Die geheimnisvolle Vielfalt des Christentums
Die Dogmatische Konstitution Lumen Gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) vom 21. November 1964 hat das katholische Kirchenbild zuletzt lehramtlich-konziliar beschrieben. Dabei wird in Abschnitt 8 als katholische Glaubensüberzeugung dargelegt, dass Christus selbst die Kirche als "sichtbares Gefüge" (ut compaginem visibilem) in dieser Welt eingerichtet habe. Diese bilde, zusammen mit dem geheimnisvollen Leib Christi, eine "einzige komplexe Wirklichkeit", die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwachse. Im Glaubensbekenntnis werde diese eine Kirche von allen Christen als die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche bekannt. Diese eine Kirche existiere, so formuliert es das Konzil, "in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger des Petrus und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet" werde (subsistit in Ecclesia catholica, a successore Petri et Episcopis in eius communione gubernata). Demnach sieht die katholische Kirche in ihr selbst die eine von Christus eingerichtete Kirche verwirklicht (subsistit in). Das Konzil versteht diese Aussage allerdings nicht als exklusiv-ausschließend – im Sinne eines est –, sondern fährt fort, dass sich auch außerhalb ihres Gefüges "mehrere Elemente der Heiligung und der Wahrheit" fänden, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängten. In der Auslegung dieser Stelle hat die Erklärung der römischen Glaubenskongregation Dominus Iesus vom 6. August 2000 in Abschnitt 16 dementsprechend lehramtlich festgestellt, dass die Kirche Christi trotz der Spaltungen der Christen voll nur in der katholischen Kirche weiterbestehe, auch wenn in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stünden, diese vom Konzil festgestellten "Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden" seien.
Vor diesem Hintergrund erinnert das Ökumenismusdekret Unitatis Redintegratio vom gleichen Tag daran, dass von Beginn an in dieser einen Kirche Spaltungen aufgetreten seien, so dass sich in der Geschichte der Kirche nicht unbedeutende Gemeinschaften von der vollen Gemeinschaft der katholischen Kirche getrennt hätten (UR 3) – und das, obwohl Kapitel 14 unterstreicht, dass "die Kirchen des Orients von Anfang an einen Schatz besitzen, aus dem die Kirche des Abendlandes in den Dingen der Liturgie, in ihrer geistlichen Tradition und in der rechtlichen Ordnung vielfach geschöpft hat". Abschnitt 13 des Dekrets unterscheidet dabei zwischen zwei Arten von Trennungen: Die einen seien im Orient erfolgt, weil einzelne Kirchen entweder die dogmatischen Entscheidungen der ökumenischen Konzilien von Ephesus (431) und Chalcedon (451) nicht mitgetragen hätten, oder weil die kirchliche Gemeinschaft zwischen den Patriarchaten des Ostens mit dem Apostolischen Stuhl von Rom verloren gegangen sei. Die zweite Art von Spaltung beziehe sich hingegen auf die Reformation in der lateinischen Kirche des Westens im so genannten konfessionellen Zeitalter. Während die ersteren östlichen Kirchen in der apostolischen Sukzession stünden (UR 15), besäßen die reformatorischen Gemeinschaften das Weihesakrament nicht mehr (UR 22). Sie seien deshalb nach katholischer Lehre keine echten Teilkirchen, sondern "kirchliche Gemeinschaften" (Communitates ecclesiales a nobis seiunctae) – auch wenn sie mit der katholischen Kirche durch eine besondere Beziehung und Verwandtschaft verbunden [seien] wegen des langwährenden in den vergangenen Jahrhunderten in kirchlicher Gemeinschaft vollzogenen Lebens des christlichen Volkes (UR 19). Diese Differenzierung hat die bereits erwähnte römische Erklärung Dominus Iesus noch einmal bekräftigt, allerdings auch hervorgehoben, dass "die in diesen Gemeinschaften Getauften" durch die Taufe Christus eingegliedert seien und deshalb in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der Kirche stünden (DI 17). In der jüngeren wissenschaftlichen katholischen Theologie ist vor diesem Hintergrund eine akademische Diskussion darüber aufgekommen, ob die Väter des Konzils die Gemeinschaften, die aus der Reformation der westlich-lateinischen Kirche des Mittelalters hervorgegangen sind, nicht doch als "echte" Kirchen hätten anerkennen wollen, um sie von anderen christlichen Gemeinschaften abzugrenzen.
