Missbrauch: Ein Blick in den Abgrund – und ein erschütterter Bischof
Am Ende war Erzbischof Heiner Koch sichtlich erschüttert. "Was soll ich da noch sagen", fragte der 67-Jährige am Dienstagabend in der Katholischen Akademie in Berlin ebenso bestürzt wie ratlos. Gut 90 Minuten hatten er und sein Generalvikar Pater Manfred Kollig zuvor als Zuhörer an einem öffentlichen "Hearing" zum Stand der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Berlin teilgenommen. Und was die beiden Geistlichen dabei von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern der Erzdiözese sowie einem Betroffenenvertreter zu hören bekamen, offenbarte einen schonungslosen Blick in den Abgrund des sexuellen Missbrauchs und seiner Folgen. Phasenweise geriet die Veranstaltung, die live im Internet übertragen wurde und an die Ende Januar erfolgte Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens der Kanzlei Redeker Sellner Dahs anknüpfte, zu einer Abrechnung mit den bisherigen Aufarbeitungsbemühungen der katholischen Kirche im Allgemeinen und der Erzdiözese im Besonderen.
Die Sicht der Betroffenen brachte zu Beginn des Abends Johannes Norpoth vom Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz ein. Mit eindringlichen Worten beschrieb er das Schicksal der Missbrauchsopfer, unter denen sich unzählige Menschen befänden, die das in der Kirche erlittene Trauma nicht überwinden könnten und bisweilen überhaupt nicht lebensfähig seien. "Für jedes Opfer sexualisierter Gewalt hört die Konfrontation mit dem Trauma erst auf, wenn der eigene Tod eingetreten ist", so Norpoth wörtlich. Dieses Wissen um die Situation der Betroffenen müsse alle Überlegungen und Maßnahmen im Hinblick auf die Aufarbeitung des Missbrauchs in der Kirche prägen.
Betroffenenvertreter: Bei Aufarbeitung "noch viel Luft nach oben"
Sexualisierte Gewalt und der von Vertuschung und Täterfürsorge geprägte Umgang damit seien Teil der jüngsten Kirchengeschichte und würden immer Teil der Kirche bleiben, so Norpoth weiter. Entscheidend sei daher, dass die Kirche endlich sachgerecht reagiere, um sexualisierte Gewalt in Gegenwart und Zukunft unmöglich zu machen, die Geschehnisse der zurückliegenden Jahrzehnte opferorientiert aufzuarbeiten und die Überlebenden zu entschädigen. "Bei allen diesen Themen haben wir heute – elf Jahre nach Bekanntwerden der Geschehnisse am Canisius-Kolleg – immer noch derart viel Luft nach oben, dass schon die Frage erlaubt sein muss, was eigentlich seit 2010 unternommen wurde", beklagte Norpoth.
„Identifizieren Sie nicht nur Probleme, sondern setzen sie mutig notwendige Lösungen um. Das sind Sie der Kirche und den Betroffenen schuldig.“
Zugleich machte er deutlich, dass die Aufarbeitung des Missbrauchs in der Kirche nicht nur eine Aufgabe für den Klerus sei. "Auch Laien haben an dieser Stelle Mitverantwortung zu tragen, denn in nicht wenigen Fällen haben sie dazu beigetragen, dass die Kirche ein sicherer Ort für Täter war und zum Teil auch heute noch ist", so der Betroffenenvertreter. Was unter dem Begriff Co-Klerikalismus mittlerweile auch beim Synodalen Weg diskutiert werde, sei über Jahrzehnte wesentlicher Teil des Fundaments langfristiger Täterstrategien gewesen.
Gleichwohl brauche es für Veränderungen natürlich Gestaltungsmacht – und die liege vor allem bei den Bischöfen und Generalvikaren. "Identifizieren Sie nicht nur Probleme, sondern setzen sie mutig notwendige Lösungen um. Das sind Sie der Kirche und den Betroffenen schuldig", sagte Norpoth an Erzbischof Koch und Generalvikar Kollig gewandt.
"Studien zeigen, dass der Missbrauch weitergeht"
Tom Urig vom Berliner Diözesanrat betonte die Verantwortung und Schuld der Berliner Bistumsleitungen der vergangenen Jahrzehnte. Das Missbrauchsgutachten habe gezeigt, dass auch im Erzbistum Berlin durch die Verantwortlichen verschleiert, vertuscht und verharmlost worden sei. "Der Schutz des eigenen Machtapparates war vielfach wichtiger als die seelische und körperliche Gesundheit sowie das Leben von Kindern und Jugendlichen", so Urig, der an Erzbischof Koch appellierte, die im Gutachten aufgelisteten Handlungsempfehlungen zu prüfen und Konsequenzen zu ziehen. "Das ist Ihre Aufgabe als Leitung. Sie müssen die Entscheidungen treffen, und die Zeit drängt. Studien zeigen, dass der Missbrauch weitergeht."
