Thomas von Aquin: Inspirierende Theologie statt unfehlbarer Wahrheit
Thomas von Aquin ist der repräsentative Theologe aus dem Hochmittelalter und eigentlich nie aus der Mode gekommen. Bald nach seinem Tod (1274) wurde sein theologisches Denken zur verbindlichen Doktrin in seinem Orden, dem Orden der Predigerbrüder (Dominikaner). An ihr haben sich die theologischen Schulen der Dominikaner prinzipiell orientiert, wenngleich es auch Strömungen gab, bei denen der Aquinate nur mittelbar eine Rolle spielte. So haben die deutschen Predigerbrüder Dietrich von Freiberg (+ 1318) sowie seine Schüler Meister Eckhart (+ 1328) und Berthold von Moosburg (+ 1361) andere Akzente gesetzt, ohne sich aber jemals ganz von Thomas verabschiedet zu haben.
Wellenbewegungen der Rezeption
Der wesentliche, aber nicht der einzige Unterschied dieser Bezugnahmen auf Thomas liegt in der Rezeption des Aristoteles – für Thomas von Aquin ein maßgeblicher Philosoph, andere hingegen tendierten zu Platon und zum Neuplatonismus. Nicht nur bei den Dominikanern, sondern in der Theologie überhaupt, wurde Thomas zum Hauptprotagonisten, an den sich jegliches theologisches Denken anlehnte. Hier ist so etwas wie eine Wellenbewegung hinsichtlich eines Thomas-Trends zu beobachten. Zu Beginn spielte er eine wichtige Rolle, dann stand er wieder in akademischer Konkurrenz zu anderen Schulen, wie etwa der Schule der Franziskaner mit Bonaventura, Alexander von Hales oder Wilhelm von Ockham. Später wurde Thomas zunächst nur noch indirekt und über Sekundärliteratur rezipiert. Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert begann die (Dominikanerschule von Salamanca mit dem Wiederaufgreifen des thomasischen Denkens. Dazu zählen Francisco de Vitorias Völkerrechtskonzept und seine Interpretation von Gerechtigkeit, die von Thomas geprägt sind. Tomás de Vio Cajetan hinterließ einen ausführlichen Kommentar zum Hauptwerk des Aquinaten, der "Summa Theologiae". Selbst Bartolomé de Las Casas hat sich in seinem Werk zur Verteidigung der entrechteten amerikanischen Ureinwohner auf Thomas und dessen Klugheitskonzept bezogen. Interessant ist auch, dass in dieser Zeit der damals noch junge Jesuitenorden in seiner Satzung Thomas von Aquin als vorrangigen Lehrer im Theologiestudium bezeichnet und die "Summa Theologiae" in der Ausbildung zum allgemeinen Lehrbuch wurde.
Ebenfalls im 16. Jahrhundert fanden sich jedoch auch leidenschaftliche Thomas-Gegner im theologischen Milieu: So polemisierte Martin Luther heftig gegen den Aquinaten. Der evangelische Kirchenhistoriker Volker Leppin hat unlängst die Verbindungslinien zwischen Luther und Thomas aufgezeigt. Luther kannte das Werk des Aquinaten scheinbar besser als bislang angenommen, aber das theologische Konzept einer Rechtfertigung allein aus dem Glauben, wie sie Luther verfocht, passte nicht zu Thomas, bei dem ein Glaube ohne Liebe – hier verstanden als das handlungsleitende Moment des Menschen – zwar möglich, aber keine Tugend mehr ist. Auch lässt sich Luthers pessimistisch anmutende Sündentheologie nicht mit der harmonisierenden Konzeption des Thomas vereinbaren, bei dem Sünde eher verbleibender Rest in der Veranlagung des Menschen ist. Es ist durchaus nachzuvollziehen, wenn Leppin in der Bezugsetzung der beiden von "Differenzhermeneutik" spricht, denn bei allem Respekt gegenüber der thomasischen Theologie sah Luther im Dominikaner schlussendlich den Repräsentanten einer klassischen römischen Theologie, mit der er reformatorisch haderte. Dieses Feindbild verfestigte sich in der evangelischen Theologie weiter bis hin zu Karl Barth, der neuerlich versuchte, die Offenbarung über die Vernunft zu stellen. Das allerdings war mit Thomas nicht zu machen. Seine Theologie gibt der menschlichen Vernunft einen hohen Rang, was er in seinen ethischen Studien deutlich macht: Glauben ohne Vernunft kann es nicht geben.
