Ukrainerin im Krieg: "Die Menschen beten hier wie nie zuvor"
Raketen, zerstörte Städte und Luftschutzbunker: Die Menschen in der Ukraine leben im Krieg. Viele fliehen, doch die meisten befinden sich aktuell noch im Land – und wollen nicht tatenlos zusehen, wie ihre Heimat zerstört wird. Olena Noha arbeitet bei der Caritas in Kiew. Obwohl sie Angst hat, ist sie fest entschlossen, dort zu bleiben und zu helfen. Im Interview erzählt sie, wie ihre Arbeit aussieht – und wie sie im Glauben Kraft findet.
Frage: Frau Noha, wo erreiche ich Sie jetzt am Telefon. Sind Sie in Kiew?
Noha: Nein, ich musste Kiew verlassen und bin weg aus der Stadt. Zurzeit bin ich 100 Kilometer außerhalb und wohne bei meinen Schwiegereltern. Hier ist es ruhig, endlich ruhig. Ich fühle mich hier sicher. Die schlimmste Gefahr ist momentan in der Ostukraine. Ich bekomme regelmäßig von unserem Caritasdirektor von dort Nachrichten und Fotos. Diese Bilder erschüttern mich. Charkiw, diese wunderschöne Stadt, ist jetzt völlig zerstört und zerbombt. Sogar im Bischofshaus ist eine Rakete eingeschlagen. Es ist furchtbar. Alle waren in der Kirche, um zu beten. Jetzt sind sie in den Luftschutzbunkern.
Frage: Wo waren Sie, als der Krieg begonnen hat?
Noha: Am Tag vor dem Kriegsausbruch war ich noch bei einem Treffen der Caritasdirektoren in Odessa mit Bischof Stanislaw Schyrokoradjuk. Wir wurden dort auch beauftragt, einen Evakuierungsplan zu erarbeiten. Nur für den Fall. Wir waren uns sicher, dass kein Krieg ausbrechen würde. Abends gab es ein Abendessen, danach waren wir noch bei einem gemeinsamen Gebet. Wir saßen bis spät in die Nacht beisammen sprachen darüber, was wir machen, falls ein Krieg beginnen sollte. Um 5 Uhr morgens hörten wir dann Raketen einschlagen und laute Explosionen.
Frage: Wie erging es Ihnen dann?
Noha: Wir haben unser Treffen sofort abgebrochen. Ich hatte Angst um meine Familie und wollte schnell nach Hause fahren. Ich habe sofort meinen Mann angerufen. Ich kann mich noch genau an den Wortlaut erinnern. Ich sagte: "Es scheint ein Krieg zu sein." Mein Mann antwortete: "Ja, leider es ist so. Der Krieg beginnt." Das war wie ein innerer Knick für mich. Mein Kopf sagte zwar noch immer, nein, das kann nicht sein, in dieser Zeit kann es doch keinen Krieg geben. In unserer heutigen zivilisierten Welt ist das nicht möglich. Aber leider, das Schlimmste ist eingetroffen. Ich glaubte wirklich nicht daran, dass das passieren könnte!
Frage: Haben Sie geweint?
Noha: Ich wollte, aber ich konnte nicht. Erst gestern, als ich meine Tochter mit einer Bekannten nach Polen evakuieren konnte, habe ich geweint vor Erleichterung. Sie haben neun Stunden gebraucht, um an die Grenze zu kommen. Normalerweise dauert so eine Reise mit dem Auto von Kiew über die Westukraine an die polnische Grenze nur vier Stunden. Aber überall sind Kontrollen. Sie waren die ganze Nacht mit dem Auto unterwegs und das letzte Stück sind sie dann zu Fuß gelaufen. Polen ist offen für die Menschen, die fliehen. Sie wurden dort von freiwilligen Helfern erwartet, die sie mit dem Nötigsten versorgt haben und in Bussen und Autos kostenlos weitertransportiert haben. Meine Tochter hat mir das alles am Telefon erzählt. Wir sind in Kontakt, es geht ihr gut. Jetzt bin ich etwas beruhigt. Ich habe meine Tochter rausbekommen!
Frage: Was machen Ihr Sohn und Ihr Mann jetzt?
Noha: Mein Sohn ist wie mein Mann auch hier. Männer zwischen 18 und 60 dürfen das Land ja gar nicht verlassen. Jetzt helfen sie da, wo sie können. Mein Mann arbeitet als Freiwilliger, er ist nicht beim Militär. Er unterstützt die Hilfeleistungen vor Ort und mein Sohn hilft dem Militär. Er kennt sich gut mit Drohnen aus. Er sammelt Geld, besorgt die Fluggeräte und zeigt den Soldaten dann, wie man sie benutzt.