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Allerdings: Die Weiterarbeit mit dem Gutachten ist am Dienstag vorläufig ins Stocken geraten. Eine im Frühjahr gebildete Kommission aus Vertretern des Diözesanrats und des Priesterrats erklärte ihre Arbeit in einer Stellungnahme als "ruhend". Sie bemängelte, dass eine nötige kirchenrechtliche Bewertung des Verhaltens der kirchlichen Verantwortungsträger im Umgang mit den Missbrauchsfällen im Gutachten fehle und empfahl, dies durch die Anwälte nacharbeiten zu lassen. Die Kanzlei Redeker Sellner Dahs wies diese Kritik jedoch zurück. "Unser Gutachtenauftrag ist vollständig und ordnungsgemäß erfüllt worden", heißt es in einer ebenfalls am Dienstag veröffentlichten Reaktion. Wie es nun weitergeht, ist vorerst offen.
"Die Kirche hat kein wirkliches Interesse an Aufklärung"
Auf die durch den Missbrauchsskandal ausgelösten Probleme kirchlicher Mitarbeiter wiesen die Lehrerin Felicitas Guzy und die Gemeindereferentin Monika Patermann hin. Guzy betonte, dass sie sich immer wieder dafür rechtfertigen müsse, an einer katholischen Schule zu arbeiten. Hinzu komme, dass sie in ihrem privaten Umfeld und auch in ihrem Kollegium regelmäßig zu hören bekomme, dass sich in der Kirche ohnehin nichts ändern werde. Der Tenor sei häufig: "Der Kirche geht es nur um ihr Image, und sie hat kein wirkliches Interesse an Aufklärung und Aufarbeitung. Sie versucht angesichts der Abwanderung der Gläubigen nur zu retten, was zu retten ist", sagte Guzy.
Wie desaströs das Bild der Kirche in der Öffentlichkeit inzwischen ist, erlebt auch Patermann – etwa im Kontakt mit Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind: "Es ist eigentlich immer dasselbe: Diese Menschen sagen, dass sie mit einer frauenfeindlichen, homophoben, die sexualisierte Gewalt vertuschenden Kirche nichts zu tun haben wollen.“
„Das Ganze ist ein sehr, sehr langer Weg – vielleicht wird uns das für immer begleiten.“
Die Sicht der Priester schließlich brachte Matthias Patzelt ein. Er verwies auf den Generalverdacht, dem Geistliche inzwischen häufig ausgesetzt seien: "Auf alle Fälle gibt es bei vielen Geistlichen eine Verunsicherung – gerade auch in der Kinder- und Jugendarbeit." Kürzlich erst habe ein jüngerer Priester ihm gesagt, dass er als Konsequenz keine Jugendfahrten mehr anbiete. Mit Blick auf die Aufarbeitung des Missbrauchs schilderte Patzelt den Eindruck, dass es der Kirche immer noch vorrangig um ihr Image gehe – auch auf Kosten ihrer Priester. Beispielhaft nannte er den Umgang des Erzbistums mit eigentlich vertraulichen Vermerken, die der frühere Berliner Kardinal Georg Sterzinsky nach Gesprächen mit Weihekandidaten angelegt habe – und die nun Eingang in das Gutachten gefunden hätten. "Es ist nachhaltig vertrauenszerstörend, dass diese Texte jetzt seit einer Woche sogar im Internet nachgelesen werden können", beklagte der Priester, der damit auf die Veröffentlichung des zunächst unter Verschluss gehaltenen Teils des Berliner Gutachtens anspielte.
"Traurig und verzweifelt": Erzbischof Koch rang sichtlich nach Worten
Erzbischof Koch, der den Abend gemeinsam mit Generalvikar Kollig beschließen sollte, fehlten nach all diesen Schilderungen zunächst die Worte. Was er gehört habe, nehme ihm den Atem und lasse ihn "traurig und verzweifelt" sein, sagte der 67-Jährige schließlich. Er frage sich, wo er selbst schuldig geworden sei. Die Kirche sei auf einem Weg, das Geschehene aufzuarbeiten, aber "das Ganze ist ein sehr, sehr langer Weg – vielleicht wird uns das für immer begleiten", so Koch, der immer wieder abbrach und sichtlich nach Worten rang.
Am Ende des Abends standen gleich mehrere Erkenntnisse. Zum einen wurde überdeutlich, dass der Missbrauchsskandal und seine Aufarbeitung die Kirche noch sehr lange beschäftigen werden – was auch daran liegt, dass die bisherige Aufarbeitung selbst von loyalen Mitarbeitern der Kirche als weitgehend unzureichend betrachtet wird. Die einmal mehr sichtbare Erschütterung von Erzbischof Koch wirkte zwar glaubhaft, sie muss nun aber – das machten die verschiedenen Wortmeldungen deutlich – konkrete Folgen haben; die Aufforderung an die Bistumsleitung, endlich umfassend und wahrhaftig aufzuklären, zog sich wie ein roter Faden durch den Abend. Trotz der Schwere des Themas: Es war ein gelungener und wichtiger Abend, weil ehrlich und mit offenem Visier argumentiert wurde und der Abgrund des sexuellen Missbrauchs und seiner Folgen schonungslos offengelegt wurde.