Das Verständnis von "ratio" bei Thomas ist von der autonomen Vernunft eines Immanuel Kant nicht weit entfernt, was erklärt, warum der mittelalterliche Theologe in der Zeit der Aufklärung wieder plausibel wurde. Im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebte das Werk des Aquinaten eine neue Blüte. Man nennt diese Phase "Neuscholastik" oder "Neuthomismus". Dabei wurde versucht, mit Thomas in Absetzung zu allen möglichen Zeitströmungen "wahrhaft" katholische Theologie zu treiben. Ein Beispiel dafür ist die vom "Sozial"-Papst Leo XIII. im Jahr 1880 eingerichtete und bis heute existierende "Commissio Leonina", die das Werk des Aquinaten kritisch ediert. Außerdem wollte man unter Einbeziehung des sogenannten Naturrechts, theologisch mit der Philosophie im Gespräch zu bleiben, indem man Vernunft und Offenbarung in ein für alle beteiligten Disziplinen akzeptables Wechselverhältnis zu bringen versuchte. In einigen Interpretationen kam es infolgedessen weniger zu einer Verhältnisbestimmung von Natur und Offenbarung, sondern zu einer Beurteilung der Natur durch die Offenbarung, was zum schlechten Ruf des Naturrechts und des Neuthomismus wesentlich beitrug.
"Deutsche Thomas-Ausgabe" bis heute unvollendet
Die deutschen Dominikaner haben an der Thomas-Renaissance teilgehabt und die Gelegenheit genutzt, um eines der wichtigsten Werke ins Deutsche zu übersetzen, zu kommentieren und als Reihe herauszugeben. Diese Aufgabe wurde den Dominikanern aus Walberberg übertragen und der erste Band der "Summa Theologiae" erschien Anfang der 1930er Jahre. In den Bänden der Deutschen Thomas-Ausgabe (teilweise unter Mitarbeit von Benediktinern) findet sich neben der lateinischen und deutschen Version des Textes ein ausführlicher Kommentarteil, um sowohl Expertinnen und Experten als auch der interessierten Leserschaft die Möglichkeit zu geben, dem Gedankengang des Aquinaten zu folgen.
Was damals noch niemand vermutete: die Edition der lateinisch-deutschen Bände der Reihe "Deutsche Thomas-Ausgabe" ist bis heute noch nicht ganz abgeschlossen. Im vergangenen Jahr erschien der neueste Band. Band 9 hat den Traktat "Ziel und Handeln des Menschen" zum Thema und beschäftigt sich mit den grundlegenden Fragen der Ethik, die Thomas von Aquin an dieser Stelle erörtert, um sich danach auf dieser Grundlage weiteren theologischen Themen zu widmen. Der Band wird die philosophische und theologische Debatte zweifellos bereichern, zeigt er doch auf, wie sehr Thomas von Aquin an einer Ethik gelegen war, die einerseits Theologie begründet und andererseits theologisch begründet wird. Die Rezeption eben dieses Traktats der Summa durch den Freiburger Philosophiehistoriker Klaus Jacobi ist insofern bedeutsam, da sie methodisch anders ansetzt als in der Theologie üblich, die sich mit Thomas beschäftigt. Mehr noch in der angelsächsischen Debatte als in der deutschsprachigen wird versucht, von Thomas von Aquin her systematische Theologie zu prägen. Manche lassen sich von Thomas' Texten leiten und stellen Themen dar, die sie aus seinen Schriften entnehmen. Andere diskutieren vor allem heutige theologische Fragen und argumentieren dabei hauptsächlich mit Thomas. Beides geschieht meistens mit gewissem historischem Bewusstsein, aber ohne wirkliche Auseinandersetzung mit historischer Thomasforschung. So werden die Texte oftmals unmittelbar gedeutet, was nicht dramatisch ist, solange Thomas nicht zum unüberbietbaren Lehrer stilisiert wird oder zum Maßstab für die Richtigkeit eines bestimmten Ansatzes.
