Wie Päpste die Welt veränderten – und von der Welt überrascht wurden
Knapp 2.000 Jahre gibt es das Papsttum – und die Welt um die Bischöfe von Rom hat sich in dieser Zeit gewaltig geändert. Dieser Wandel, der sich nicht selten in manchmal stürmischen Umbrüchen konkretisiert, hat die Päpste immer wieder herausgefordert, wenn sie ihn nicht sogar selbst forcierten. Ein Blick auf die Päpste in Umbruchzeiten kann einen kleinen Einblick in das Papsttum geben – und darüber hinaus auf den Stellenwert und die Wirkkraft einer Religion.
Ein einheitliches, für alle römischen Bischöfe zutreffendes Schema gibt es dabei nicht. "Dafür sind die Leute in diesem Amt kulturell, sozial oder von ihrer Geisteshaltung her zu unterschiedlich", sagt Volker Reinhardt. Der Fribourger Historiker hat sich intensiv mit der Geschichte des Papsttums beschäftigt und unterscheidet drei Handlungsmuster, mit dem das Vorgehen der Stellvertreter Christi in Umbruchsituationen zusammengefasst werden kann: Zum einen haben sich so manche Päpste als Trendsetter erwiesen und Wandlungsprozesse selbst angestoßen. Wenn dagegen Umbrüche von außen kommen, haben die Kirchenführer entweder mit einer eigenen Kampagne dagegengesteuert oder sich in eine bewahrende Position zurückgezogen.
Zum ersten Fall und damit zu einer Triebkraft der damaligen Weltpolitik: Gregor VII. (1025/30-1085) war Mönch in der Benediktinerabtei Cluny, bevor er 1073 Papst wird und bringt die Reformideen, die damals unter anderem von dem Kloster im Burgund ausgehen, mit in das Amt. Er hat eine klare Vorstellung davon, wie die Machthierarchien in der Welt aussehen sollen – und orientiert sich dabei an einem Buch des Augustinus von Hippo mit dem sehr programmatischen Titel "Der Gottesstaat". Genau ein solcher soll die Welt aus Sicht Gregors werden: Christus habe Petrus (und damit auch seine Nachfolger) zum obersten Richter in geistlichen Dingen und Fürsten über die weltliche Macht erhoben. Der Papst soll also Könige absetzen dürfen und die moralische Autorität über ihnen sein. Die ganze Welt soll christianisiert und das Jenseits zum entscheidenden Orientierungspunkt des Lebens auf der ganzen Erde werden. Was für Menschen von heute ziemlich nah an den Losungen der Islamischen Revolution im Iran und der Stellung von Ajatollah Ruhollah Chomeini ist, finden auch Gregors Zeitgenossen schon ziemlich radikal – oder, treffender ausgedrückt: viel zu radikal.
Ein Kampf kirchlicher und weltlicher Macht
Gregor bekommt heftigen Gegenwind der weltlichen Herrscher, die natürlich nicht bereit sind, sich dem Pontifex unterzuordnen – und seinen Rücktritt fordern. "Steige herab! Steige herab! Du durch Jahrhunderte zu Verdammender!", heißt es wenig schmeichelhaft in einem Brief des deutschen Königs Heinrich IV. nach Rom. Was folgt, ist ein Machtkampf, der letztendlich (nach lange vorherrschender Meinung) nach der Exkommunizierung Heinrichs durch Gregor im weithin bekannten "Bußgang nach Canossa" gipfelt, bei dem der König im tiefsten Winter vor der päpstlichen Residenz darum bittet, wieder in die Kirche aufgenommen zu werden; vieles spricht dafür, dass man sich in Wirklichkeit auf etwas zivilere Art arrangiert – ohne den Basiskonflikt aus der Welt zu schaffen. Das mit dem Gottesstaat funktioniert in dieser engen Form zwar nicht, dennoch können die Päpste nach Gregor auf eine große Autorität zurückgreifen, ihr Wort gilt tatsächlich eine ganze Menge und sie spielen bei den ganz Großen der Weltpolitik mit. Insofern hat die Idee Gregors gefruchtet, er hat die Welt ein gutes Stück weit nach seinen Vorstellungen geformt. Das bleibt jedoch nicht ohne Antwort der Fürsten und Könige – die den Päpsten ihre große Machtfülle weiter streitig machen. Ende des 13. Jahrhunderts wendet sich das Blatt und die Päpste kommen unter die Fittiche der französischen Könige, residieren sogar von 1309 bis 1377 in Avignon.
