Kardinal Hollerich: Kirche muss Pflichtzölibat für Priester überprüfen
Der Luxemburger Kardinal Jean-Claude Hollerich wünscht sich einen offeneren Umgang der katholischen Kirche mit dem Thema Sexualität und eine Überprüfung des Pflichtzölibats für Priester. "Natürlich geht es nicht darum, den Leuten zu sagen, dass sie alles dürfen, oder darum, die Moral abzuschaffen", sagte Hollerich im Interview der französischen Zeitung "La Croix" (online Donnerstag) in Rom; "aber ich glaube, wir müssen sagen, dass Sexualität ein Geschenk Gottes ist. Wir wissen es, aber sagen wir es auch? Ich bin mir nicht sicher."
Einige in der Kirche schrieben die Zunahme von Missbrauch der Sexuellen Revolution zu, sagte der Jesuit. "Ich denke genau das Gegenteil: Die schlimmsten Fälle ereigneten sich meiner Meinung nach vor den 1970er-Jahren." Es sei notwendig, dass Priester über ihre Sexualität und auch über ihre Schwierigkeiten damit sprechen können, so Hollerich: "Sie sollten in der Lage sein, frei darüber zu sprechen, ohne Angst zu haben, von ihrem Bischof gerügt zu werden." Der Kardinal weiter: "Was homosexuelle Priester betrifft – und es gibt viele von ihnen –, wäre es gut, wenn sie mit ihrem Bischof darüber sprechen könnten, ohne dass dieser sie verurteilt."
Die Priesterausbildung dürfe sich nicht allein auf die Liturgie konzentrieren, betonte der 63-Jährige, der auch Präsident der EU-Bischofskommission COMECE ist. Auch Laien und Frauen müssten bei der Priesterausbildung mitreden; diese sei "eine Aufgabe der ganzen Kirche, und deshalb muss die ganze Kirche diese Phase begleiten, mit verheirateten Männern und Frauen und Ledigen". Hollerich sprach sich für eine offene Diskussion über den Pflichtzölibat für Priester aus. Er habe eine "sehr hohe Meinung vom Zölibat"; die Frage sei, ob er verpflichtend sein müsse. In seinem Erzbistum Luxemburg habe er verheiratete Diakone, die ihr Amt "wunderbar ausüben, Predigten halten, mit denen sie die Menschen viel stärker berühren als wir Zölibatäre. Warum nicht auch verheiratete Priester?", fragt der Kardinal.
Hollerich: Um gehört zu werden, muss Kirche Methode ändern
Hollerich sieht die katholische Kirche vor existenziellen Umbrüchen. "Wir haben eine Theologie, die in 20 oder 30 Jahren niemand mehr verstehen wird. Diese Zivilisation wird Vergangenheit sein", sagte der Kardinal. Daher brauche es "eine neue Sprache, die auf dem Evangelium fußt". An der Entwicklung dieser neuen Sprache müsse sich jedoch die ganze Kirche beteiligen. Das sei der Sinn der von Papst Franziskus einberufenen Weltsynode zur Synodalität der Kirche. Hollerich wurde vom Papst zum Generalsekretär der Synode ernannt.
Europa sei seit langem wieder ein Missionsland geworden, sagte der Kardinal. "Das Luxemburg meiner Jugend war ein bisschen wie Irland: mit großen Prozessionen, viel Volksfrömmigkeit. Als ich klein war, waren alle Kinder in der Kirche." Doch heute sehe er, "dass diese Vergangenheit nicht so glorreich war". Schon damals habe es "viele Brüche und Heuchelei" in der Gesellschaft gegeben. "Im Grunde haben die Menschen nicht mehr geglaubt als heute – auch wenn sie in die Kirche gegangen sind. Sie hatten eine Art kulturelle Sonntagspraxis, aber nicht inspiriert durch den Tod und die Auferstehung Jesu."
Natürlich gebe es diese kulturelle Praxis des Katholizismus noch, sagte Hollerich; und zwar je nach Weltregion unterschiedlich stark. In Europa jedenfalls habe die Corona-Pandemie den Rückgang beschleunigt. In Luxemburg etwa gebe es ein Drittel weniger praktizierende Katholiken; und: "Ich bin sicher, sie werden nicht zurückkommen." Der Kardinal wörtlich: "Wir wissen jetzt, dass wir eine Minderheit sind und sein werden; und sollten uns darüber weder wundern noch es beklagen."