Dennoch erklärt das Ökumenismusdekret des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass diese Spaltungen innerhalb der Christen "offenbar dem Willen Christi" widersprächen (UR 1). Daher sei es der Wunsch des Konzils, dass alle Katholikinnen und Katholiken an der Wiedererlangung der Einheit der Kirche mitarbeiteten, ohne dass den Wegen der Vorsehung irgendein Hindernis in den Weg gelegt und ohne dass den künftigen Antrieben des Heiligen Geistes vorgegriffen werden solle (UR 24). Deshalb sollten die Unterweisungen der heiligen Theologie und anderer vor allem historischer Fächer […] auch unter ökumenischem Gesichtspunkt vermittelt werden (UR 10). Die Kenntnis von den anderen christlichen Traditionen zu vertiefen, erscheint insofern als eine wichtige Aufgabe der wissenschaftlichen katholischen Theologie, des katholischen Religionsunterrichts, der katholischen Erwachsenenbildung und Gemeindearbeit wie der katholischen Publizistik.
1. Die lateinische Tradition
1.1 Die katholische Kirche
Auch wenn das Christentum im Orient entstanden ist, hat die neue Religion den lateinisch-sprachigen Westen bereits in der Zeit der Apostel erreicht. Wahrscheinlich schon im Jahr 96 wird im ersten Clemensbrief ein Bezug auf Petrus und Paulus spürbar, deren erster "vielerlei Mühseligkeiten erduldet" und für den Glauben "Zeugnis abgelegt" habe, während der letztere "bis an die Grenze des Westens [gekommen sei] und […] vor den Machthabern Zeugnis ab[gelegt habe]". Die historische Entwicklung, dass sich im lateinisch-sprachigen Westen des Römischen Reiches keine andere Ortskirche ebenso auf Apostel als Gründer berufen konnte, wie dies mehreren Kirchen im Osten des Imperiums möglich war, hat, zusammen mit dem Rang Roms als Hauptstadt und (bis in das 4. Jahrhundert alleinigem) Sitz des Kaisers, dazu geführt, dass die römische Kirche rasch eine führende Rolle im Westen eingenommen hat, auch wenn die lateinisch-sprachige Kirche Nordafrikas bis zur Eroberung Karthagos durch die Muslime (697) große und bedeutende Theologen wie Augustinus († 430) hervorgebracht hat. Gerade die Reform der lateinischen Kirche im Hochmittelalter stärkte diese Führungsrolle der römischen Päpste, auf welche – nach dem Ende der gemeinsamen ökumenischen Konzilien mit den östlichen Kirchen (787) – die Generalsynoden der lateinischen Kirche hinliefen, die nach katholischem Verständnis ebenso als ökumenische Konzilien gezählt werden, wie diejenigen des ersten Jahrtausends. Besonders die Konzile in Trient (1545-1563) und die beiden Bischofsversammlungen im Vatikan (1869-1870 und 1962-1965) haben Gestalt und Leben derjenigen Kirchen geprägt, welche die Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl von Rom aufrechterhalten haben.
Dabei wurde bereits auf dem vierten Konzil im Lateran (1215) spürbar, dass "katholisch" zu jener Zeit bereits mehr war als nur "lateinisch"; denn mit Jeremias II. († 1230) hat an der Synode das Oberhaupt der maronitischen Kirche aus dem heutigen Libanon teilgenommen, welche aus der westsyrischen Tradition hervorgegangen ist und am Ende des 12. Jh auf Grund von Kontakten mit lateinischen Kreuzfahrern die Einheit mit dem Apostolischen Stuhl von Rom bekräftigt hat. Im Laufe des zweiten Jahrtausends sind zu dieser Kirche weitere Teilkirchen aus östlichen Traditionen getreten, die eine Kirchenunion mit der Sedes Apostolica eingegangen sind, etwa die griechisch-katholische Kirche in Osteuropa, die Chaldäisch-Katholische Kirche im Irak oder die indischen Syro-Malabarische und Syro-Malankara katholischen Kirchen. Die jüngste dieser katholischen Ostkirchen ist die eritreisch-katholische Kirche, welche Papst Franziskus vor sechs Jahren, im Jahr 2015, offiziell errichtet hat. Heute stellen diese katholischen Ostkirchen als ecclesiae sui iuris wichtige Gliedkirchen der katholischen Kirche dar. Sie erkennen den römischen Papst als Oberhaupt an, haben ihr eigenes Kirchenrecht, den Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (CCEO), und feiern die Liturgie zumeist in der Tradition und Sprache, aus der sie ursprünglich hervorgegangen sind. Deshalb kommt es vor, dass katholische Priester aus diesen Kirchen verheiratet sein können, weil sich ihnen bis zu ihrer Priesterweihe die Option eröffnet, entweder zölibatär zu leben oder eine Familie zu gründen. Die in Wien beheimatete katholische Stiftung Pro Oriente gibt auf ihrer Internetpräsenz die Anzahl der Gläubigen in den katholischen Ostkirchen heute mit über 16 Millionen an.
