"Je rigider die Sexualmoral, umso nackter werden die Heiligen"

Wie Maria Magdalena Pin-up wurde und Sebastian sich entblößte

Veröffentlicht am 02.04.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Nackte Heilige, Erektionen und ein göttlicher Hintern – Markus Hofer hat eine Kulturgeschichte von Nacktheit und Heiligkeit geschrieben. Welche Rolle die Theologie darin spielt und was die Kirche für die Zukunft aus seiner Forschung lernen kann, erzählt er im katholisch.de-Interview.

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Jüngst sorgte ein nackter Mann im Bistum Insbruck für Aufregung – doch Heiliges und Nacktes beschäftigen Kirche und Christentum schon viel länger. Der österreichische Theologe und Kunsthistoriker Markus Hofer hat die Kulturgeschichte des Heiligen und Nackten erforscht, dabei Pikantes entdeckt und in einem Buch aufgeschrieben. Wie Maria von Magdala ihre Hüllen fallen ließ und was die Kirche daraus lernen kann, erzählt er im katholisch.de-Interview.

Frage: Herr Hofer, Sie haben ein Buch über Heiliges und Nacktes geschrieben. Wie sind Sie zu dem Thema gekommen? 

Hofer: Ich bin Theologe und Kunsthistoriker. Immer wieder sind mir diese Sebastians-Bilder oder Darstellungen der Maria Magdalena begegnet. Da ist die Nacktheit nicht zu übersehen. Die vergangenen Jahre bin ich dem Thema akribisch nachgegangen und war wirklich überrascht, wie viel das Thema hergibt. 

Frage: Dann verraten Sie doch mal: Warum gehören Heiliges und Nacktes zusammen? 

Hofer: Heiliges und Nacktes stehen immer in einer Beziehung. Man versucht oft, das Nackte aus dem Raum des Heiligen rauszuhalten. In allen Religionen gibt es heilige Orte, Kirchen, Tempel, heilige Bezirke. Entweder werden Männer und Frauen getrennt, oder es wird ihnen zumindest bestimmte Kleidung vorgeschrieben. In Italien kann man nicht im Bikini oder kurzer Hose in eine Kirche gehen. Das liegt an einer Erkenntnis: Menschliche Sexualität funktioniert vor allem über die Augen. Deswegen hat es immer schon Bemühungen gegeben, Bereiche des Heiligen zu entsexualisieren. Die Sexualität ist eine starke Kraft, die man nicht einfach mit Moral unterdrücken kann.

Bild: ©Tyrolia Buchcover

"Für mich zeigt die Geschichte, dass es eine gute Spannung zwischen Nacktem und Heiligem braucht. Wenn beides auseinanderklafft, haben wir ein Problem", sagt Markus Hofer und fasst damit eine These seines Buches zusammen.

Frage: Wenn Sie jetzt sagen, dass Sexualität vom Gebet ablenken kann, dann hört sich das so an, als würde Sexualität eher von Gott wegführen. Sie schreiben in ihrem Buch aber, dass Lust und sexuelles Spiel für Sie etwas Göttliches sind und sicher kein Werk des Teufels. Was meinen Sie damit? 

Hofer: Den Teufel sehen nur die Moralisten. Die Dinge sind nicht immer so eindeutig. Nichts ist schwarz-weiß. So ist das auch mit der Moral. Auf der einen Seite haben die Moralisten viel zur ganzen Doppelmoral beigetragen. Die Kulturgeschichte zeigt: je strenger die Moral, umso abgrundtiefer wird auch die Doppelmoral. Moralisten haben manchmal aber auch das Gegenteil dessen bewirkt, das sie eigentlich bewirken wollten: Sie haben die Erotik kultiviert. Die Sexualität ist durch die Moral nicht verschwunden – sie hat sich nicht dauerhaft an die gewünschten Grenzen gehalten. Man hat sich zwar durch eine rigide Moral stärker versteckt und bekleidet, aber auch neue Ausdrucksformen gesucht. So haben die Moralisten mit ihrer Hypermoral zur Kultivierung der Erotik beigetragen. Indem man bekleidet ist, weckt das noch viel mehr die Phantasie.

Frage: Soweit die Theorie. In ihrem Buch werden Sie anschaulicher: Was haben Adam, Augustinus und der Schambereich Jesu miteinander zu tun? 

