keinen Anspruch auf eine realitätsnahe Abbildung haben. Für die europäischen Gläubigen ist der weiße Jesus einfach, direkt und niederschwellig zugänglich. Erst nach und nach bekommt die weiße Haut auch eine gewisse absichtsvolle Dimension: Wenn etwa versucht wird, Jesus dadurch von seiner jüdischen Herkunft abzuklammern. Dazu gehört auch, Maria ohne Ohrringe darzustellen – die gelten als Merkmal der Juden und werden etwa nach einer Konversion zum Christentum nicht mehr getragen. Die Nationalsozialisten werden in dieser Tradition später versuchen, aus Jesus einen "Arier" zu machen.

Bild: ©picture alliance/Louise Murray/robertharding

Jesus kann auch schwarz: Ein Gemälde von Wilson Bigaud aus dem Jahr 1957 im haitianischen Port au Prince.

Nichts desto weniger haben sich in den Jahrhunderten nach der Etablierung des Christentums viele verschiedene, ortsabhängige Jesusdarstellungen abseits vom Mainstream behauptet: Im irischen "Book of Kells" aus dem frühen Mittelalter hat Jesus rote Haare, aus dem 16. und 17. Jahrhundert gibt es Jesus mit äthiopischen und indischen Zügen. Dagegen steht in Europa der weiße Jesus auch für eine neue Form des Individualismus: Künstler wie etwa Albrecht Dürer malen Selbstporträts in Jesus-Pose, wohl um sich in die Leiden Jesu hineinzufühlen wie auch ihre kreative Kraft darzustellen. Die Wiedererkennbarkeit der Funktion ist weiter wichtiger als Naturalismus.

Koloniale Karriere

Die große Karriere des europäischen Jesus als weltweites Phänomen geht mit der Kolonisierung einher: Europäische Missionare verbreiten auf Reisen ihre Jesusbilder in aller Welt und beeinflussen dadurch das Gottesbild auch fernab von Europa. Damit geht eine Hegemonisierung der Hautfarben einher: Die mit der weißen Haut herrschen, die anderen folgen. Unter anderem in Lateinamerika, später aber auch in Afrika wird so das Jesusbild von den Kolonialherren instrumentalisiert, um den Menschen eine klare Rangordnung aufzuzwingen. In diesen Prozess spielen etwa auch eigens für Sklaven "redigierte" Bibelausgaben hinein, aus denen jede Art von Widerstand gegen Obrigkeiten getilgt sind. Nicht-Weißen wurde Jesus in Altarbildern, Kirchenfenster und Buchillustrationen immer wieder mit seinem Weiß-Sein als Merkmal der Herrschenden präsentiert.

Selbstverständlich gab und gibt es auch im Zeitalter des Kolonialismus Bilder eines Nicht-Weißen Jesus, doch sie bleiben Randerscheinungen. Die Europäer haben Jesus inkulturiert – genau das aber Menschen in anderen Ecken der Erde vorenthalten. Zu groß ist in dieser Zeit anscheinend die Gefahr, Jesus nicht mehr als Garant der eigenen "gottgegebenen" Vorrangstellung benutzen zu können. Die Darstellung des weißen Jesus ist also keinesfalls neutral, sondern zeugt auch vom Missbrauch der Religion (und der bereitwilligen Teilnahme deren Vertreter) an der Unterwerfung anderer.

Was nun? Der US-Jesuit James Martin schreibt dazu in einem Artikel: "Wir sollten für Jesusdarstellungen werben, die in die Kulturen passen, in denen wir jetzt leben. Trotz allem: Er ist auferstanden und allerorts zu finden." Das bedeute auch mehr Vielfalt: Mal einen schwarzen Jesus in den österreichischen Alpen vielleicht. "Jesus findet man am besten, wenn man die eigene Komfortzone verlässt", so Martin.

Womit wir wieder beim Anfang und bei Justin Welby wären, der sich im besten Wortsinn "buntere" Jesusbilder auch in Europa wünscht. Denn dass wir uns Jesus nicht nur in Europa, sondern auch darüber hinaus als Weißen vorstellen, hat nichts mit seiner wirklichen Erscheinung zu tun (auch wenn das manche leider immer noch glauben mögen), sondern mit einem Identifikationsbild, das sich Europäer gemacht haben. Dazu hatten sie damals und haben sie heute jede Berechtigung. Das Problem ist die repressive Nutzung dieses Bildes gegen andere. Jetzt kann die Zeit sein, dass die Inkulturation auch mal in die andere Richtung funktioniert.

Von Christoph Paul Hartmann