Czerny berichtet von Ukraine-Reisen: So wird den Flüchtlingen geholfen
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Bei seiner Rückreise aus dem Grenzgebiet zwischen Ukraine und Slowakei findet Kardinal Michael Czerny am Sonntagmorgen auf dem Flughafen in Paris Zeit für ein Interview. Die Erlebnisse der beiden Besuche bei den ukrainischen Geflüchteten sind noch sehr frisch im Gedächtnis des vatikanischen Migrationsbeauftragten. Der Interims-Präfekt des Dikasteriums für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen berichtet im Gespräch, was ihn in der Ukraine besonders betroffen gemacht hat.
Frage: Sie sind auf Wunsch des Papstes jetzt zwei Mal in die Ukraine gereist. Einmal über Ungarn und einmal über die Slowakei. Dabei haben Sie sich als Flüchtlingsbeauftragter des Vatikans vor allem mit den flüchtenden Menschen getroffen. Auf Twitter schreiben Sie: "Ich habe erwartet Menschen in Not zu treffen, aber nicht den Krieg selbst zu sehen. In diesen Menschen habe ich das." Können Sie das erläutern?
Czerny: Ich habe meine Erlebnisse verglichen mit dem, was die Menschen über das Fernsehen oder über die sozialen Medien vom Krieg mitbekommen. Der Krieg in seiner furchtbarsten, aber auch eindrücklichsten Form: Gewalt, Zerstörung, Feuer, Explosionen. Davon habe ich nichts erlebt. Ich habe nicht den direkten Krieg gesehen. Dafür habe ich den Krieg gesehen, den die Menschen auf ihrer Flucht mitgebracht haben.
Frage: Was haben diese Menschen erzählt? Was waren ihre Geschichten?
Czerny: Sie haben mehr damit gesagt, dass sie eigentlich überhaupt nicht reden konnten. Sie haben kaum über ihre Erlebnisse gesprochen. Man hat es ihnen angesehen, dass sie auf ihrer Flucht alles verloren haben. Sehr getroffen hat mich, dass diese Menschen zwar ihr Leben retten konnten, aber im Prinzip alles verloren haben, was ihr Leben ausgemacht hat. Sie haben alles und jeden verloren, den sie vor ein paar Tagen noch zu ihrem Leben zählten. Alles was zu ihrer normalen Existenz gehört, wurde ihnen genommen.
Frage: In welcher Situation haben Sie diese Menschen angetroffen? Aus den Grenzgebieten sieht man Bilder von überfüllten Zügen und Notunterkünften. Im Osten der Slowakei haben Sie zum Beispiel auch ein Priesterseminar besucht, das Menschen aufgenommen hat.
Czerny: Persönlich habe ich nichts von dem erlebt, was man in den Medien sieht. Kein Chaos oder überfüllte Lager. Die Menschen wurden überall herzlich aufgenommen. An den meisten Orten war die Aufnahme sehr gut organisiert, aber trotzdem menschennah. Menschlich und kompetent. Sehr gut hat mir gefallen, dass fast überall wo ich hingekommen bin, die empfangenden Freiwilligen und Organisationen es so eingerichtet haben, dass die fliehenden Menschen alles Nötige an einem Ort hatten, also nicht noch nach der Ankunft hin und her fahren mussten. Alle Anliegen konnten meistens an einem Ort geklärt werden.
Frage: Wie liefen ihre Reisen in die Ukraine denn organisatorisch ab? Die meisten Menschen versuchen ja von dort wegzukommen. Nimmt man da das Auto? Den Zug? Das Flugzeug?
Czerny: Unsere Gastgeber hatten uns immer einen kleinen Bus organisiert. Für uns war es nicht kompliziert ins Land rein und wieder rauszukommen. Das Bild, dass mich aber nicht loslässt, sind die langen Schlangen von Menschen auf den Straßen, die zu Fuß versucht haben, das Land zu verlassen. Das war für viele die letzte Hürde, das letzte Leid, bevor sie es über die Grenze nach Ungarn oder in die Slowakei geschafft haben.
Frage: Als Kind sind Sie selbst aus der Tschechoslowakei geflohen. Verspürt man da eine Verbindung? Können Sie sich in diese Menschen hineinversetzen?
Czerny: Diese Verbindung ist im Hintergrund da, ja. Darüber denke ich andauernd nach. Ich weiß aus eigener Erinnerung, was es bedeutet zu fliehen. Ich verstehe, was es bedeutet, aus seiner Heimat entwurzelt zu werden und sich ein neues Leben aufzubauen, ohne Sicherheit und Stabilität in einem Land anzukommen. So ging es uns damals auf der Flucht, und den Menschen hier und heute geht es ganz genauso.
Frage: Sie sind als Repräsentant des Papstes in die Ukraine gereist. Was macht dieser Krieg mit dem Glauben der Menschen?
Czerny: Viele Menschen, die ich getroffen habe, waren sehr berührt, dass ein Kardinal extra aus Rom zu ihnen gekommen ist. Mich hat überrascht, dass ich kaum erklären musste, wer ich bin und warum ich zu ihnen gekommen bin. Sie wussten intuitiv, dass meine Anwesenheit die Gebete und die Solidarität des Heiligen Vaters repräsentiert.