Hundert Jahre später brachte die Reformation die Päpste ganz schön in Bedrängnis. Zwar ist auch in der katholischen Kirche vielen damals schon klar, dass einige Auswüchse des Spätmittelalters – Stichwort Ablasshandel – ein Holzweg sind. Doch mit der Veröffentlichung seiner Thesen verpasst Martin Luther den Reformforderungen eine ganz erhebliche Dynamik, mit der auch die Päpste umgehen müssen – und das tut besonders einer von ihnen nach dem Motto "Angriff ist die beste Verteidigung": Papst Leo X. (1475-1521, Papst ab 1513). Er ist ein typischer Vertreter seiner Zeit: Der Florentiner kommt aus der angesehenen und mächtigen Familie der Medici und ist im Amt wie zahlreiche seiner Vorgänger vor allem darauf bedacht, Mitgliedern seiner Familie gut dotierte Posten und viel Geld zuzuschachern. Der Nepotismus begleitet das Papsttum schon seit der Spätantike, immer wieder ist die Kathedra Petri eine Verfügungsmasse, die sich die mächtigen Familien untereinander aufteilen (hier spiegeln sich Handlungsmuster der Oligarchen Osteuropas in unserer Zeit). Auf die Renaissance mit ihrer Wiederentdeckung der Kunst und Kultur der Antike haben sie mit einer schillernden Betonung und Illuminierung ihrer Macht reagiert: Bilder, Figuren, prachtvolle Bauten künden von ihrem Herrschaftswillen – damit sind sie in Sachen Marketing ganz auf der Höhe der Zeit, bieten mit ihrem Lebensstil den (sehr konservativ gesinnten) Reformatoren aber natürlich ein gefundenes Fressen. Denn mit dem bescheidenen Priesterideal der Tradition hat das nichts mehr zu tun.
Als Leo X. von den Thesen aus Deutschland hört, reagiert er schnell und läutet den Gegenangriff ein. Er verurteilt 1520 41 Schriften Luthers und exkommuniziert ihn, zudem versucht er, sich mit Luthers Landesherren gegen ihn zu verbünden. Als das fehlschlägt, wendet er sich an andere Fürsten. Damit hat er politisch gesehen eine eigene Initiative begonnen. Das Problem: Es bleibt bei dieser politischen Aktion, Leo X. ist dagegen nicht bereit, nachhaltige Reformen einzuläuten. Viel zu sehr steht für ihn der Nepotismus ganz oben auf der Prioritätenliste. Dieser Nepotismus hemmt die Katholische Reformation, die erst knapp drei Jahrzehnte nach Luther 1545 mit dem Konzil von Trient nachhaltig Form annimmt – wenn es auch etwa in Sachen Nepotismus bei Appellen bleibt.
Protest aus der Weltkirche
Hier zeigt sich eine Tendenz, die auch den momentanen Papst immer wieder erreicht: Der Protest aus der Weltkirche. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts setzen sich katholische Fürsten immer wieder für die dringend nötigen Reformen ein. Zudem hat die damals mit klugen Köpfen besetzte Kurie ein klares Bild davon, was sich ändern muss. Doch selbst, wenn sich Päpste der Baustellen bewusst sind – die Versorgung der eigenen Familie bleibt ein vorrangiges Ziel. Dadurch werden viele Möglichkeiten verpasst.
Ein Angriff von ganz anderer Seite ist dann die Französische Revolution ab 1789: Wissenschaft, Liberalismus, Nationalstaatswerdung, Demokratie sind die leitenden Prinzipien – die alle von der Kirche abgelehnt werden. Die Päpste gehen in die Fundamentalopposition. Pius VI. schreibt etwa in seiner Enzyklika "Quod aliquantum" (1791): "Kann man etwas Unsinnigeres ausdenken als eine derartige Gleichheit und Freiheit für alle zu dekretieren?" Er bezieht sich dabei auf die 1789 von der französischen Nationalversammlung verabschiedeten "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte". Die Kirche ist also gegen grundsätzliche Regeln des Umgangs der Menschen untereinander, die ja eigentlich in ihrem Sinne sein sollten. Warum der Papst trotzdem dagegen ist, zeigt sich im historischen Kontext: Viele Vertreter der Aufklärung (aus deren Ideen die Revolutionäre schöpfen) sind keine Christen, sondern Deisten. Sie glauben an einen Gott, der dem Menschen die Vernunft geschenkt hat, um sich so selbst zu erlösen – ohne Kirche. Diese grundsätzlich optimistische Sicht auf den Menschen teilt die Kirche dieser Zeit (und bis auf den heutigen Tag) nicht. Für sie ist der Mensch sündig und muss durch Jesus erlöst werden – natürlich über den Weg der Kirche. Dass man auch ohne Kirche glücklich werden kann, ist für Pius VI. eine Rebellion des Bösen.
