Jesuit Hans Zollner: Im Kölner Gutachten fehlt die Opferperspektive
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Der Jesuit Hans Zollner ist Leiter des Zentrums für Kinderschutz CCP der Päpstlichen Universität Gregoriana und Mitglied der päpstlichen Kinderschutz-Kommission. Im Interview erklärt er, warum das Kölner Missbrauchsgutachten seiner Meinung nach für eine Aufklärung bei weitem nicht ausreicht, spricht aber auch im größeren Kontext über Missbrauch.
Frage: Vergangene Woche wurde das Kölner Missbrauchsgutachten veröffentlicht. Wie schätzen Sie als Experte den Inhalt ein?
Zollner: Nach dem, was man hören konnte und lesen konnte auch von Rechtsexperten, ist das Gutachten handwerklich gut gemacht für den Bereich, den es behandeln will. Insofern ist es schon eine anerkennenswerte Leistung, auch für die relative Kürze der Zeit. Aber ich muss auch sagen: Das ist natürlich ein Gutachten, das im Ansatz und im Ergebnis hinter dem zurückbleibt, was ich mir - und sehr viele andere Menschen sich auch - als einen gerechten und guten Umgang mit Betroffenen gewünscht hätten und was die Frage der Aufarbeitung im weiteren Sinn angeht.
Frage: Liegt das daran, weil es sich bloß auf die enge rechtliche Perspektive bezieht?
Zollner: Ja, und das entspricht ja auch nicht dem, was selbst im Auftrag steht, jedenfalls so, wie ich ihn lese und wie er auf Seite 1 des Gutachtens aufgeführt wird. Da steht nämlich, dass es unter anderem … darum gehen soll, dass evaluiert werden soll, ob die Vorgehensweise der damaligen Diözesanverantwortlichen, ich zitiere, "im Einklang mit den (...) Vorgaben des kirchlichen und des staatlichen Rechts und/oder dem kirchlichen Selbstverständnis stand bzw. steht". Und dieser letzte Teilsatz ist meines Erachtens nicht erfüllt. Denn bei kirchlichem Selbstverständnis geht es um deutlich mehr (d.h. um Moral), als nur um juristische oder kanonistische/kirchenrechtliche Betrachtung.
„Das Allerwichtigste, was fehlt, ist, dass es keine Opferperspektive gibt. Im ganzen Dokument wird nur auf vier Seiten auf die Fürsorge für die Betroffenen eingegangen“
Frage: Können Sie das erklären? Was fehlt da Ihrer Meinung nach?
Zollner: Das Allerwichtigste, was fehlt, ist, dass es keine Opferperspektive gibt. Im ganzen Dokument wird nur auf vier Seiten auf die Fürsorge für die Betroffenen eingegangen. Es fehlt der Kontakt zu denen, die in der Erzdiözese Köln als Präventions- bzw. Interventionsbeauftragte jahrelang im Kontakt mit den Betroffenen waren und auch die Fälle angehört und angenommen haben....
Dann fehlt natürlich alles, was damit zu tun hat, was Aufarbeitung auch im Deutschen alles meint, nämlich dass man nicht nur das, was liegen geblieben ist, erledigt und sich eine Übersicht schafft von dem, was geschehen ist oder was nicht geschehen ist, sondern dass man auch sich aufrafft, dass man Vorschläge macht, wie man zu einer größeren Klarheit kommt und wie man tatsächlich auch das verarbeiten kann und nicht nur benennen kann. Und da finde ich auch die Aussage, die gemacht wurde bei der Pressekonferenz, dass man im wertfreien Raum agiere und das nur juristisch vorstelle, nicht nur blauäugig, sondern auch vor einem akademischen Anspruch tatsächlich nicht genügend. Denn im wissenschaftlichen Diskurs ist klar, dass ich immer von Voraussetzungen ausgehe. Es gibt keinen absolut neutralen, wertfreien Raum. Ich habe immer Voraussetzungen, von denen ich ausgehe: meine eigenen mentalen Konzepte, meine Ausbildung, die Schule, der ich angehöre in meiner Arbeit, also, welche Denkrichtung ich habe und anlege. Und das betrifft natürlich auch die Frage: Wie gehe ich dann damit um? Was bedeutet das für die Zukunft? Und ich glaube, dass hier von vornherein eine Schere angelegt wurde, die es innerhalb des Dargestellten unmöglich macht, weiterzugehen und weitere Konsequenzen zu sehen bzw. zu formulieren.