Ich habe auch von anderen gehört, dass die Anwesenheit von Priestern und Ordensschwestern den Menschen einen großen Halt gibt. In dieser Situation des Ungewissen zeigt ihnen das etwas Bekanntes. Das beruhigt viele und zeigt ihnen, dass sie in guten Händen sind. Wenn Flüchtlinge Menschen in religiösen Gewändern sehen, sagt ihnen das: Alles kommt in Ordnung.
Frage: Obwohl die meisten Flüchtlinge ja sicher orthodoxe Christen sind und keine Katholiken.
Czerny: Das spielt überhaupt keine Rolle. Ich habe niemanden getroffen, bei dem das so gewesen wäre. Solche Fragen gehen den Leuten überhaupt nicht durch den Kopf gerade.
Frage: Christ ist Christ.
Czerny: Genau. Und das gleiche gilt auch darüber hinaus. Die jüdischen Flüchtlinge, die ich getroffen habe, waren genau so froh mich zu sehen.
Frage: Denken Sie religiöse Menschen spielen eine größere Rolle in einer Fluchtsituation wie dieser?
Czerny: Das tun sie. Allein schon Priester oder Ordensleute zu sehen, beruhigt viele Menschen. Das geht aber auch darüber hinaus. Menschen, die beten und an Gott glauben, wissen, dass man nicht alles mit Worten ausdrücken kann oder muss. Es gibt ein tieferes Zuhören, bei dem es nicht nur um Worte geht. Das ist gerade besonders wichtig, weil die Menschen auf der Flucht eben ihre Erlebnisse oft nicht in Worte fassen können.
„Sehr getroffen hat mich, dass diese Menschen zwar ihr Leben retten konnten, aber im Prinzip alles verloren haben, was ihr Leben ausgemacht hat.“
Frage: Ein Thema, dass auch mehr und mehr in den Fokus rückt, ist die Frage des Menschenhandels. Verzweifelte junge Frauen werden an der Grenze in Autos gepackt und in andere Länder verschleppt, zur Prostitution zum Beispiel. Was haben Sie davon mitbekommen?
Czerny: Das wichtige ist, dass wir die Augen aufmachen und uns diesem Thema bewusst stellen. Wenn das Bewusstsein da ist, können wir auch etwas unternehmen. Wenn zum Beispiel die Flüchtlingshelfer an den Grenzen nicht wissen, worauf sie achten müssen, passiert das direkt unter ihrer Nase. Besonders in der Slowakei waren die Menschen gut darauf vorbereitet, nachdem was ich gesehen habe. Wenn dort Frauen und Kinder in Busse einsteigen wollten, hat man den Fahrer erst nach seinen Ausweispapieren gefragt. In mehreren Fällen sind die Fahrer dann einfach abgehauen. Solche Schritte sind essenziell wichtig, um Menschenhandel zu verhindern. Wer in solche Busse einsteigt, würde noch ein weiteres Mal ein Leben verlieren. All das ist den Menschen an den Grenzen bewusst, den normalen Leuten, den Freiwilligen und den Polizisten. Das spielt eine sehr große Rolle.
Frage: Sie wurden vom Papst entsandt, um sich die humanitäre Lage anzusehen und dort zu unterstützen. Es gibt aber auch viel Kritik, dass sich der Vatikan nicht deutlicher politisch einmischt. Warum spielt denn diese humanitäre Dimension in der Arbeit des Vatikans so eine große Rolle?
Czerny: Weil das für die Menschen auf der Flucht sehr wichtig ist. Genauso für die Menschen, die in der Ukraine geblieben sind und unter furchtbaren Situationen leiden. Für die spielt es eine große Rolle zu wissen, dass der Heilige Vater ihnen nahe ist, er für sie betet und seine Solidarität zeigt. Er hat es selbst beim Angelusgebet gesagt: Die Kirche ist bereit alles zu tun, das den Menschen hilft, diesen Konflikt zu beenden. Dass ich in die Ukraine geflogen bin, ist eines der Beispiele dafür.
Frage: Sie haben viel Verzweiflung gesehen, direkt von Mensch zu Mensch. Was macht Ihnen da Hoffnung?
Czerny: Hoffnung können wir nicht selbst schaffen, sie wird uns geschenkt. Jeder Schritt, den wir tun, jede Geste, die wir zeigen, ist unser klitzekleiner Beitrag dazu. Hoffnung brauchen wir alle, und wir werden ihr alle entgegenstreben, auf der Suche nach Frieden und Sicherheit. Mir bringen Hoffnung kleine Gesten und große: die humanitäre Hilfe an den Grenzen, die Menschen, die im Kriegsgebiet bleiben, um zu helfen. Aber auch die Diplomatie. Gespräche wie das des Heiligen Vaters mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill. All diese kleinen Schritte führen hoffentlich zu einer friedlichen Lösung des Konflikts. Wirklich wissen werden wir das erst hinterher, aber wir hoffen, dass sie etwas beitragen zum Frieden, und das so bald wie möglich.