Gott liebt bis zur Lächerlichkeit

Ich bin der zerstreute Hirte – Humor in Jesusgleichnissen

Veröffentlicht am 24.05.2021 um 12:30 Uhr – Lesedauer: 

Stuttgart ‐ Die Gleichnisse Jesu hören wir meist in einem Gottesdienst, wo sie Teil der feierlichen Verkündigung des Evangeliums sind. Dieser liturgische Rahmen verhindert jedoch, Humorvolles in diesen Gleichnissen zu entdecken. Aber wenn man einen zweiten Blick wagt, wird es spannend.

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Und Jesus antwortete ihnen und sprach:

"Wenn einer von euch hundert Schafe hat und

eins davon verliert, lässt er dann nicht die

neunundneunzig in der Wüste zurück und

geht dem verlorenen nach, bis er es findet?"

Und sie sagten mit einer Stimme:

"Äh ... nein!?"

In den Evangelien fehlt uns leider oft eine Reaktion der Zuhörerinnen und Zuhörer Jesu. Das ist leider auch in Lukas 15 der Fall, wo Jesus von einem verlorenen Schaf, einer verlorenen Münze und einem verlorenen Sohn erzählt. Wir wissen einfach nicht, wie das alles angekommen ist. Jesus stellt eine rhetorische Frage und gibt damit selber eine Antwort. Eine Reaktion ist nicht überliefert.

Und wie bescheuert ist das eigentlich? Welcher Hirte – der anscheinend alleine unterwegs ist und seine eigene Herde weidet – lässt neunundneunzig Schafe unbeaufsichtigt, um ein einziges zu suchen? Wenn er zurückkommt, könnte schließlich die Herde so zerstreut sein wie der Hirte selbst. Aber Moment: Er kommt ja gar nicht zurück. Er schleppt das Schäflein nach Hause und ruft seinen Freunden und Nachbarn zu: "Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war!" Das ganze Dorf wird sich wohl eher um ihn Sorgen machen.

Wer Ohren hat, zu hören...

Das Problem mit Bibelgeschichten, die man von klein auf kennt, ist manchmal, dass man sie von klein auf kennt. Und weil sie in der Regel an "heiligen" Orten mit "heiligem" Ton verlesen werden, klingen sie sowieso immer tiefsinnig und heilig. Versucht man aber erst einmal, sie mit frischen Ohren zu hören – "Wer Ohren hat, zu hören, der höre!" – entdeckt man plötzlich neue Perspektiven. Im Lukasevangelium erzählt Jesus nämlich Witze. In Lukas 14,16-24 macht einer ein großes Gastmahl, lädt drei Freunde ein und bekommt nur Ausreden. Jeder hat etwas Neues erworben, ist damit beschäftigt und kann deshalb nicht kommen. Der Erste hat einen Acker gekauft, den er besehen muss. Der Zweite hat sich Ochsen gekauft, die er ausprobieren muss. Der Dritte hat sich eine Frau zugelegt, die er... Jedenfalls kann er irgendwie auch nicht!

In Lukas 18,2-5 lernt man dann einen Richter kennen, der zwar Gott nicht fürchtet, aber Angst vor einer Witwe hat, die ihm ins Gesicht schlagen könnte. Solche Gleichnisse sind unterhaltsam und lustig. Bei Lukas ist Jesus ein Entertainer.

"Freut euch mit mir!"

Ich glaube, dass das auch mit den Gleichnissen in Lukas 15 der Fall ist. Nicht nur der Hirte handelt unsinnig, sondern auch die Frau, die eine Party veranstaltet, weil sie bei sich zu Hause eine Münze verloren und nun wieder gefunden hat. "Freut euch mit mir!", jubelt sie. "Juhu!" kommt vermutlich als Antwort ihrer verwirrten Freundinnen. Und wenn schon der Hirte und die Frau unaufmerksam waren, dann ist der Vater im letzten Gleichnis absolut tollkühn. Sein Sohn erbittet sein Erbe im Voraus und der Vater erfüllt ihm diesen Wunsch. In diesem Gleichnis fragt Jesus schon gar nicht mehr: "Welcher von euch?" Weil das Verhalten dieses Vaters so extrem albern ist.

Bild: ©picture alliance/akg-images/André Held

Christus als guter Hirte auf einer Wandmalerei in den Priscilla-Katakomben in Rom. Hinter diesem vertrauten Bild aus dem Neuen Testament verbirgt sich auch eine humorvolle Botschaft.

Was will uns Jesus nach Lukas mit solchen komischen Figuren sagen? In seiner Gleichnissammlung "vom Verlorenen" geht es um die Freude im Himmel, wenn ein Sünder umkehrt. Betont wird dabei nicht, wie dumm man sein muss, um etwas zu verlieren. Das würde Gott bloßstellen. Jesus zeigt dafür die unsinnige, aber völlig natürliche Reaktion eines Menschen, der sein Verlorenes wiederfindet. Keiner würde es zugeben, aber jeder kann es verstehen.

Eine menschliche Komödie

Lächerliches, aber überaus menschliches Verhalten zu kommentieren ist Aufgabe der Komödie, hier der Observational Comedy. Sie spielt mit alltäglichen Erfahrungen, die alle kennen und die doch so oft völlig unlogisch oder widersinnig sind: Der Hirte freut sich selbstverständlich, sein verlorenes Schaf gefunden zu haben, und denkt in seinem Glück nicht mehr an die neunundneunzig, die natürlich immer noch in der Wüste herumstehen. Auch die Frau freut sich, ihr Geld gefunden zu haben, das wahrscheinlich bei ihr unter dem Sofa versteckt war. Der Vater freut sich, dass sein vergnügungssüchtiger Sohn wieder zu Hause ist. Alle drei sind von ihrer Freude so ergriffen, dass sie nicht einmal daran denken, dass andere womöglich ihre Freude für übertrieben halten. Das ist lustig.