Frage: Das heißt, es müsste jetzt auch weitere Schritte geben, die daran anschließen?
Zollner: Es müsste vor allem klar sein, dass das hier nur ein kleiner Ausschnitt von dem ist, was eigentlich Aufarbeitung meint. Und es müsste klar sein, dass mit dieser Selbstbeschränkung von vornherein natürlich sehr vieles wegfällt, was zentral für das kirchliche Selbstverständnis ist. Und da kann ich mich als Diözese nicht davor verschließen. Ich meine, wenn ein Jurist seinen Auftrag dann nur so definiert, dann ist das eben seine Sache. Aber es muss klar sein, dass das nur der Anfang ist und dass das Thema damit nicht abgeräumt ist.
Frage: Sie kennen auch den internationalen Kontext. Wie würden Sie das einordnen, was das Erzbistum Köln präsentiert hat?
Zollner: Also für den deutschsprachigen Raum ist das natürlich ein wichtiger Schritt nach vorne. Aber wenn man international schaut, ist es keine große Neuerung. In den USA ist schon seit vielen Jahren die Frage auch bei solchen Reports: Wer trägt Verantwortung? Wenn man auf den Grand-Jury-Bericht von Pennsylvania aus dem Jahr 2018 schaut, der ja kirchlich gesehen auch ein mittleres Erdbeben in den USA und darüber hinaus ausgelöst hat, muss man sagen, da wurden Bischöfe selbstverständlich von staatlicher Seite mit vollem Namen genannt. Da gab es aufgrund anderer Rechtsgrundlage überhaupt keine Diskussion, ob man da jetzt äußerungsrechtlich so oder so vorgehen könnte, sondern es wurde festgestellt, dass gegen Gesetze verstoßen worden war. Die Verbrechen waren, wie auch in vielen anderen Ländern, natürlich längst verjährt, aber sie wurden dennoch als Tatsache festgestellt.
Frage: Macht das denn einen großen Unterschied, ob es sich um eine kirchliche oder eine staatliche Untersuchung handelt? Irland und Australien etwa sind das ja auch auf staatlicher Ebene alles angegangen.
Zollner: Die sind das auf staatlicher Ebene angegangen. Dazu muss man sagen, dass das immer auch, speziell was Australien angeht oder was derzeit in England und in Schottland läuft, staatliche unabhängige Wahrheitskommissionen oder Royal Commissions waren. Die nehmen natürlich die Gesamtgesellschaft in den Blick. Und die Frage, warum das in Deutschland bisher nicht geschehen ist, ist sehr einfach damit zu beantworten, dass wir kein entsprechendes parlamentarisches oder rechtliches Instrumentarium haben, so wie das im common-law-Raum, in diesen angelsächsischen Ländern tatsächlich gegeben ist, vor allem durch diese Royal Commissions. Die werden dann auch mit unglaublich viel Geld ausgestattet und produzieren, wie man in Australien gesehen hat, sehr wichtige Ergebnisse. Das gilt … für alle verschiedenen kirchlichen und religiösen Zusammenhänge, aber auch weit darüber hinaus: für den Sport, für die militärischen Einrichtungen, die Polizei, die Gefängnisse und alle Organisationen, die mit Jugendlichen arbeiten, wie etwa die Schulen.
Das ist eben dann als gesamtgesellschaftlicher Ansatz so formuliert, und es müsste in Deutschland erst einmal ein solches Instrumentarium geschaffen werden. Das gibt es im deutschen Rechtssystem so nicht. Ich habe selber im letzten September mit zwei Parlamentariern des Bundestages darüber gesprochen. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass man darüber nachdenkt, welche Formen in der Richtung es geben könnte, auch wenn sie nicht auf der Ebene einer Royal Commission sein können, weil wir da noch meilenweit davon entfernt sind. Die Antwort war: Wir prüfen das. Wir schauen nach, ob das geht. Bis heute habe ich dazu nichts mehr gehört.