Hofer: Mit Adam und Eva beginnt eigentlich auch in diesem Thema die menschliche Geschichte. Sie sind im Paradies und dann kommt Gott auf die Idee "Ihr dürft von allen Bäumen essen, nur von dem hier nicht".  Anschließend passiert etwas typisch Menschliches: Ein Verbot bewirkt die Übertretung. Es steht dann in der Bibel, dass sie sich schämten und Feigenblätter nahmen. In diesem Moment beginnen sie Mensch zu werden. Das zeigt etwas ganz Wichtiges: Sexuelle Körperscham ist von Anfang an da. Es gibt keine Naturvölker oder -Kulturen, bei denen es keine klaren Schamregeln gibt. In der Spätantike kommt dann aber Lustfeindlichkeit dazu, die nicht aus der Bibel stammt.  Augustinus war nicht der erste, aber er hat diese Lustfeindlichkeit im Christentum verankert. Von Augustinus zum Schamtuch Jesu ist es dann nicht mehr weit: Es gibt einige Bilder aus der Zeit der Deutschen Hochrenaissance, die heute kaum jemand mehr kennt. Auf ihnen wird Christus dargestellt – mit erigiertem Penis. Wir finden das heute anstößig. Aber diese Künstler haben ganz augustinisch gedacht. Augustinus ist davon ausgegangen, dass die Geschlechtsorgane vor dem Sündenfall dem menschlichen Willen gehorcht haben – ohne diese "blöde" Lust. Die Lust, so erklärt es Augustinus, kam erst mit dem Sündenfall. Sie sei die Bestrafung für den Ungehorsam. In der Theologie spricht man vom alten Adam und bezeichnet Christus als neuen Adam. Diese Theologie muss die Maler solcher Bilder auf die Idee gebracht haben, Jesus darzustellen wie er grinsend auf seine Erektion zeigt und damit deutlich macht: Die Sünde ist aufgehoben. Ganz streng augustinisch: Ohne Sünde gehorchen die Geschlechtsorgane dem Menschen willentlich.

Bild: ©picture-alliance / akg-images

Maria Magdalena wurde im Laufe der Zeit zu einem regelrechten Pin-up-Girl, erklärt Hofer. Sie wird immer mehr zur Legitimation der Darstellung von Nacktheit. Ab dem 19. Jahrhundert könne man solche Bilder als religiöse Pornographie bezeichnen.

Frage: Sie beschreiben in Ihrem Buch zwei Umgangsweisen der Kunstgeschichte mit Nacktheit. Maria von Magdala und der heilige Sebastian lassen die Hüllen zunehmend fallen, bei Jesus ist das eher umgekehrt. 

Hofer: Auf Taufbildern aus byzantinischen Zeiten wird Jesus unbekleidet dargestellt. In romanischer Zeit ist er dann viel bekleideter. In der Gotik und Spätgotik kommt das Lendentuch, das in der Renaissance manchmal aber wieder ziemlich knapp ausfällt. Über die knappe Bekleidung der beiden Schächer hat sich Zwingli schon aufgeregt, dass man so etwas “huriges” überhaupt darstellt und die Menschen sich das in der Kirche anschauen müssen. Der Auferstandene von Michelangelo im 16. Jahrhundert ist dann aber wieder nackt, was wiederum im Barock verschwindet: Da trug er das Lendentuch. Mit Jesus gibt es kunstgeschichtlich eher ein Hin und Her. Bei biblischen Geschichten oder Heiligendarstellungen hat man dagegen mit der Zeit immer stärker versucht, Sex und Crime herauszuarbeiten.

So wurde Maria Magdalena zum Beispiel regelrecht zum Pin-up-Girl. Sie wird zur Legitimation der Darstellung von Nacktheit. Im 19. Jahrhundert kann man solche Bilder als religiöse Pornographie bezeichnen. Die Darstellungen haben wenig mit der biblischen Geschichte zu tun. Diese Entwicklung beginnt in der Neuzeit. Wir haben dieses Klischee vom finsteren Mittelalter, und dann kommt die grandiose Neuzeit und die Aufklärung. Das stimmt so aber nicht. Im Mittelalter spielte Nacktheit eine ganz andere Rolle – sie war alltäglich und nicht der Rede wert. Man brauchte sie nicht malen. Mit der Neuzeit änderte sich das. Da begannen zugeschnürte Zeiten. Es gab nichts mehr zu sehen, und dann kommen die ganzen Nacktbilder – moralisch legitimiert durch biblische Geschichten oder eben heilige Namen. Bei mir in Lech gibt es ein großes Altarbild mit dem Heiligen Sebastian. Männlicher Körper, Sixpack, lange blonde Haare – vor ihm Irene, die sich um ihn kümmert. Das Bild ist im 19. Jahrhundert entstanden und zeigt eine absolut subtile Erotik. Es ist doch völlig irre was in diesem prüden Jahrhundert die Kirche den Menschen in ihrem kargen Bergbauernleben geboten hat.

Frage: Sie widmen sich auch der Sixtinischen Kapelle. Dort verorten Sie die größte ikonographische Entgleisung der Kunstgeschichte und meinen den Tiefpunkt der christlichen Ikonographie gefunden zu haben…

Hofer: Michelangelo stellt dort die Schöpfung dar. Dabei malt er auch Gottvater wie er Sonne und Mond erschafft. Rechts sieht man ihn mit Begleitpersonal und auf der linken Hälfte sieht man ihn nochmal – von hinten wie er aus der Szene verschwindet. Dann kommen wohl kosmische Winde auf, heben ihm das Gewand und man sieht sein Hinterteil. Das muss man sich mal vorstellen – dieses Bild dürfte es eigentlich gar nicht geben: Nach dem Zweiten Konzil von Nicäa hätte Gottvater gar nicht dargestellt werden dürfen. Man darf Christus darstellen, weil er menschliche Gestalt angenommen hat, und den Heiligen Geist symbolisch als Taube oder Flamme – aber Gottvater dufte nicht gemalt werden. Michelangelo stellt hier aber Gottvater dar – und dann auch noch mit nacktem Hinterteil. Das muss man schon mit Humor nehmen. Ich glaube Michelangelo wollte sich hier an seinem Auftraggeber Julius II. rächen – der hatte ihn ja zur Ausmalung gezwungen. Andererseits hat Michelangelo an der Decke der Sixtina seine Homosexualität bearbeitet mit den vielen nackten jungen Männern dort. Das hat doch auch was.

