Unsicherheit in "God’s Own Country" – eine religionspolitische Bestandsaufnahme

9/11: US-Katholiken zwischen Trauer, Dialog und schwieriger Neufindung

Veröffentlicht am 11.09.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

New York ‐ Der 11. September 2001 hat die US-amerikanische Gesellschaft nachhaltig verändert – auch in religiöser Sicht. Alte Narrative bröckeln, Spaltungen tun sich auf, Sicherheiten schwinden. Eine Analyse der vergangenen 20 Jahre für einen Blick in die Zukunft.

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Der 11. September 2001 hat sich tief in das Gedächtnis der USA eingegraben: Der Tag markiert die vorher schier unvorstellbare Erfahrung, dass das Land der "unbegrenzten Möglichkeiten" zum Ziel islamistischen Terrorismus werden könnte. Die "phantasmatischen" Attacken (Slavoj Žižek) auf amerikanischem Boden, die Entführung von zivilen Passagiermaschinen, die tausenden Opfer sowie die Erfahrung, dass ein beinahe mit militärischer Akribie geplanter Anschlag das Leben der gesamten Nation aus dem Tritt bringen könnte, schien surreal. Noch nie hatte es etwas Vergleichbares in der US-Geschichte gegeben – nicht einmal der Angriff auf "Pearl Harbor" 1941 konnte dem Szenario dieses Tages nahekommen.

Das Bewusstsein einer ganzen Nation wurde mit diesem Ereignis schlagartig geändert – anstelle von Unantastbarkeit flammte erlebte Zerbrechlichkeit auf, der Schock überwog den amerikanischen Stolz. Die Politspitze rund um US-Präsident George W. Bush kämpfte um Worte, die das Unaussprechliche beschreiben konnten. Die Leere, die den Platz des ehemaligen "World Trade Centers" in der Skyline von New York jahrelang erfüllte – und bis heute das Denkmal in Manhattans Zentrum rahmt, bezeugte die Orientierungslosigkeit einer ganzen Nation, die mit sich und ihrem vorher unhinterfragten Auftrag in der Welt haderte. Nach diesem Ereignis war nichts mehr wie es vorher war.

Papst Johannes Paul II., dem die Nachricht von seinem Pressedirektor Joaquín Navarro-Valls übermittelt wurde, zeigte sich tief betroffen. Seine Bekundung war eine der ersten internationalen Stimmen, die ihre Anteilnahme via Telegramm zum Ausdruck brachten – und auch die katholische Kirche in den USA stand sichtlich unter Schock. Bis heute ist für den 11. September ein besonderes liturgisches Gedächtnis vorgesehen, nachdem dies auch ein nationaler Gedenktag ist, der seit einer Bundesresolution im Oktober 2001 für die nationale Erinnerung reserviert ist. Während die Bush-Administration nur kurz nach den Anschlägen zum "Krieg gegen den Terror" aufgerufen hatte und im weltweiten Islamismus den Feind der modernen Welt auszumachen glaubte, sah man sich innerhalb der religiösen Landschaft der USA mit zunehmenden Identitätsproblemen konfrontiert: Das christliche Narrativ der "One Nation Indivisible" erhielt einen neuen, aber nicht unproblematischen Aufwind – der schon vorher oftmals leer gewordene Symbolismus einer "christlichen" US-Politik wurde nach dem 11. September vielerorts mit xenophoben, antiislamischen und rassistisch geprägten Inhalten befüllt.

Religionspolitische Lage verändert sich

Mit den Anschlägen an 9/11 hatte sich nicht zuletzt auch die religionspolitische Lage in den USA schlagartig verändert: Der steigende Argwohn gegenüber muslimischen Gruppierungen im eigenen Land drohte sich zu einem Spaltpilz innerhalb gewohnter Bündnisse zu entwickeln. Bis 9/11 waren viele muslimische Gemeinschaften in den USA tief im republikanisch-konservativen Flügel situiert – nicht zuletzt ihre traditionell ausgerichteten Werte in der Familien- und Gesellschaftspolitik hatten sie zu einem aufstrebenden Gesprächspartner innerhalb der US-Innenpolitik werden lassen. Diese Allianzen standen kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2011 vor ihrem Ende: Muslime wurden zunehmend stigmatisiert – selbst lange Zeit integrierte Familien fanden sich im Sog der Anti-Islam-Stimmung in Politik und Gesellschaft isoliert, ausgegrenzt und angegriffen. Muslimische US-Bürger merkten am eigenen Leib, dass die Inklusivität des "American Dreams" nicht in Stein gemeißelt war. Besonders konservative Prediger wie Jerry Falwell ("Mohammed is a terrorist!") heizten die Stimmung zusätzlich auf, ähnliche Stimmen kamen aus zahlreichen religiösen Gemeinschaften.

