Wie der "Hauptmann von Köpenick" nach Luxemburg kam
Berühmtheit erlangt der aus Tilsit stammende Schuster Wilhelm Voigt, als er am 16. Oktober 1906 als verkleideter Hauptmann mit ein paar Soldaten in das Köpenicker Rathaus eindringt und dort die Kasse ausraubt. Kurze Zeit später wird er verhaftet, doch seine vierjährige Gefängnisstraße muss der falsche Hauptmann nicht aussitzen: Bereits im August 1908 wird Wilhelm Voigt durch Begnadigung des Kaisers Wilhelm II. aus der Haftanstalt Tegel entlassen. Doch auch nach seiner "Köpenickiade" vom Oktober 1906 spielt der Gauner im Ruhestand seine Parodie auf die Kultur der Uniformierten weiter und lebt seine Hauptmann-Figur in vollen Zügen aus.
Drei Jahre nach dem legendären Husarenstück in Köpenick lässt Voigt sich in Luxemburg nieder. Eigentlich wollte er bereits 1906 nach Böhmen, hätten ihm die Behörden damals einen Pass dorthin ausgestellt. Auch jetzt hat er andere Reisepläne: Amerika. Doch aus dem provisorischen Halt in Luxemburg wird ein über zwölfjähriger Aufenthalt und seine letzte Ruhestätte.
"…um den ewigen Schikanen zu entgehen, will ich mich in Luxemburg niederlassen"
Eine Stunde vor der feierlichen Eröffnung der Marienwallfahrt in der Kathedrale von Luxemburg wird Wilhelm Voigt am Bahnhof Luxemburg an einem Samstag Nachmittag im Mai 1909 von einem zahlreichen Publikum erwartet. Während seines Auftrittes – in Uniform - erzählt er seine Gaunerstory "mit der milden Schnoddrigkeit und dem gedämpften Galgenhumor, die zur Devise habe könnten: Mir kann keener" – und verteilt Autogrammkarten. Über seine Uniform sagt er : "Das is’n Hausrock, den darf jeder tragen. Der wird zur Uniform erst in dem Momang, wo ich Achselstücke dran befestige." Und er erzählt weiter: "Ich liebe das Theater, aber nur als Zuschauer, ich habe es stets abgelehnt, auf der Bühne zu erscheinen, obwohl man mir die für eine sechsmonatliche Vorstellungstournee in den Vereinigten Staaten die nette Summe von achtzigtausend Mark geboten hatte. Ich lebe von dem Vertriebe der Ansichtspostkarten, die mich in Uniform darstellen und die ich selbst mit meiner Unterschrift versehe." Auf die Frage, ob die deutschen Behörden diese Art des Broterwerbs nicht verboten haben, soll Wilhelm Voigt geantwortet haben: "In der Tat sahen sie den Ansichtskartenvertrieb nicht gern, und um den ewigen Schikanen zu entgehen, will ich mich in Luxemburg niederlassen." Knapp ein Monat nach seiner Niederlassung in Luxemburg verrät Voigt, dass er verlobt sei und sich demnächst in Luxemburg verheiraten wolle, "trotz seiner sechzig Jahre, da er sich noch gesund und kräftig fühle".
In der Tat liest man in der Luxemburger Presse: "Wie versichert wird, gefällt es dem Köpenicker außerordentlich gut in Luxemburg, da er sich mit Ehegedanken trägt und sich in der Landeshauptstadt niederzulassen gedenkt. Eine schöne und lustige Witwe hält sein Herz dauernd gefangen."