1.2 Die reformatorischen Gemeinschaften und Kirchen
Während die katholische Kirche, die orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition sowie die altorientalischen Kirchen die apostolische Sukzession über die ununterbrochene Abfolge von geweihten Bischöfen definieren, schlagen die Gemeinschaften und Kirchen, die einer Reformbewegung der lateinischen Kirche des Westens in Mittelalter und Neuzeit entstammen, unterschiedliche Wege ein:
1.2.1 Die Anglikanische Gemeinschaft
Die weltweite Anglikanische Gemeinschaft bewahrt beispielsweise das historisch gewachsene Bischofsamt. Deswegen befinden sich die Bischofssitze der Diözesen der Church of England – wie zum Beispiel der Sitz des Primas in Canterbury – in der Regel noch heute an denjenigen Orten, an denen in England seit der Antike Bischofsitze etabliert worden sind; insbesondere seit durch den Act of Supremacy des englischen Parlamentes vom 3. November 1534 die englische Königin bzw. der englische König zum Oberhaupt der Church of England bestellt worden ist – womit sich die Kirche des Landes aus der Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl von Rom losgelöst hat. Als im Jahr 1850 durch Papst Pius IX. († 1878) in England eine katholische diözesane Struktur wiederrichtet werden konnte, sollten daher katholische Bischofssitze nicht an diesen Stätten eingerichtet werden, sondern an anderen Orten. Wo es deshalb derzeit katholische wie anglikanische Bischöfe mit gleichem Sitz gibt, wie z.B. in Liverpool, Birmingham oder Portsmouth, sind diese anglikanischen erst nach den katholischen Bistümern gebildet worden. Oberster Repräsentant der katholischen Kirche in England und Vorsitzender der Bischofskonferenz von England und Wales ist heute der Erzbischof von Westminster.
Die Anglikanische Gemeinschaft mit ihren Mitgliedskirchen betrachtet sich selbst als Teil der einen allumfassenden christlichen Kirche. Angehören können ihrer Communion alle diejenigen Kirchen, welche die vier Kriterien erfüllen, die die Lambeth Conference von 1888 aufgestellt hat. Aus diesem Grund lassen sich heute ganz unterschiedliche anglikanische Teilkirchen differenzieren, von denen einige beispielsweise die Frauenordination ablehnen, während sie andere befürworten. Ebenso ist die Liturgie manchmal eher festlich, an anderes Mal dagegen schlichter gehalten.
Ökumenische Gespräche mit dem Apostolischen Stuhl von Rom wurden 1966 aufgenommen. Im Zusammenhang mit den Jubiläumsfeierlichkeiten des Auftakts dieses ökumenischen Austausches wurde der Repräsentant der anglikanischen Gemeinschaft beim Vatikan, Erzbischof David Moxon, im März 2017 dazu eingeladen, eine anglikanische Vesper im Petersdom abhalten; und Papst Franziskus als erster Bischof von Rom die anglikanische Kirche of All Saints in der Stadt am Tiber besucht.
1.2.2 Die Altkatholische Kirche
Wie die anglikanische Gemeinschaft, hält auch die Altkatholische Kirche am Bischofsamt fest. Sie sieht die apostolische Sukzession in sich bewahrt, weil sie sich auf die Kirche von Utrecht bezieht, deren Kapitel im Jahr 1724 daran festhielt, den neuen Bischof wählen zu dürfen, und deshalb aus der Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl von Rom ausgeschieden ist.
