"Tag gegen Hexenwahn": Stimme erheben gegen bedrohliche Entwicklung
Als der sechsjährige Jonathan die vielen Leute zum Dorfplatz strömen sieht, glaubt er, ein Fest stehe an. Neugierig folgt er mit seiner Mutter Christina. Er sieht Männer einen Scheiterhaufen anzünden, Holzpflöcke in den Boden rammen und hört, wie sie wütend von Hexen reden. Plötzlich greifen sie seine Mutter, fesseln sie an einen Pfahl, reißen ihr die Kleider vom Leib und quälen sie mit glühenden Eisen und Buschmessern.
Was der Junge und seine Mutter auf der Website des katholischen Hilfswerks missio Aachen beschrieben haben, ist nicht etwa im "finsteren Mittelalter" passiert, sondern am 10. August 2012 in Papua-Neuguinea. Hunderte schauten zu, auch Polizisten, aber niemand griff ein – bis auf ein paar Kinder, die eine katholische Ordensfrau um Hilfe riefen. Doch die Folterer prügelten auch auf sie ein und schrien: "Verschwinde, sonst verbrennen wir auch dich als Hexe!"
Jahrestag wurde zum Aktionstag
Das Schicksal von Christina Pakuma, die damals nur mit viel Glück überlebte und vor kurzem an Krebs starb, war für missio Anlass, den 10. August zum "Internationalen Tag gegen den Hexenwahn" auszurufen – 2020 erstmals, und das mit großer Resonanz. Denn Cristina sei kein Einzelfall, betont missio-Präsident Dirk Bingener. Hexenverfolgung sei ein akutes Problem, das sogar immer bedrohlicher werde.
Inzwischen seien in mindestens 41 Ländern der Welt Menschen "massiv in Gefahr, Opfer von Aberglauben und Gewalt zu werden". Vor allem Frauen, aber auch Männer und Kinder würden als angebliche Hexen oder Hexer verfolgt, gefoltert und getötet.
Letztes Jahr verwies eine Weltkarte auf Basis einer missio-Menschenrechtsstudie auf 36 betroffene Länder, seitdem sind 5 dazu gekommen. Schwerpunkte liegen in Afrika und Südostasien, auch vier lateinamerikanische Staaten sind aufgelistet.
Nach Einschätzung von Experten seien in den letzten 60 Jahren weltweit mehr Menschen als vermeintliche Hexen und Hexer getötet worden als in rund 350 Jahren europäischer Hexenverfolgung im Mittelalter zusammen, so der missio-Chef weiter.
Suche nach Sündenbock
Dabei gehe es vor allem um Gewalt und Machtmissbrauch – und um die Suche nach einem Sündenbock: "Für Unglücke, Todesfälle, eine Pandemie oder eine Naturkatastrophe etwa, die man nicht erklären kann, wird jemand verantwortlich gemacht."
Hexenwahn, ergänzt Bingener, trete unabhängig von der Religion in christlich und muslimisch wie auch in buddhistisch und hinduistisch geprägten Regionen auf. Die Übersicht – "vorsichtig geschätzt und ohne Anspruch auf Vollständigkeit" – basiert vor allem auf UN-Daten sowie auf Informationen des Witchcraft & Human Rights Information Network (WHRIN) und von missio-Projektpartnerinnen.
Linktipp: Wie eine Ordensfrau gegen Hexenverfolgung kämpft
Seit einigen Jahren herrscht in Papua-Neuguinea ein regelrechter "Hexenwahn": Frauen werden der Zauberei bezichtigt und brutal gefoltert. Die Schweizer Ordensschwester Lorena Jenal setzt sich intensiv für die Opfer ein. Im Interview erklärt sie, wie sie gegen die Hexenverfolgungen kämpft.
Partnerinnen wie Therese Mema aus der Demokratischen Republik Kongo: "Seit der Corona-Pandemie werden immer mehr Menschen der Hexerei beschuldigt und die Zahl der Gewaltopfer erhöht sich." Und die Schweizer Ordensfrau Lorena Jenal, die Christina gerettet und aufgenommen hatte, berichtet, wie gefährlich ihre Hilfe für Verfolgte derzeit in Papua-Neuguinea sei: "Selbst wenn wir eindeutige Beweise über die Täter haben, würde ich es nicht überleben, wenn ich die Folterer anzeigen würde". Denn der Glaube an Hexerei sei auch bei Polizei und Justiz stark verbreitet.
Schwester Lorena setzt auf Aufklärungsarbeit. Gleichzeitig hat sie mit missio ein Zentrum für Opfer der Hexenjagd errichtet, in dem sie medizinisch und emotional versorgt werden. Für ihre Arbeit wurde sie unter anderem 2018 mit dem Weimarer Menschenrechtspreis ausgezeichnet.
"Kein Problem von gestern"
Mit dem "Tag gegen Hexenwahn" will missio den Opfern eine Stimme geben und zeigen, dass Hexenwahn "kein Problem von gestern ist", betont Bingener und sieht auch die Politik in der Pflicht: "Das Thema muss in der Menschenrechtsarbeit stärker beachtet werden, ebenso in der Entwicklungszusammenarbeit."
Ein wichtiges Signal komme aktuell von den Vereinten Nationen, fügt er hinzu: Erstmals sei eine Resolution zur Beseitigung von Gewalttaten im Zusammenhang mit Anschuldigungen angeblicher Hexerei in Arbeit. Wenn dann noch entsprechende Taten folgten, sei dies ein echter Fortschritt.