Offiziell geheiratet hat er diese Witwe Blum wohl nicht. Anlässlich der Veröffentlichung von Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick" (1931) gibt "Madame Köpenick" in der Luxemburger Presse ein Interview. Dort wird sehr nostalgisch über Wilhelm Voigts Lieblingsplatz im Lehnstuhl berichtet, dass er mit den Kindern der Witwe die Hausaufgaben gemacht haben soll und dabei stets zu wiederholen pflegte: "Je mehr du weißt, umso mehr wirst Du den Versuchungen gegenüberstehen." Er soll Harmonium gespielt haben und dabei so laut gesungen haben, dass die Leute auf der Strasse stehen blieben - am liebsten schmetterte er Choräle, von denen er alle Strophen kannte. Sein Lieblingslied war das Pilgerschaftslied: "Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh". Voigt wird zu einer Stadtbekannten Persönlichkeit, wenn er in seiner Fantasieuniform durch die Straßen Luxemburgs schreitet.
Im Juni 1912 geht die Meldung durch die gesamte deutsche Presse, der Hauptmann von Köpenick sei in London in einem Krankenhaus gestorben. Durch die Witwe Blum wird in Erfahrung gebracht, Voigt habe sich in die Sommerfrische in den Thüringer Wald begeben.
Auf der Zugfahrt zwischen Duisburg und und Kassel liest der Gauner im Ruhestand sein Nekrolog in der Presse. An das Berliner Tageblatt schreibt der ehemalige Schuster: "Wenn ich auch in dem Nachruf einige bedenkliche Stellen fand, so bitte ich, diese nur zu berichtigen, und kann Sie versichern, daß mir meine eigene Todesnachricht viel Freude gemacht hat." Vier Wochen lang ist Wilhelm Voigt Kurgast in Lauscha und geniesst dort nicht nur die Waldluft, sondern auch die lebhafte Bewunderung in der Öffentlichkeit.
Als am Morgen des 2. August 1914 eine Abteilung deutscher Soldaten den Luxemburger Bahnhof besetzt hat, soll Wilhelm Voigt ausgerufen haben: "Ich hab's ja immer gesagt, die haben solche Sehnsucht nach mir, dass sie noch einmal herkommen, um sich unter mein Kommando zu stellen."
Mit den Schrecken des Krieges vergeht den Menschen das Lachen
Allerdings mochte niemand mehr während des Ersten Weltkrieges augenzwinkernd über das preußische Militär lachen. Noch während des Krieges wird er in Luxemburg von der deutschen Besatzungsmacht verhaftet. Als die politische Harmlosigkeit des 65-jährigen offensichtlich wird, lässt man ihn wieder ziehen. Der zuständige Leutnant notiert in seinem Tagebuch: "Mir bleibt rätselhaft, wie dieser armselige Mensch einmal ganz Preußen erschüttern konnte."
Am Ende seines Lebens verblasst sein Ruhm sehr schnell. Völlig verarmt stirbt er in Luxemburg am 3. Januar 1922, er, der doch eigentlich "nicht in fremder Erde begraben sein wollte": Dieses Statement soll Voigt dem Untersuchungsrichter geliefert haben, als dieser ihn nach seiner Verhaftung in Köpenick fragt, warum er sich nicht mit der Stadtkasse ins Ausland absetzen wollte.
Bei der Beerdigung des falschen Hauptmanns, so will es zumindest die Tradition, habe sich eine wahre Köpenickiade abgespielt. Als der Trauerzug mit den sterblichen Überresten des "Hauptmanns" an einer französischen Truppeneinheit vorbeikommt, soll jemand dem französischen Offizier erzählt haben, man trage den berühmten "Capitaine de Koepenick" zu Grabe. Der Offizier hat angenommen, es würde sich bei Voigt um einen verdienstvollen Hauptmann des Luxemburger Freiwilligenkorps handeln. Deshalb befiehlt er seinen Männern, gebührende Haltung anzunehmen und zu salutieren, um dem toten "Capitaine" die letzten militärischen Ehren zu erweisen.
Nach seinem Ableben sorgt die Grabstätte Voigts auf dem Stadtluxemburger Liebfrauenfriedhof, dem Hauptfriedhof der Europastadt, für ein mediales Interesse. Seine letzte Ruhestätte mutiert zu einer Pilgerstätte, die zunächst vom Zirkus Sarrasani werbewirksam in Szene gesetzt wird. Bei einer 1961 vom Zirkus Sarrasani gestifteten Grabinschrift hat sich allerdings ein Datumsfehler eingeschlichen: Der nach Luxemburg immigrierte Ganove ist nicht 1850, sondern 1849 geboren.