Debatte um das Gemeinwohl
Die Bedeutung der Thomas-Rezeption lässt sich beispielhaft an der Interpretation des Gemeinwohls im Bereich der Sozialethik darstellen, das dem Wohl des Einzelnen gegenübergestellt wird. Wie das Verhältnis dieser Topoi zueinander einzuschätzen und an welcher Stelle der Schwerpunkt zu setzen ist, schlägt sich in gegensätzlichen Interpretationen nieder. Für den Dominikaner Eberhard Welty (+ 1965) ist Gemeinwohl Ziel und Ordnung der Gemeinschaft. Nicht zuletzt im Zuge der Debatten zwischen dem dominikanischen und jesuitischen Ansatz wird die Dominanz des Gemeinwohls vor dem Einzelwohl seitens Weltys und weiterer Dominikaner wie Arthur Fridolin Utz (+ 2001) vertreten, indem sie theologisch bewusst einem metaphysisch begründeten Ansatz verhaftet bleiben, und sich dabei auf Thomas von Aquin und dessen Aristoteles-Rezeption in ethisch-politischen Fragen als Autoritätsargument berufen. Auf den Dominikanertheologen beruft sich aber auch der Philosoph Jacques Maritain (+ 1973) und kommt zu einem etwas anderen Ergebnis: Der Mensch ist qua Individuum der Gemeinschaft untergeordnet, qua Person aber nur Gott. Der Jesuit Oswald von Nell-Breuning (+ 1991) zeigte sich am Ansatz des Aquinaten deutlich desinteressiert und skizziert vielmehr die Bedeutung des Individuums, das nicht gegen ein irgendwie geartetes Gemeinwohl ausgespielt werden kann. Es erscheint, mit Abstand betrachtet, heute naheliegend, sowohl der Gemeinschaft als auch dem Einzelnen jeweils einen Platz einzuräumen und das Verhältnis zueinander nicht im Sinne einer Über- oder Unterordnung, sondern eher qualitativ korrelativ zu betrachten und ein Zusammenspiel der Wohle anzunehmen.
Die Begeisterung der Theologen für Thomas von Aquin steht meist vor dem Problem, undifferenziert mit seiner Lehre zu argumentieren und sie gleichzeitig zu verabsolutieren. Der zu manchen Zeiten hohe Grad an Verbindlichkeit seiner Lehre ist nicht frei von Ideologieverdacht. Der Aquinate wäre höchst erstaunt und irritiert gewesen, hätte er mitbekommen, dass sein theologisches Konzept nicht nur Teil einer akademischen Debattenkultur war, sondern auch über die Korrektheit anderer theologischer Positionen bestimmte. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, seine Suche nach Wahrheit zur apologetisch formulierten Wahrheit von Theologie zu machen, über die hinaus nicht mehr gedacht werden darf. Man sollte Leo XIII. nicht missverstehen, als er Thomas für einen geeigneten Indikator ansah, ob Wahres oder Irrtümer gelehrt würde. Für den Papst war der Thomismus nicht restaurativ, sondern hochmodern. Einer seiner Nachfolger, Johannes Paul II., betonte in seiner Enzyklika "Fides et ratio", dass es Leos Anliegen gewesen war, mit der Neurezeption des Werkes von Thomas eine fruchtbare Form zu finden, mit der Philosophie wieder so umzugehen, dass sie mit den Ansprüchen des Glaubens übereinstimmt. Wenn betont wird, dass Thomas kein Thomist war, dann wird mit gutem Recht darauf verwiesen, dass Thomas ein großes Werk hinterlassen hat, das aber adäquat zu rezipieren ist: Weder ist es ein Katechismus der Wahrheit noch ein unfehlbares theologisches Gebäude, das bis heute in allen Details unübertroffen geblieben ist. Vielmehr ist es ein methodisch faszinierendes Werk, das in vielerlei Hinsicht mitreißend und inspirierend ist und sowohl philosophisch als auch theologisch immer noch und immer wieder Wege aufzeigt, um im Licht der thomasischen und eben nicht thomistischen Hermeneutik Themen der Zeit systematisch oder ethisch angemessen zu reflektieren.