Bild: ©picture alliance/Sergi Reboredo

Der 11. September 2001 hat viel verändert.

Interessanterweise waren viele katholische Einrichtungen um Differenzierung bemüht und betonten die Notwendigkeit von Kooperation, Dialog und Zusammenarbeit. Zuweilen – und das sollte nicht geleugnet werden – gab es (und gibt es nach wie vor) auch vonseiten katholischer Vertreter Wortmeldungen, die mit pauschalen antiislamischen Verurteilungen die Anhänger muslimischen Glaubens mit einem Federstrich unter Generalverdacht stellen wollen. Dennoch machten sich katholische Universitäten, Forschungsplattformen und zahlreiche Pfarren besonders den Dialog zur Aufgabe, der ungeachtet fortgeführt und intensiviert werden sollte. Selbst jene Bischöfe, die sonst bis heute in theologischen Punkten oftmals diametral entgegengesetzte Auffassungen versinnbildlichen, traten in dieser Frage geschlossen auf: Etwa Wilton Gregory (2001 Vorsitzender der US-Bischofskonferenz) sowie Kardinal Dolan aus New York (Vorsitzender zwischen 2010 und 2013) beschworen beide in ihren jeweiligen Botschaften den Wert von Zusammenhalt, Aufbau und die Abkehr von Hass, Rache und Verzweiflung. Diese Position, die vielen katholischen Vertretern in politischer Hinsicht nicht nur Freunde gemacht hatte, war und ist jedoch bemerkenswert – und in vielen US-Kreisen heute gerne in Vergessenheit geraten. Selbst das gemeinsame Papier der US-Bischofskonferenz direkt nach den Anschlägen sprach sich gegen generalisierenden Verdacht, gegen Ausgrenzung und Intoleranz aus: "Wir dürfen nicht zulassen, dass wir von Angst gefangen werden. Alle Formen von ethnischer und religiöser Intoleranz gegenüber arabischstämmigen Amerikanern, Muslimen und jeglichen anderen Minderheiten muss zurückgewiesen werden."

Katholiken unvoreingenommener

Tatsächlich zeigte sich in den Folgejahren von 9/11, dass besonders die katholischen Gläubigen gegenüber dem Islam unvoreingenommener als zahlreiche Glaubensgeschwister in protestantischen Gruppierungen waren. Knapp 56 % der katholischen Gläubigen hielten 2011 die Positionen des Islams für kompatibel mit amerikanischen Werten, während etwa 2/3 der protestantisch-evangelikalen Bevölkerung der Meinung waren, dass der muslimische Glaube mit der US-Identität völlig unvereinbar ist. Ähnliche Vorbehalte haben sich bis heute in zahlreichen Teilen der US-amerikanischen Gesellschaft einzementiert. Muslime sind in den USA nach wie vor einerseits eine verschwindend geringe Minderheit (nur etwa 1 % der Bevölkerung bzw. 3,45 Mio. US-Bürger sind Muslime), andererseits aber eine jener, die mit den meisten politischen Vorurteilen behaftet sind. Dass besonders katholische Kreise nach 9/11 die Zusammenarbeit und das Gespräch suchten, dürfte unterschiedliche Gründe haben. Wohl aber dürfte die eigene Geschichte der katholischen Kirche in den USA eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Prägte doch die Erfahrung von politischer Stigmatisierung und gesellschaftlicher Marginalisierung auch zahlreiche katholische Bevölkerungsgruppen bis tief hinein ins 20. Jahrhundert. Nur mühevoll wurde die katholische Kirche in die Mitte der Gesellschaft integriert – zu stark wirkten anti-katholische Tendenzen früherer Politik nach. Nun erfuhren viele muslimische Familien eine ähnliche Ausgrenzung.

Was hat sich in den letzten 20 Jahren getan? Zahlreiche muslimische Organisationen (wie etwa CAIR – Council on American-Islamic Relations, gegründet 1994) erhielten enormen Rückenwind und versuchten von islamischer Seite, den Dialog mit der Gesellschaft offen zu halten und Bildungsarbeit über die religiösen Inhalte des muslimischen Glaubens zu verbreiten. Gleichzeitig wurden eben jene Organisationen zum Ziel rechtskonservativer Kritik, dass sie die Unterwanderung der amerikanischen Gesellschaft vorantreiben und in kriminelle Machenschaften verwickelt seien. Die Lage scheint nach wie vor unübersichtlich – noch dazu in einer Zeit, in der die USA selbst national und international nach ihrer Identität suchen. Viele privat finanzierte Medienunternehmen sind auf den Zug antiislamischer Kampagnen aufgesprungen und haben den christlichen Anstrich der US-Politik nicht selten in Zusammenarbeit mit rechtspopulistischen Vereinigungen (Stichwort: "Breitbart") für pluralismusfeindliche Strategien funktionalisiert. Besonders in Zeiten politischer Unsicherheit und wirtschaftlicher Instabilität fallen solche Botschaften oft auf fruchtbaren Boden.