„Gerne würde ich zur Erhaltung oder Verschönerung dieses Grabes einen Beitrag stiften, und ich bitte Sie, mir mitzuteilen, ob es für die zu diesem Zwecke gestifteten Spenden ein bestimmtes Konto gibt, auf das ich meinen Beitrag einzahlen könnte.“
Als 1975 die Grabkonzession der letzten Ruhestätte des "Hauptmanns von Köpenick" abläuft, kommt es – insbesondere in Deutschland – zu einem erhöhten Interesse an der Grabstätte. Sogar der Schriftsteller Carl Zuckmayer plädiert in einem Brief an die Bürgermeisterin für die Weiterpflege der Grablege für den am 3. Januar 1922 verstorbenen Schuster: "Gerne würde ich zur Erhaltung oder Verschönerung dieses Grabes einen Beitrag stiften, und ich bitte Sie, mir mitzuteilen, ob es für die zu diesem Zwecke gestifteten Spenden ein bestimmtes Konto gibt, auf das ich meinen Beitrag einzahlen könnte." Der Abteilungsdirektor im Hause Henkel aus Düsseldorf suggeriert der Stadtbürgermeisterin sogar die Einrichtung eines "Gedenkraumes Voigt" und Berliner Senatoren schreiben nach Luxemburg.
Dem Druck aus dem In- und Ausland haben die Stadtväter der Hauptstadt des Großherzogtums ein postives Echo verliehen und die Grabkonzession übernommen. Im Herbst 1975 schreibt die Stadt Luxemburg ein Ideenwettbewerb zur Gestaltung einer neuen Grabplatte aus. In Szene gesetzt werden sollte dabei der "Kleinmann", der in seinen Gesten eingeschränkt und sogar von den Strukturen der Gesellschaft erdrückt wird. Der luxemburgische Künstler J.P. Georg wird für den Auftrag gewonnen. Parallel macht sich die Gemeindeverwaltung Gedanken über die Grabinschrift und nimmt sogar diesbezüglich Kontakt mit dem Autor des tragigkomischen Stückes "Der Hauptmann von Köpenick" auf. In seinem Antwortschreiben suggeriert Carl Zuckmayer in einer etwas ironische Formulierung: "Dem deutschen Eulenspiegel des 20. Jahrhunderts zum Gedächtnis."
Zurückbehalten werden aber nur die Namen "Hauptmann von Köpenick" und Wilhelm Voigt sowie das – falsche – Geburtsdatum 1850 beziehungsweise Todesjahr 1922. Interessant ist die Tatsache, dass man den Irrtum beim Geburtsdatum bei der Gestaltung der neuen Grabplatte 1975 de facto mit übernommen hat. Die Lebensdaten Voigts werden also nicht von Seiten der Gemeindeverwaltung überprüft. Erst später kann der Fehler auf luxemburgischer Seite entlarvt werden. Auf deutscher Seite erscheint bereits einige Monate vor der Fertigstellung der neuen Grabplatte in den Ruhr-Nachrichten ein Artikel mit dem Titel "Maria Rensing deckt 'Ente' auf". Frau Rensing stöbert in den Gästebüchern eines im elterlichen Besitz befindlichen Hotelbetriebes in Rünthe. Hier soll sich Wilhelm Voigt als Gast damals mit seinem richtigen Geburtsdatum – 13. Februar 1849 – eingetragen haben.
Die Stadt Luxemburg übernimmt die Grabkonzession "auf ewig" und so bleibt der "Hauptmann von Köpenick" samt Pickelhaube auf dem Grabstein der Nachwelt erhalten. Bis heute bildet das Grab eine sonderbare Pilgerstätte für eine sonderbare Persönlichkeit.