Rebellion des Bösen?
Nun beginnt eine Phase in der Taktik der Päpste, die noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts anhalten wird: die der totalen Verweigerung. Sie lehnen Kapitalismus wie Sozialismus gleichermaßen ab, ihnen schwebt ein anderes Staatsbild vor: Ein von einem Fürsten regiertes System, in der sich der Herrscher um die entscheidenden Belange der Daseinsfürsorge und Sozialleistungen kümmert, also ein stark paternalistisches Modell. Der Fürst handelt hier im Kleinen als verlängerter Arm eines gerechten, aber auch strengen Vaters – wie sich die Kirche ihre Rolle als moralische Oberinstanz in der Weltpolitik vorstellt. Immerhin sei sie dazu von Gott beauftragt worden. Der "Gottesstaat" von Augustinus lässt grüßen.
Anders als noch in Zeiten der Reformation warten die Päpste nicht sofort mit einem eigenen Programm auf, sondern bleiben reglos und ziehen sich auf ihre beharrende Position zurück. Das Papsttum koppelt sich damit von den modernen Entwicklungen der Zeit ab und verliert im Folgenden den Anschluss an die gesellschaftlichen Diskussionen – die Päpste sind bald völlig isoliert. Kulturkämpfe etwa in Deutschland und der Schweiz folgen. In ihnen manifestieren sich die Barrikaden, die die Kirche gegen die Gesellschaft aufgebaut hat und gegen die Staaten angehen wollen. Die Päpste werden Kaiser ohne Land, wirklichen Einfluss haben sie nicht mehr. Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) wird diese Totalblockade aufbrechen und die Kirche sich der Welt wieder öffnen.
Drei Fälle, drei Päpste, drei Entscheidungen – mit unterschiedlicher Wirkkraft: Von einem kaiserlichen Bußgang nach Canossa kann Pius VI. nur noch träumen. Waren die Päpste mit ihren Strategien mit der Zeit also immer weniger erfolgreich? Das kommt auf den Blickwinkel an. Sicher: Ab dem 18. Jahrhundert spielt die Meinung der Kirche bei den Intellektuellen eine immer kleiner werdende Rolle, in den weltpolitischen Debatten ist sie mehr und mehr außen vor. Das sieht bei der Durchschnittsbevölkerung allerdings anders aus: Die Totalabwehr gegen den Liberalismus kommt bei vielen "kleinen Leuten" ziemlich gut an, weil sie Angst vor Gewinnmaximierung und Globalisierung haben (also ähnliche Vorbehalte wie auch die von Globalisierung, Digitalisierung und Prekarisierung der Arbeitswelt betroffenen Menschen im 21. Jahrhundert). "Das zeigt sich unter anderem daran, dass christlich geprägte Gewerkschaften und Parteien entstanden sind", so Reinhardt. Hier fällt die Haltung der Päpste auf fruchtbaren Boden – und etwa bei den Entwicklungen des Nationalismus im 20. Jahrhundert lagen sie ja vielleicht auch nicht mit allen ihren Bedenken gänzlich daneben.
Rückhalt bei "kleinen Leuten"
Die manchmal konservative Haltung der Kirche hat die Gesellschaft in manchen Punkten aber doch noch nach vorne gebracht: Wie sehr die Päpste den Sozialismus auch ablehnen, in der Problemanalyse geben sie ihm Recht. Die Entwicklung der katholischen Soziallehre stellt dann wieder einen konservativen Gegenpol dar, der das Wirtschaftssystem vieler Staaten (darunter vor allem Deutschland) noch bis heute prägt.
Es lässt sich über das Vorgehen der Päpste also ein zweischneidiges Urteil fällen: Die Päpste haben einige wesentliche Entwicklungen der Geschichte vernachlässigt oder vorschnell abgetan und sie lediglich bekämpft. Allerdings haben sie (wenn auch oft mit erheblicher Verzögerung) eigene Konzepte aufgestellt, die Gesellschaften (positiv wie negativ) bis heute prägen. Trotz ihres systemischen Machtverlustes sind die Nachfolger Petri Faktoren im Weltgeschehen geblieben – und machen die Zukunft spannend. Denn der nächste Umbruch hat mit sich vertiefenden wirtschaftlichen Unterschieden in der Welt, der Digitalisierung, Individualisierung und gleichzeitigen größeren Vernetzung bereits begonnen.