Nach 42 Jahren holt ein Missbrauchsfall den Ex-Papst ein
Abermals richten sich die Scheinwerfer der Medien auf den Fall eines Priesters, der vor 42 Jahren vom Ruhrgebiet nach Bayern kam. Er hatte sich in seinem Heimatbistum Essen an Minderjährigen vergangen und sollte, wie seinerzeit üblich, erst therapiert und dann wieder im kirchlichen Dienst eingesetzt werden.
Über die Aufnahme ins Erzbistum München und Freising – damals unter Leitung des noch unerfahrenen Erzbischofs Joseph Ratzinger – entschied die dortige "Ordinariatskonferenz". Bis heute ist nicht restlos geklärt, wer an der Runde am 15. Januar 1980 teilnahm, wer damals was wusste und was daraus folgte.
Ex-Generalvikar übernahm alleinige Verantwortung
Als 2010, auf dem Höhepunkt der ersten Welle des Missbrauchsskandals, Journalisten aus aller Welt nachfragten, übernahm der frühere Münchner Generalvikar Gerhard Gruber die alleinige Verantwortung für die fatale Entscheidung und ihre Konsequenzen. Als Ruheständler musste allein Gruber dafür geradestehen, dass H.'s Kirchenobere erst nach Jahren, und auch dann nur halbherzig, gegen den Täter vorgingen. Da hatte H. als Seelsorger bereits weitere Jugendliche missbraucht.
War Gruber nicht mehr als ein verspätetes Bauernopfer? Sein inzwischen zum Papst avancierter ehemaliger Vorgesetzter, Erzbischof Ratzinger, war jedenfalls mit dem Schuldbekenntnis des Ex-Generalvikars aus der Schusslinie genommen – vorerst. Münchner Erzbischof zur Zeit dieses glimpflich verlaufenen Ablenkungsmanövers war Kardinal Reinhard Marx. Damals gaben sich alle Medien bis hin zur "New York Times" mit Grubers Erklärung zufrieden. Doch während die Journalisten sich anderen Skandalen widmeten, blieb der Fall H. innerkirchlich virulent.
Nach weiteren Missbrauchsvorwürfen wurde H. 2010 in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Seit 2020 lebt er wieder in seinem Heimatbistum Essen unter engmaschiger Überwachung. Von einem weltlichen Richter wurde er 1986 zu einer Geld- und Bewährungsstrafe verurteilt, kirchenrechtlich kam seine von Marx angestrebte komplette Entfernung aus dem Klerikerstand nie zustande. Stattdessen wurde in Rom – durch Kardinal Gerhard Ludwig Müller – entschieden, man solle dem Geistlichen im Rahmen eines "Verwaltungsverfahrens" die Ausübung des priesterlichen Dienstes dauerhaft verwehren, ohne ihn zu entlassen.
Dazu brauchte es ein Dekret des Münchner Kirchengerichts unter seinem Obersten Richter Lorenz Wolf. Dieses Dekret von 2016 hat – mit Verzögerung – nun abermals Bewegung in den Fall H. gebracht. Es lässt die Rolle Ratzingers und die seiner Nachfolger in neuem Licht erscheinen. Demnach haben weder Ratzinger noch Kardinal Wetter noch Kardinal Marx getan, was ihre Pflicht im Umgang mit solchen Vorwürfen gewesen wäre.
Gutachten wird wohl weitere Details bringen
Das Dekret des Münchner Kirchengerichts ist nicht öffentlich, liegt aber einigen Journalisten der "Zeit" und Kirchenrechtlern vor. Ein in den kommenden Wochen erwartetes Gutachten einer Münchner Anwaltskanzlei zu kirchlichen Missbrauchsfällen der vergangenen Jahrzehnte wird vermutlich weitere Details ans Licht bringen.
Schon jetzt scheint absehbar, dass die neuen Enthüllungen das Ansehen des heute 94-jährigen Joseph Ratzinger mindern werden. Zwar war er es, der 2001 als Präfekt der Römischen Glaubenskongregation durchgriff und dafür sorgte, dass alle Missbrauchsverfahren an diese strengste Behörde der Weltkirche abgegeben werden mussten. Hunderte von Schuldigen wurden aus dem Klerikerstand entfernt. Und als Papst Benedikt XVI. hat er einen der übelsten Missbrauchstäter, den mexikanischen Ordensgründer Marcial Maciel, kaltgestellt; und er war der erste Papst, der Missbrauchsopfer traf. Und doch hat er, wenn die jüngsten Recherchen zutreffen, in seiner frühen Bischofsbiografie durch Pflichtverletzung eine Schuld auf sich geladen, die er nun nicht mehr loswird.