Die Bezeichnung "altkatholisch" rührt daher, dass die einzelnen Mitgliedskirchen der Utrechter Union, zu der sich im Jahr 1889 verschiedene altkatholische Kirchen zusammengeschlossen haben, für sich in Anspruch nehmen, "alte" katholische Traditionen losgelöst vom Apostolischen Stuhl in Rom zu bewahren. Dies gilt insbesondere für die Ablehnung der dogmatischen Entscheidungen zur Irrtumsfreiheit des päpstlichen Lehramts in der Dogmatischen Konstitution Pastor aeternus vom 18. Juli 1870, die als eine Neuerung von der alten katholischen Überlieferung verstanden worden ist. Da in der Folge des Konzils Theologen und Gläubige aus der katholischen Kirche ausgeschlossen worden oder aus dieser ausgetreten sind, die sich weigerten, die Konzilsbeschlüsse anzuerkennen – wie z.B. der in Bamberg geborene Münchner Theologieprofessor Ignaz von Döllinger († 1890) –, sammelten sich die Gegner dieser dogmatischen Festlegung in einer eigenen Gemeinschaft. Im Jahr 1873 wurde Josef-Hubert Reinkens († 1896), wie Döllinger katholischer Priester und Professor an der katholisch-theologischen Fakultät in Breslau, nach seiner Exkommunikation im Jahr 1872 durch den altkatholischen Bischof von Deventer zum ersten altkatholischen Bischof in Deutschland gewählt. Im Jahr 1931 haben die Church of England – sowie später die ganze Anglikanische Gemeinschaft – und die Altkatholische Kirche die Kirchengemeinschaft erklärt. Seit 1985 gibt es eine Vereinbarung zur gegenseitigen Einladung zum Abendmahl zwischen der Altkatholischen Kirche und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland. Mit der katholischen Kirche besteht seit dem Jahr 2004 eine Dialogkommission. Im Oktober 2014 empfing Papst Franziskus erstmals die internationale altkatholische Bischofskonferenz im Vatikan. Zu seiner Amtseinführung im Jahr zuvor war der altkatholische Bischof Joris Vercammen (geb. 1952) von Utrecht als Gast eingeladen.
1.2.3 Die reformatorischen Gemeinschaften
Ein anderes Verständnis von der apostolischen Sukzession prägt die, im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils, kirchlichen Gemeinschaften, die sich im Zuge der Reformation des 16. Jahrhunderts aus der lateinischen Kirche des Westens entwickelt haben. In der Regel leiten sie die Übereinstimmung mit den Aposteln nicht vom personalen Bischofsamt und dessen Sukzession her, sondern von der inhaltlichen Anknüpfung an diese, welche diese Christen insbesondere in der Heiligen Schrift ausgedrückt sehen. Wegen dieser starken Akzentuierung des Evangeliums nennen sie sich selbst "evangelische Kirchen"; oder, wegen ihres Anspruches, Fehlentwicklungen der mittelalterlich-lateinischen Kirche zu "reformieren", "reformierte Kirchen". Im englischsprachigen Raum haben sich aus "reformierten" Ideen etwa auch die baptistischen oder methodistischen Gemeinschaften entwickelt. Da, wo sich Gemeinden "lutherischen" und "reformierten" Bekenntnisses miteinander vereinigt haben, spricht man hingegen von "unierten Kirchen". Um diese unterschiedlichen Typen von christlichen Gemeinschaften unter einem Oberbegriff zusammenzufassen, werden sie im ökumenischen Gespräch entweder als "reformatorische Kirchen" angesprochen, um sie von den "reformierten Kirchen" zu unterscheiden, oder als "protestantische Kirchen" weil evangelischen Stände auf dem Reichstag von Speyer (1529) gegen die Verhängung der Reichsacht gegen Martin Luther († 1546) formaljuristisch "protestiert haben", weswegen sich für sie diese politische Bezeichnung entwickelt hat.
