"In diesem Fall muss das Selbstbestimmungsrecht zurückstehen"

Kirchliche Stimmen vermehrt für allgemeine Impfpflicht

Veröffentlicht am 23.11.2021 um 15:42 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Frage, ob der Staat eine Impfung gegen das Coronavirus erzwingen kann, bleibt unter Politikern und Ethik-Experten stark umstritten. Dabei mehren sich nun kirchliche Stimmen, die eine allgemeine Impfpflicht befürworten.

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In der Kirche mehren sich die Stimmen, die eine allgemeine Impfpflicht gegen das Coronavirus befürworten. Der Frankfurter Moraltheologe und Sozialethiker Christof Mandry (52) hält angesichts steigender Corona-Zahlen und niedriger Impfraten eine Impfpflicht für fast unvermeidlich. Mit Blick auf das Argument von Impfgegnern, selbstbestimmt entscheiden zu wollen, sagte Mandry der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), die christliche Ethik sehe es bereits kritisch, wenn Menschen ihr eigenes Leben unnötig aufs Spiel setzten. "Hier geht es aber um die sozialethische Pflicht, die Gesundheit anderer nicht unnötig zu gefährden", betonte der Professor für Moraltheologie und Sozialethik an der Universität Frankfurt.

Mandry verwies auf dauerhafte und schwerwiegende Gesundheitsrisiken, aber auch auf gravierende wirtschaftliche und soziale Folgen der Pandemie für die gesamte Gesellschaft. Diese zu vermeiden, könne "schwerer wiegen als der - freilich nicht geringfügige - Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen durch das Impfen".

Auch die Moraltheologin Edeltraud Koller hält eine allgemeine Impfpflicht für "ethisch völlig vertretbar". Koller sagte der KNA in Frankfurt: "Wenn man sieht, was auf dem Spiel steht, finde ich es tatsächlich in einer Abwägung der Güter notwendig, eine generelle Impfpflicht zu diskutieren und auch einzuführen." Das Gemeinwohl der Gesellschaft, "also auch das Wohl anderer", sowie der Lebensschutz seien in der Ethik hohe Güter. Es gelte auch, Ärzte und Pflegepersonal auf Intensivstationen vor Überlastung zu schützen. "Ich halte die jetzige Situation für dramatisch genug", sagte Koller, die Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt lehrt.

Ethikrat debattiert Thema "sehr kontrovers"

Kerstin Schlögl-Flierl, Augsburger Moraltheologin und Mitglied des Deutschen Ethikrats, sagte auf "domradio.de", der Ethikrat debattiere dieses Thema "sehr kontrovers" und werde sich bald dazu äußern. Bis jetzt habe das Gremium die allgemeine Impfpflicht immer ausgeschlossen. Auch sie persönlich habe einen solchen Schritt immer abgelehnt. "Nun hat sich die Lage dramatisch verändert." Deshalb wäge sie gerade neu ab - auch mit Blick darauf, dass Ungeimpfte gerade aufgrund der Delta-Variante mit ihrem Verhalten die Geimpften oder Menschen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, auch gefährden.

Deutlich in Richtung einer allgemeinen Impfpflicht positionierte sich der Berliner Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl, der ebenfalls dem Ethikrat angehört. "Die kollabierende intensivmedizinische Versorgung führt heute schon zu extremen, manchmal sogar tödlichen Unterversorgungen anderer schwerer Erkrankungen", sagte er der KNA. "In diesem Fall muss das Selbstbestimmungsrecht zurückstehen. Es würde andere zumindest mittelbar töten", so der Professor an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen.

Die deutschen Bischöfe hatten am Montag die Impfung als moralische Pflicht bezeichnet, sich aber nicht zu einer rechtlichen Verpflichtung geäußert. Zuvor hatte der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers eine Pflicht als ethisch vertretbar bezeichnet. Anders als die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, sprach sich auch Diakoniepräsident Ulrich Lilie am Dienstag für eine allgemeine Impfpflicht aus. "Angesichts der immer dramatischeren Situation muss der Staat jetzt seine Verpflichtung zum Schutz von Menschenleben einlösen und handeln." (tmg/KNA)