Theologen: "Antiwestlicher Affekt" eint Putin und Kyrill I.

Soziologe Pollack attestiert russisch-orthodoxer Kirche "fatale Rolle"

Veröffentlicht am 14.03.2022 um 14:10 Uhr – Lesedauer: 

Frankfurt/Zürich/Wien ‐ Die russisch-orthodoxe Kirche stelle sich im Ukraine-Krieg "nicht an die Seite der Schwachen und Verfolgten, sondern hofiert den Gewaltherrscher und bietet ihm ideologisches Rüstzeug", kritisiert Religionssoziologe Detlef Pollack.

  • Teilen:

Die russisch-orthodoxe Kirche bietet im Krieg Russlands gegen die Ukraine nach Worten des Religionssoziologen Detlef Pollack "ein besonders trauriges Spektakel". Sie stelle sich "nicht an die Seite der Schwachen und Verfolgten, sondern hofiert den Gewaltherrscher und bietet ihm ideologisches Rüstzeug", schreibt Pollack in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Montag). So spiele sie eine "fatale Rolle".

Ihr "kompromittierendes Bündnis mit den Machthabern" habe die russisch-orthodoxe Kirche nie aufgegeben, erklärt der Wissenschaftler. Auch habe sie kaum Aufarbeitung oder Diskussion zugelassen. In der Bevölkerung sei ihr "Angebot einer religiös-ethnischen Identität" unterdessen begierig aufgegriffen worden. So sei die Zahl derjenigen, die sich mit der Orthodoxie identifizieren, von 1990 bis 2020 von einem Drittel auf zwei Drittel der Bevölkerung gestiegen.

In dieser Zeit sei die orthodoxe Kirche zu einer "Trägerin nationaler Identität" aufgestiegen, so Pollack. "Seit Jahrzehnten meint in Russland eine satte Mehrheit, ein wahrer Russe müsse orthodox sein. Dieses religiös aufgeladene Nationalbewusstsein ist alles andere als harmlos." In Studien hätten sich 90 Prozent der Russen dafür ausgesprochen, dass Russland eine Supermacht sein solle. Zugleich sehe man sich durch fremde Kulturen bedroht.

Kirche halte Erinnerung an "Größe" Russlands wach

Das nationale Selbstbewusstsein ziehe seine Kraft "vor allem aus den großen Erfolgen in der Vergangenheit, aus dem Sieg im Zweiten Weltkrieg, aus der literarischen Tradition Russlands, aus den Leistungen bei der Erkundung des Weltalls sowie aus der vermeintlichen Geduld und Unerschütterlichkeit des russischen Volkes." Die orthodoxe Kirche stehe für diese "einstige Größe Russlands", schreibt der Wissenschaftler. "Ihr kommt wesentlich die Funktion zu, die Erinnerung an diese Größe wachzuhalten."

Finanziell und gesellschaftlich werde die orthodoxe Kirche gegenüber anderen Religionsgemeinschaften bevorzugt, fügt der Experte hinzu. Der Moskauer Patriarch Kyrill I. überhöhe den russischen Angriffskrieg nun ins Metaphysische; er sehe "himmlische und höllische Mächte miteinander im Kampf". Mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verbinde Kyrill der Wille, "Russland zu alter Größe zurückzuführen".

Bild: ©Privat (Archivbild)

Jan-Heiner Tück ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Wien.

Der Patriarch fiel in den vergangenen Tagen mit Aussagen auf, der Westen sei schuld am Krieg. Die russischen Angriffe legitimierte er indirekt damit, Gläubige sollten vor "Gay-Pride-Paraden" Homosexueller geschützt werden. Dies sei "keineswegs nur eine taktische Finte, um konservative Gläubige zu gewinnen", betont Pollack: "Homophobie, Xenophobie und Homogenitätsvorstellungen sind essenziell für die orthodox-autokratische Weltsicht."

Hoffnung setze er in Frauengruppen und die junge Generation, die sich offen für Demokratie und liberale Werte zeigten oder die Verzahnung von Staat und Religion hinterfragten, schreibt der Religionssoziologe. Ob sie etwas erreichen könnten, hänge indes auch vom weiteren Kriegsverlauf ab.

Unterdessen sehen die Wiener Theologen Christian Stoll und Jan-Heiner Tück Putin und Kyrill "im antiwestlichen Affekt vereint". Beide teilten eine Ablehnung des Westens und ein historisches Narrativ zur Bedeutung der Kiewer Rus, schreiben Stoll und Tück in einer Analyse für die "Neue Zürcher Zeitung" (Montag). Putin habe ein "symbiotisches Verhältnis von Staat und Kirche" etabliert. Die Allianz fuße zudem auf einer bestimmten Konstruktion der russischen Geschichte, so die Experten vom Institut für systematische Theologie an der Universität Wien.

Putin als "treuer Sohn der Kirche"

Putin habe Russland wiederholt als Bollwerk gegen westliche Dekadenz ins Spiel gebracht und sich in den vergangenen Jahren immer wieder als "treuer Sohn der Kirche inszeniert". Enorme staatliche Finanzmittel seien in die Errichtung von Kirchen und Klöstern geflossen und hätten zu einer nach dem Ende der Sowjetunion kaum für möglich gehaltenen Renaissance der russisch-orthodoxen Kirche beigetragen.

Für die orthodoxe Kirche machen die Theologen die Störaktion der Punkband "Pussy Riot" in der Moskauer Erlöser-Kathedrale 2012 als ein "Schlüsselerlebnis" aus. Die Kirche habe daraufhin eine Kampagne gegen vermeintlich religionsfeindliche Kunst geführt; staatliche Gerichte verurteilten die Aktivistinnen zu mehrjähriger Haft. "So überrascht es nicht, dass der Moskauer Patriarch jüngst in einer Predigt sagte, der von Putin entfesselte Krieg solle das christliche Russland vor den Gay-Paraden des Westens schützen", erklären Stoll und Tück.

Die "Allianz" zwischen Staatschef und Kirchenoberhaupt fuße im kirchenhistorischen Narrativ, wonach das russische Christentum 988 durch die Taufe des Großfürsten Wladimir aus der Kiewer Rus hervorgegangen ist und Weißrussland/Belarus, die Ukraine und Russland letztlich als Brudervölker zu einem kanonischen Territorium gehören. Dies decke sich weithin mit den neoimperialen Interessen Putins, so die beiden Forscher: "Orthodoxes Christentum und politische Ideologie verbinden sich hier zu einer sakralen Geschichte, in der es heilige Helden, mythisch vereinte Völkerschaften und ureigene Rechte auf historische Landstriche gibt." (tmg/KNA)