Alte Erzählungen sind brüchig geworden

Man merkt vielerorts, dass die "alten Erzählungen" rund um "God’s Own Country", "One Nation Under God" oder der "Chosen People" angesichts der steigenden Säkularisierung brüchig geworden sind. Das betrifft nicht zuletzt auch die katholische Kirche, die sich im 21. Jahrhundert in den USA besonders innerkirchlichen Richtungskämpfen gegenübersieht, gleichzeitig aber auch in der gesellschaftspolitischen Positionierung einen schwierigen Stand hat: Nach dem von Ex-Präsident Trump initiierten und von Joe Biden höchst umstritten vollzogenen Truppenabzug aus Afghanistan hat auch in einigen konservativen Religionsblasen eine Abkehr von der international orientierten Berufung der USA im Weltgeschehen stattgefunden – eine Rolle, die der katholischen Kirche aber aufgrund ihrer Organisation als Weltkirche, aber auch wegen ihrer biblischen Verpflichtung zur Weltmission nicht so richtig passen möchte. Man tut sich innerhalb der katholischen Kirche schwer, die nach 9/11 angestoßenen Richtungskämpfe innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft auszuloten und zu verarbeiten.

US-Präsident Joe Biden
Bild: ©picture alliance/AP Photo/jelswick

Auch unter Joe Biden gibt es in der US-Gesellschaft noch viele Spaltungen.

Die identitätspolitischen Grabenkämpfe in den USA sind bis heute nicht zurückgegangen. Unter Joe Biden hat sich das nicht wundersam aufgelöst – das wäre auch eine unerfüllbare messianische Erwartung an seine Politik gewesen. Vielmehr sind die Diskussionen über die Rolle der USA, ihr Selbstbild und die Haltung nicht zuletzt durch die Geschehnisse im Nahen Osten um weitere Probleme angewachsen. Die Religionen stehen dabei nicht abseits, sondern vielmehr im Zentrum vieler Auseinandersetzungen. Das wissen auch die katholischen Oberhirten nur zu gut – die Stimmung ist zum Zerreißen gespannt. Und es deutet nichts darauf hin, dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird.

Ein Datum wirkt nach

Der 11. September wirkt nach – auch 20 Jahre nach dem Einschlag im Herzen der USA. Mit diesen Ereignissen wurde ein Schockzustand im Bewusstsein der Vereinigten Staaten geschaffen, gleichsam ein Raum der Lethargie, in dem man innen- und außenpolitisch um Lösungen ringt, diese aber in weiter Ferne scheinen. Ebenso wenig wie George W. Bushs Offensivpolitik oder die Isolationstaktik ("America First!") eines Donald Trump als realistische Strategien erscheinen, wirken alte Allianzen wenig hoffnungsvoll. Die Einschläge des 11. September reichen eben weiter als die terroristischen Attacken, die tausende Menschen ihr Leben gekostet haben. Die Orientierungslosigkeit in politischer und (zivil-)religiöser Hinsicht wirkt nach. Bis heute. Sie beinhaltet interreligiöse, internationale und nicht zuletzt theologische Implikationen. In einer Post-9/11-Welt, in der die vorherigen Narrative unglaubwürdig scheinen, nährt der Drang nach Sicherheit und Stabilität vielerorts falsche Hoffnungen. Diese Sehsüchte können höchst unterschiedlich sein – sei es der scheinbar lückenlose Rückzug auf Traditionen oder das Bestreben nach utopischen Neukonstellationen. Diese Haltungen machen selbstverständlich auch vor der katholischen Kirche nicht Halt. Im Gegenteil: Sie prägen viele der aus europäischer Sicht unverständlichen Stimmungen in Amerikas Katholizismus. Im Kontext dieser politischen und religionspolitischen Unsicherheit wachsen nicht zuletzt auch jene Haltungen und Theologien, die in anderen Teilen der Welt oftmals belächelt und mit Befremden wahrgenommen werden. Doch ist das oftmals das Problem: Der reale Grund ihres Entstehens, nämlich die politische und gesellschaftliche Realität, wird nur unzureichend beleuchtet. Dabei gibt es auch in anderen Teilen der Welt, ob nun in Europa, Asien oder Afrika bereits genügend Beispiele für ähnliche Erfahrungen, die religionspolitisch problematische Strömungen erwachsen lassen können.

Vielleicht ist ja gerade der 20. Jahrestag der Anschläge von 9/11 eine Möglichkeit dafür, zu erkennen, dass viele der gegenwärtigen Debatten und Auseinandersetzungen in den USA dort wurzeln, wo der Beginn des neuen Jahrtausends auf traumatische Weise erschüttert wurde: am "Ground Zero" des 11. Septembers.

Von Andreas G. Weiß