Die heutige Konsumkultur verspreche, menschliche Wünsche zu erfüllen, "tut es aber nicht", betonte Hollerich. In Krisenmomenten erkennten Menschen dann, dass tief in ihnen eine Reihe von Fragen seien. Das Evangeliums habe eine "außergewöhnlich frische Antwort auf diese Suche nach Sinn und Glück". Die Botschaft sei noch immer aktuell; "aber die Boten erscheinen manchmal in Kostümen aus vergangenen Zeiten, was der Botschaft selbst nicht den besten Dienst erweist", so der Kardinal. Daher müsse sich Kirche anpassen; "natürlich nicht, um die Botschaft selbst zu verändern, sondern damit sie verstanden werden kann".
Als Generalberichterstatter der Weltsynode wisse er noch nicht, was er in seinem Bericht schreiben werde, sagte Hollerich. "Ich muss derjenige sein, der zuhört. Wenn ich viele Vorschläge mache, schreckt das Leute ab, die anderer Meinung sind. Es sind also die Leute, die meinen Kopf und die Seiten füllen müssen." Das sei Synode; "sie muss offen sein". Man könne heute nicht mehr "Befehle von oben nach unten geben". In allen Gesellschaftsbereichen, in Politik und Wirtschaft kommt es heute auf Vernetzung an. Diesem Zivilisationswandel müsse sich die Kirche "anpassen, wie sie es in ihrer ganzen Geschichte immer getan" habe.
Auch muss die Kirche nach Ansicht des Kardinals stärker den Dialog mit Andersdenkenden suchen. "Wenn wir nicht in einer abgeschotteten Gesellschaft leben wollen, müssen wir uns gegenseitig die Geschichten anhören können", sagte Hollerich. Man müsse versuchen, "andere zu verstehen, Brücken zur Gesellschaft zu bauen". Der Kardinal fragt weiter: "Was würde es uns nützen, uns zu äußern, wenn uns nicht zugehört wird? Sprechen wir zu uns selbst, um uns zu versichern, dass wir auf der sicheren Seite sind? Ist es, um unsere eigenen Gläubigen zu beruhigen? Oder sprechen wir, um gehört zu werden?"
Ein Christ müsse "absolut gegen Abtreibung" sein, aber...
Um angehört zu werden, brauche es Demut, so Hollerich; "zu zeigen, dass wir von anderen lernen wollen". Ein Beispiel: Ein Christ müsse "absolut gegen Abtreibung" sein. Aber man müsse zugleich verstehen, dass man auch um die Würde der Frau gehe. "Der Diskurs, den wir in der Vergangenheit gegen Abtreibungsgesetze geführt haben, ist heute nicht mehr vernehmbar", betonte der Kardinal. "Und wenn ein Diskurs nicht mehr trägt, sollte man nicht unnachgiebig sein, sondern nach anderen Wegen suchen." Es brauche also andere Maßnahmen, um das Leben zu verteidigen.
Hollerich hält es für notwendig, "Dialoge und Freundschaften mit Entscheidungsträgern oder politischen Führern zu pflegen, die anders denken". Auch wenn diese keine Christen seien, teile man mit vielen doch eine "ehrliche Sorge, zum Wohl der Gesellschaft zusammenzuarbeiten". In diesem Zusammenhang kritisierte der Jesuit allerdings auch Tendenzen, Religion wie einen Supermarkt zu verwenden und sich nur bestimmte, genehme Inhalte auszusuchen. Er kenne Politiker, "die sich überzeugte Christen nennen, gegen den Klimawandel kämpfen, aber im EU-Parlament für Abtreibung als ein Grundrecht stimmen und die Gewissensfreiheit von Ärzten einschränken", sagte Hollerich.
Man könne Christdemokrat, Sozialist oder Grüner sein, während man zugleich Christ sei. "Diese Vielfalt politischer Formationen kommt auch der Gesellschaft sehr zugute", so Hollerich. Doch Politiker neigten oft dazu, ihre Religiosität zu verbergen und sie nur im privaten Bereich zu leben. "In diesem Fall ist es keine Religion mehr, sondern eine persönliche Überzeugung. Religion braucht einen öffentlichen Raum, um sich auszudrücken", so der Kardinal. (tmg/KNA)