Theologin Platow: Künstliche Intelligenz wird Religionsersatz
Künstliche Intelligenz (KI) wird nach Einschätzung der Religionspädagogin Birte Platow für viele Menschen zum Religionsersatz. Sie nähmen die allwissend scheinenden Anwendungen dieser Technologie in Alltag und Wissenschaft wie eine göttliche Macht wahr, sagte die Professorin der Technischen Universität Dresden am Freitag bei einem Online-Kongress über gegenwärtige Formen religiösen Glaubens. Die technologische Entwicklung befriedige damit Bedürfnisse, wie es früher nur die Religionsgemeinschaften getan hätten, so die KI-Expertin. Angesichts dessen könnten die Kirchen "Anknüpfungspunkte" mit dieser Entwicklung suchen und aufgreifen.
Beim Auftakt sagte der katholische Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers, die hohe Zahl der Kirchenaustritte dürfe man nicht einfach mit "wachsender Distanz zu Gott" gleichzusetzen. Er warnte die Kirchen davor, "in Nostalgie oder Kulturpessimismus zu verfallen". Stattdessen sollten sie "mit Neugier und Zuversicht" suchen, wo neue Orte religiöser Erfahrungen seien. Zugleich räumte der Bischof des Bistums Dresden-Meißen ein, Missbrauchserfahrungen in der Kirche hätten bei Betroffenen "den Glauben an einen liebenden Gott nachhaltig zerstört".
Die Kulturwissenschaftlerin Uta Karstein, betonte, vor allem in Ostdeutschland gebe es bereits seit Jahrzehnten eine nachhaltige Abkehr von Religion. Die kirchenfeindliche Politik des DDR-Regimes habe bereits vorhandene Tendenzen verstärkt und Kirchendistanz bei drei Vierteln der Bevölkerung zum "Familienerbe" gemacht. Bei einer Minderheit der Unter-30-Jährigen sei nun jedoch eine wachsende Zustimmung zu "religionsnahen Aussagen" etwa über ein Leben nach dem Tod feststellbar, betonte die Soziologin und Psychologin von der Universität Leipzig. Sie schätzten Religion "als Kulturgut, ästhetische Erfahrung, gesellschaftliche Utopie oder transzendente Spekulation".
Nachhaltige Abkehr von Religion
Auch der Erfurter Philosoph Holger Zaborowski verwies auf die zunehmenden Formen von Religiosität ohne Glauben an einen Gott. Die Kirchen sollten einen solchen "Entzug Gottes" nicht nur religionswissenschaftlich oder religionssoziologisch, sondern auch theologisch als "mögliche Offenbarung" ernst nehmen.
Der zweitägige Kongress steht unter dem Leitwort "Was und wie, wenn ohne Gott?" Veranstalter sind die Katholische Akademie des Bistums Dresden-Meißen und die geistliche Gemeinschaft der Fokolar-Bewegung. Der Kongress soll die Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz thematisch fortführen, die sich auch mit Kirchenaustritten befasste, und eine Begleitveranstaltung des Reformdialogs "Synodaler Weg" sein.
Laut einer von den beiden großen Kirchen in Deutschland geförderten Studie wird die Zahl der Kirchenmitglieder in der Bundesrepublik bis 2060 um 49 Prozent zurückgehen. Die katholische Kirche verliere dabei geringfügig weniger Mitglieder als die evangelische, so eine Studie des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg. Neben dem demografischen Wandel sind für den Rückgang vor allem weniger Taufen sowie anhaltende Kirchenaustritte verantwortlich. In knapp 40 Jahren leben dann nur noch 22,7 statt 44,8 Millionen Christen in Deutschland. (cph/KNA)