Was hat Jesus nun genau gesagt?

Bekanntlich ist ein Witz, den man erst erklären muss, nicht mehr lustig. Wenn Sie jetzt nicht lachen, ist das also völlig in Ordnung. Womöglich liegt das aber auch an der Aura der Unantastbarkeit, mit der die Evangelien heute im Gottesdienst oft behandelt werden. Wie aber war es damals?

Auch diese Frage hat zwei Ebenen: Jesus und Lukas. Ist das (a) eine Geschichte, die der historische Jesus damals in Galiläa erzählt hat? Und wenn ja, war sie dann für ihn und seine Zuhörerinnen und Zuhörer lustig? Oder ist das (b) eine Geschichte, aus der der Evangelist Lukas einen Witz gemacht hat, die aber ursprünglich gar nicht witzig war?

Man kann heute nicht mehr sicher feststellen, was Jesus nun genau gesagt hat und was nicht. Was vielleicht dafür spricht, dass die Geschichte von einem verlorenen Schaf von Jesus selbst stammt, ist die Tatsache, dass sie sich in Variationen in drei Evangelien findet. Im Matthäusevangelium ist das Gleichnis in eine Rede über Kinder eingebettet (18,1-14): Gott sorgt für "Kleine". Im Thomasevangelium – das nicht in der Bibel steht – ist das verlorene Schaf das größte in der Herde und das Lieblingsschaf des Hirten (EvThom 107). Im Lukasevangelium ist das Schaf nur eines, das irrt, steht aber für einen Sünder, der umkehrt, den neunundneunzig Gerechten gegenüber, die nicht umkehren müssen (15,7). Man bekommt den Eindruck, dass Jesus zwar eine Geschichte über ein verlorenes Schaf erzählt hat, dass diese aber in drei verschiedenen Versionen überliefert wurde. Gemeinsam ist allen: Das Verhalten des Hirten ist unsinnig, egal, ob er motiviert ist von der Sorge für ein kleines Schaf, der Liebe für ein großes Schaf oder der potenziellen Freude, das einzige verlorene wiederzufinden. Es ist also durchaus möglich, dass Jesus von einem unbesonnenen Hirten erzählt hat.

Bild: ©Fotolia.com/Renáta Sedmáková

Der Evangelist Lukas, dargestellt während er sein Evangelium schreibt. Der Verfasser der gleichnamigen Frohen Botschaft gab dem Gleichnis des verlorenen Schafes eine humorvolle Note.

Aber nur Lukas erzählt von einer ähnlich zielstrebigen Frau. Sie ist allerdings nicht wie der Hirte in der Steppe, sondern zu Hause; die verloren gegangene Münze hat sich anders als das Schaf nicht selbst verirrt; und die neun anderen Münzen geraten nicht in Gefahr, wenn sie unbeaufsichtigt sind. Das Suchen der Frau ist nicht lächerlich, sondern gut nachvollziehbar. Ihre Reaktion hingegen, nachdem sie die Münze entdeckt hat, die ist übertrieben. Lukas betont die Freude, die sowohl der Hirte als auch die Frau zeigen, bis ins Lächerliche. Deshalb spricht manches dafür, dass der zerstreute Hirte erst bei Lukas zu einem Witz wurde. Bei Matthäus sorgt Gott dafür, dass ein kleines Kind nicht verloren geht. Das war möglicherweise eine Kritik an antiken Aussetzungspraktiken. Für Thomas ist es das größte und damit das Lieblingsschaf, das dem Hirten viel mehr bedeutet als die anderen. Er ist nicht zerstreut, sondern irgendwie verliebt! Nur Lukas betont die Freude, die den Hirten erfasst, und ergänzt sie mit einer ähnlich frohen Hausfrau.

Gott liebt – bis zur Lächerlichkeit

Lukas stellt Jesus als einen dar, der sein Publikum mit Humor gewinnt und seine Gegner schlecht aussehen lässt. In seinem Anliegen, die Freude im Himmel über bekehrte Sünder zu betonen, lässt er Jesus das Lächerliche an menschlichem Verhalten beobachten und belächeln. Und zwar nicht, weil er damit seine Gegner verspotten möchte, sondern weil seine Botschaft lautet: Gott ist genauso "verrückt". Gott freut sich so sehr über einen Sünder, der umkehrt, wie ein gefährlich impulsiver Hirte oder eine Frau, die überreagiert, wie ein liebender Vater und nicht wie ein berechtigterweise empörter Bruder. Jesus stellt nach Lukas einen Gott dar, der weder logisch handelt noch seine Freude zurückhalten kann. Gott handelt eben nicht wie diejenigen Pharisäer und Schriftgelehrten, die sich über Jesus aufregen.

"Wer von euch handelt so?"

"Na, keiner von uns! Wir sind doch nicht blöd!"

"Aber Gott handelt so! Gott ist der zerstreute Hirte."

Von J. Andrew Doole

"Bibel heute"

Dieser Text stammt aus der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Bibel heute", die vom Katholischen Bibelwerk in Stuttgart herausgegeben wird.