Frage: Wie helfen Sie als Caritasmitarbeiterin vor Ort?
Noha: Ich arbeite den ganzen Tag, ohne Pause. Und es kommen jeden Tag neue Aufgaben dazu. Wir müssen Bunker in den Städten organisieren und mit dem Nötigsten auszustatten. Das sind wichtige Schutzorte für die Menschen in der Stadt. Momentan bin ich auch dabei, unsere Kinderheime zu evakuieren. Wir müssen die Kinder da rausholen! Es gibt so viel zu tun. Auch die Pfarreien brauchen dringend unsere Hilfe. Ich helfe, wo ich kann. Ich stelle Kontakte zu Hilfsorganisationen im Ausland her, schreibe Anträge an Partnerorganisationen, sammle Geld bei Freunden im Ausland, um den Menschen hier zu helfen, unseren Leuten.
Frage: Was machen Sie heute noch?
Noha: Da wir von verschiedenen Orten aus arbeiten, machen wir viel online. Aber damit wir vor Ort besser organisieren können, hole ich jetzt gleich eine Kollegin mit ihrer Tochter vom anderen Ende der Stadt mit meinem Auto ab und bringe sie zu mir. Von hier aus arbeiten wir dann weiter. Das Internet oder die Telefonverbindung sind immer wieder weg, aber wir machen weiter.
Frage: Haben Sie keine Angst?
Noha: Ich habe Angst, ja. Dieser Krieg ist schrecklich.
Frage: Warum verlassen Sie die Ukraine nicht und flüchten?
Noha: Ich kann nicht. Mein Sohn ist da, mein Mann, meine Eltern leben hier. Ich kann das nicht machen. Wir müssen hierbleiben und helfen. Hier werden Kinder in den Bunkern geboren, hier kämpfen Kinder. Wir müssen für sie da sein. Wir haben wenig Zeit, wir müssen die Leute retten.
Frage: Haben Sie noch Kontakt zu dem Bischof in Odessa?
Noha: Heute schon habe ich mit ihm telefoniert. Wir sind in gutem Kontakt, er ist auch der Leiter der Caritasarbeit. Er hat die beiden vergangenen Nächte im Luftschutzbunker verbracht. Die Menschen dort haben große Angst, sagt er. Sie beten vor Ort um ein Gewitter, ein richtiges Donnerwetter, damit keine Schiffe fahren können, die russische Soldaten bringen könnten. Je unruhiger das Meer dort ist, desto ruhiger werden die Menschen dort.
Frage: Was gibt Ihnen in dieser schweren Zeit Kraft?
Noha: Ich bin orthodox. Ich gehe in die Kirche, um zu beten. Ich spüre, wie mir das hilft. Ich sehe überall Menschen, die beten. Die Menschen beten hier so viel, wie nie zuvor. Aber nicht nur die Menschen in der Ukraine, auch die Menschen überall auf der Welt beten für uns, wir spüren das.
Frage: Meinen Sie, das hilft?
Noha: Ich bin mir sicher, nur das hilft! Ich glaube daran, dass nur Gott und die Gottesmutter uns schützen können. Nur Gott kann uns Sicherheit und Mut geben, damit wir nicht verzweifeln. Unser Bischof aus Odessa sagte mir am Telefon: "Gott hat für uns Pläne, irgendwelche Pläne. Wir müssen erst schauen, welche." Ich will nicht darüber nachdenken, was morgen sonst noch alles passieren könnte.
Frage: Was hoffen Sie?
Noha: Jeden Morgen, wenn ich aufwache, hoffe ich, dass ich eine Nachricht bekomme, der Frieden ist da. Ich gehe jeden Abend sehr spät ins Bett. Ich kann auch nicht mehr richtig schlafen seitdem wir Krieg haben. Ich arbeite, bis ich auf dem Tisch einschlafe. Und immer schlafe ich mit dem Gedanken ein, morgen ist alles vorbei, morgen kommt eine schöne Nachricht, es ist wieder alles normal, wir haben Frieden. Jetzt weiß ich nichts mehr, nur noch, dass ich den vielen Leuten, unseren Leuten hier helfen will. Ich mache hier meine Arbeit und sonst nichts. Das rettet mich.
Weitere Informationen
Die Caritas-Spes Ukraine hilft den Menschen vor Ort im Kriegsgebiet und organisiert sogenannte "Schutzorte", wo Menschen Unterschlupf finden, sich mit dem Nötigsten versorgen können und auch gemeinsam beten. In den sozialen Netzwerken verbreitet die Caritas die notwendigen Adressen ihrer verschiedenen Hilfsangebote.