Bild: ©picture alliance / © Fine Art Images/Heritage Imag

In der Kunstgeschichte habe man immer wieder versucht bei biblischen Geschichten oder Heiligendarstellungen, Sex und Crime herauszuarbeiten. Wie hier beim Heiligen Sebastian. Dieses Bild von 1615 findet sich in den Musei Capitolini, Rom.

Frage: Sie sehen Nacktheit in der Kunstgeschichte als Projektionsfläche in Zeiten sittlicher Strenge. Wie würden Sie dieses Verhältnis von Projektion, Strenge und Kanalisation einordnen? 

Hofer: Sexualität ist eine starke Kraft, das ist überhaupt keine Frage. Und die sucht sich auch ihre Wege. Im Laufe der Zeit und vor allem im 19. Jahrhundert gab es viel Prüderie – da war wirklich nicht viel möglich. Und dann entstehen diese religiös-pornografischen Bilder – als Ventil.

Frage: Wie ist es denn heute? In ihrem Buch schreiben Sie von der Banalisierung der Nacktheit. Braucht es mehr Heiligkeit? 

Hofer: Für mich zeigt die Geschichte, dass es eine gute Spannung zwischen Nacktem und Heiligem braucht. Das Heilige hat ja auch zur Kultivierung der Erotik beigetragen. Das Nackte hat dafür gesorgt, dass das Heilige sinnlich und geerdet bleibt. Wenn beides auseinanderklafft, haben wir ein Problem. Auch wenn das Begriffspaar ungewohnt ist, bin ich überzeugt: Das Heilige gibt dem Nackten Würde. Das Heilige tut dem Nackten gut und das Nackte tut auch dem Heiligen gut. Heilig kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutet ursprünglich „ganz“. Im Englischen ist es deutlicher: »holy« kommt von »whole«.

Bild: ©picture alliance / Zoonar | Marco Brivio

"Michelangelo stellt hier Gottvater dar – und dann auch noch mit nacktem Hinterteil. Das muss man schon mit Humor nehmen", sagt der Theologe und Autor Markus Hofer.

Frage: Lassen Sie uns noch in die Zukunft schauen: Sie haben den Moralismus angesprochen; ihre Grundthese ist, je rigider die Sexualmoral, desto nackter werden die Heiligen. Sie sprechen von Ersatzhandlung und den Problemen unterdrückter Sexualität. Die Kirche bestimmen gerade ähnliche Themen. Was kann die Kirche denn von der Kunstgeschichte lernen? 

Hofer: Moral ist wichtig, aber es braucht die richtige Dosis. Unabhängig von der ganzen Missbrauchsproblematik. Vielleicht würde es den Menschen heute guttun, die Moral ins Spiel zu bringen, aber ohne moralistisch zu werden. So könnten wir das reizvolle Spiel von Verbergen und Entbergen, das eigentlich die menschliche Erotik ausmacht, wiederentdecken. 

Frage: Und was heißt das praktisch?

Hofer: Mit Moralisierungen kommt keiner weiter. Kirche – und Gesellschaft – sind noch gebrandmarkt von dem, was vor allem im 19. Jahrhundert alles gepredigt und erklärt worden ist. Für die Aufklärer beispielsweise war Selbstbefriedigung schlimmer als Selbstmord. Die waren noch strenger als religiöse Prediger. Die Kirche ist zudem gebrandmarkt vom Missbrauchsthema, was letztlich ja auch beweist, dass es hinter allzu strengen moralischen Fassaden ganz grausam stinkt. Das zeigt auch, dass die Doppelmoral nur noch schlimmer geworden ist durch die strenge Moral. Insgesamt muss die Kirche endlich zu einem entkrampften Verhältnis zur Sexualität und vor allem zur sexuellen Lust finden. Es geht ja nicht nur um Fortpflanzung. Sexuelle Lust ist eine Gabe Gottes. Sie ist etwas Schönes und Heiliges – vor allem ist es egal ob Mann und Frau, Frau und Frau oder Mann und Mann die Lust miteinander genießen. Zudem: Ein positives Verhältnis zur Sexualität ist auch eine Möglichkeit, die Zölibatsdebatte in fruchtbare Wege zu bringen. 

Diese verkrampfte Vorstellung, dass allein der Gedanke an die Lust jemand schon unheilig macht, ist nicht biblisch, sondern in der Spätantike in unsere Religion hereingekommen. Zu Lust und Erotik ein positives Verhältnis zu finden, würde der ganzen Kirche guttun. Vielleicht hilft dabei die Kunstgeschichte ein bisschen.

Von Benedikt Heider