SPD-Experte: Ablösung von Staatsleistungen an Kirche muss kommen
Die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen sollte nach Ansicht des SPD-Religionsexperten Lars Castellucci in dieser Legislaturperiode eingeleitet werden. Es sei "peinlich, sich immer wieder als Politiker vorwerfen lassen zu müssen, das Grundgesetz in diesem Punkt zu missachten", sagte er im Interview der "Zeit"-Beilage "Christ & Welt" (Donnerstag).
Viele katholische Bistümer und evangelische Landeskirchen erhalten aus historischen Gründen regelmäßig Geld von Bundesländern, die sogenannten Staatsleistungen. Diese "altrechtlichen" Leistungen umfassen Geld- oder Sachmittel, in manchen Fällen aber auch die Übernahme von Gehältern für Bischöfe, Domherren und Zuschüsse zu Pfarrergehältern. Für die beiden großen Kirchen zusammen machen diese Staatsleistungen jährlich etwa 550 Millionen Euro aus. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 bestimmte in Artikel 138, dass die Staatsleistungen durch Landesgesetze "abgelöst werden" sollen. Die Kirchen stehen einer möglichen Ablösung aufgeschlossen gegenüber. Derzeit gibt es in mehreren Bundesländern und auf kirchlicher Seite Diskussionen darüber.
Castellucci sagte in dem Interview weiter: "Es ist mittlerweile unstrittig, dass die Kirchen in die Lage versetzt werden müssen, auf Dauer zu finanzieren, was sie bislang aus den Staatsleistungen erlösen." Wie das funktionieren soll, könne letztlich nur eine Kommission klären, in der Bund, Länder, Kirchen und Experten vertreten seien: "Wir reden von einer Ablösesumme von mehreren Milliarden Euro. Dass da gefeilscht wird, kann nicht verwundern." - Noch 2018 hatte Castellucci Forderungen nach einer Ablösung der Staatsleistungen als "Unsinn" abgelehnt.
Kritik an Aufarbeitung von Missbrauch
Weiter kritisierte Castellucci die Aufarbeitung von Missbrauch innerhalb der Kirchen: "Mit jedem blöden Gutachten missglückt die Aufarbeitung mehr. Eins wird veröffentlicht, eins zurückgezogen und ein drittes nur geschwärzt veröffentlicht. Diesen Vertrauensverlust muss man dringend unterbrechen." Bei der Aufarbeitung bestehe ein Ungleichgewicht, weswegen Betroffene "zunächst selbst einen sicheren Stand erreichen" müssten. Dazu müsse die Selbstorganisation der Betroffenen unterstützt werden, möglicherweise auch finanziell.
Die Kirchen könnten die Aufarbeitung nicht allein übernehmen. "Wir haben genau dafür einen Rechtsstaat, weil nicht jeder damit alleingelassen werden kann, sich selbst aufzuklären und mit Konsequenzen zu belegen", so Castellucci. Insgesamt sehe er in den Kirchen durchaus die Bereitschaft, etwas zu tun - aber auch Scham und schlechtes Management. Es gebe zugleich die Gefahr, dass der Schutz der Organisation größer geschrieben werde als der Schutz von Menschen. Der Experte sagte: "Unter dem Strich: Es reicht bei Weitem nicht."
"Es betrifft nicht nur die Kirchen, sondern die ganze Gesellschaft"
Das Thema Missbrauch muss aus Sicht des Religionsexperten insgesamt stärker auf die Tagesordnung. "Es betrifft nicht nur die Kirchen, sondern die ganze Gesellschaft. Wir haben es, zumal mit allem, was durch das Internet noch dazukommt, mit einem aktuellen und höchst relevanten Problem zu tun", sagte er. Nötig seien Prävention und eine harte Strafverfolgung. "Aber es läuft uns die Zeit davon, um Wunden zu heilen, die durch die unzulängliche Aufarbeitung aufgerissen sind. Was Jahrzehnte zurückliegt, fasst ja keine Staatsanwaltschaft mehr an."
Viele Opfer beklagten, dass sie erneut gegen die "Mauern der Organisationen" liefen und fühlten sich alleingelassen. "Das darf man nicht laufen lassen, hier besteht Handlungsbedarf, und zwar auch politischer", forderte Castellucci. Schon jetzt gebe es den Beauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, sowie eine Aufarbeitungskommission. "Aber ich plädiere für eine engere parlamentarische Begleitung." Beide Institutionen müssten gesetzlich verankert werden. Den Menschen müsse deutlich gemacht werden, "dass der Staat kontinuierlich hinguckt".
Castellucci plädierte dafür, dass die Aufarbeitungskommission die konkrete Aufarbeitung von Institutionen wie den Kirchen begutachten solle. "Sie würde das Testat ausstellen - oder es eben verweigern." Insgesamt müsse es gelingen, die bestehenden Strukturen für die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt stark zu machen. Auch brauche es eine Berichtspflicht an den Bundestag mit Debatte und Arbeit in den Ausschüssen. Dass Aufarbeitung verschleppt werde, könne durch solche Verbindlichkeiten verhindert werden. "Wenn die Kirchen das Ruder nicht herumgedreht bekommen, schaffen sie sich noch selbst ab", gab Castellucci zu bedenken. Es gehe in erster Linie um die Betroffenen. Niemand solle sich ausgeliefert oder allein fühlen und stattdessen Solidarität erfahren. (tmg/KNA)