Sellmann: Hohe Kirchenaustritte in Deutschland ein "Franziskus-Effekt"
Der Bochumer Pastoraltheologe Matthias Sellmann sieht einen "Franziskus-Effekt" als Grund für voraussichtlich hohe Austrittszahlen im Erzbistum Köln. "Damit meine ich die Enttäuschung vieler Katholikinnen und Katholiken, dass der Papst die angebotenen Rücktritte von Bischöfen aus Köln, aber auch aus München und Hamburg nicht angenommen hat", sagte Sellman im Interview des "Kölner Stadt-Anzeiger" (Dienstag). "Für viele lässt der Papst die Reformverheißung unerfüllt, die man mit ihm verbunden hatte."
Eine Trendumkehr bei den Austrittszahlen, die laut Prognosen in der Stadt Köln bis zum Jahresende einen neuen Höchststand von mehr als 20.000 für katholische und evangelische Kirche erreichen sollen, könne es nur durch "die Naherfahrung, also das unmittelbare Erleben von Kirche vor Ort, und das Erscheinungsbild der Kirche im Großen und Ganzen" geben, so der Professor. Dazu zählten etwa das würdige Begräbnis, die inspirierende Predigt oder feierliche Erstkommunion. Erschienen solche Erlebnisse aber in der "kirchlichen Großwetterlage als Ausnahme", werde das Bleiben "zu einer Frage des Goodwills, der Beharrlichkeit oder der Widerständigkeit gegen die Fliehkräfte, die einen aus der Kirche heraustreiben". Wer ohnehin eher lose mit der Kirche "verkoppelt" sei, wolle sich nicht bei Nachbarn, Freunden und Kollegen für sie rechtfertigen müssen.
Es müsse deutlich werden: "Es hat Sinn, was Kirche tut"
Das Problem sei jedoch, dass die Menschen immer weniger solcher "Naherfahrungen" machten - "und wenn, dann mitunter negative". Die Strategie der Kirche müsse daher sein, das zu ändern und bessere Erlebnisse zu vermitteln. Dazu seien "hohes Qualitätsbewusstsein, überraschende neue Formate" sowie verstärkte Präsenz auch in den neuen Medien erforderlich. Es müsse deutlich werden: "Es hat Sinn, was Kirche tut. Die können etwas, was wichtig ist. Gut, dass es sie gibt", so Sellmann.
All dies könne nur nützen, wenn zugleich "die großen Negativposten" beseitigt würden, die eine "Dauerirritation für jeden darstellen, der auch nur die ganz normalen bürgerlichen Standards von Recht und Moral anlegt", betonte der Theologe. Der deutsche Reformprozess Synodaler Weg sei auch deshalb wichtig, "weil er zumindest als Versuch einer Aufräumaktion wahrgenommen wird".
Im Zuge der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln hatten der Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und der heutige Hamburger Erzbischof Stefan Heße, früherer Kölner Generalvikar, dem Papst ihren Rücktritt angeboten. Kardinal Rainer Maria Woelki hatte erklärt, im Amt bleiben zu wollen. Weihbischof Ansgar Puff wurde zunächst freigestellt. Im Rahmen einer Apostolischen Visitation wurde jedoch die Gesamtsituation im Erzbistum überprüft. Papst Franziskus beließ hiernach alle Bischöfe im Amt. Woelki befindet sich seit Oktober in einer Auszeit und will zur Fastenzeit ins Amt zurückkehren. Auch das Rücktrittsangebot des Münchner Kardinals Reinhard Marx vom Mai lehnte Franziskus im Juni ab. (tmg/KNA)