Historisch haben sich diese Gemeinschaften, die hier aus Platzgründen nur exemplarisch dargestellt werden können, durch Bestrebungen zur Reform der mittelalterlich-lateinischen Kirche durch Marin Luther († 1546) und später Philipp Melanchthon († 1560) in Wittenberg, Huldrych Zwingli († 1531) in Zürich und Johannes Calvin († 1564) in Genf entwickelt. In der Forschung herrscht dabei heute die Mehrheitsmeinung vor, dass diese Reformatoren in erster Linie danach strebten, die eine Kirche zu "reformieren", sie aber nicht zu spalten – und zwar nach den Prinzipien "alleine Christus" (solus Christus), "alleine die Schrift" (sola scriptura), "alleine der Glaube" (sola fide) und "alleine die Gnade" (sola gratia). Die Heilige Schrift sollte in Landessprache verkündet und ausgelegt, Priester und Bischöfe aus der Gemeinde gewählt und das liturgische Leben der Kirche neugestaltet werden. Die katholische Kirche reagierte auf diese Herausforderung zunächst mit Religionsgesprächen (z.B. 1518 in Augsburg zwischen Martin Luther und dem römischen Kardinallegaten Thomas Cajetan († 1534), am 15. Juni 1520 jedoch mit der Exkommunikation Martin Luthers aus der katholischen Kirche durch die päpstliche Bulle Exsurge Domine, sowie schließlich durch die Reform der in der Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl verbliebenen lateinischen Kirche auf dem Konzil von Trient (1545-1563). Auf dem Reichstag von Augsburg (1530) formulierten die evangelischen Reichsstände ihr Bekenntnis in der Confessio Augustana, die zehn Jahre später auch von den reformierten Gemeinschaften anerkannt wurde.
In Deutschland sind die einzelnen evangelischen Landeskirchen, wie z.B. die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, die Evangelische Landeskirche in Baden oder die Evangelisch-Lutherische Kirche Hannovers, heute zum überwiegenden Teil in der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) sowie in der Evangelischen Kirche Deutschlands zusammengeschlossen, einem Bund von lutherischen, reformierten und unierten Kirchen, weltweit über diese hinaus im "Lutherischen Weltbund"; die aus der schweizerischen Reformation entstandenen Gemeinschaften hingegen im "Reformierten Bund" und der World Communion of Reformed Churches (WCRC), zu dem sich heute nach eigenen Angaben rund 100 Millionen Christinnen und Christen aus reformierten, presbyterianischen oder unierten Kirchen bekennen.
Lehrunterschiede zur katholischen Kirche bestehen beispielsweise in Bezug auf das Kirchen- und Amtsverständnis, das Verhältnis von Schrift und Tradition oder hinsichtlich dem Verständnis von der Eucharistie. Einen wichtigen Meilenstein der Ökumene hat dabei die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre vom 31. Oktober 1999 dargestellt, in der wichtige Lehrunterschiede des 16. Jahrhunderts zu der Frage, wie der Mensch gerettet, also vor Gott "gerechtfertigt" werden könne, konsensual zusammengeführt worden sind.
1.2.4 Die Neuapostolische Erweckungsbewegung
Ein dritter Typus von christlichen Gemeinschaften sieht die apostolische Sukzession weder personal noch inhaltlich bestimmt, sondern erkennt heute lebende Personen als Apostel dieser Zeit an, in denen der Geist Gottes direkt wirkt. Ein Beispiel für diese Gemeinschaften stellt die "Neuapostolische Kirche" dar, für die John Bate Cardale († 1877) der erste Apostel der Neuzeit war. Nach eigenen Angaben bekennen sich zu ihr mehr als 9 Millionen Gläubigen. Sie wird auch heute noch strukturell von "Aposteln" geführt, hat ihren Sitz in der Schweiz und lebt von den Spenden ihrer Gläubigen. Ihr geistliches Leben ist von dem Ziel geprägt, sich auf die Wiederkehr Christi vorzubereiten. In Deutschland ist die Neuapostolische Kirche seit dem Jahr 2019 Gastmitglied in der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen.
2. Die griechische Tradition
2.1 Die orthodoxe Kirche und die orthodoxen Kirchen
Die einzelnen orthodoxen Kirchen sehen sich selbst als die eine katholische und apostolische Kirche des Glaubensbekenntnisses, auch wenn die einzelnen orthodoxen Kirchen selbst von eigenen Ersthierarchen geleitet werden. Durch die ununterbrochene Abfolge von Bischöfen von der Zeit der Apostel betrachten sich die orthodoxen Kirchen als in Übereinstimmung mit der Epoche der Kirchenväter, deren Theologie für sie bis heute einen hohen Stellenwert besitzt. In Bezug auf das Alte Testament besitzt in diesen Kirchen dessen meistgenutzte griechische Übersetzung, die Septuaginta, kanonische Geltung – und nicht der heutige masoretische Text der Biblia Hebraica. Die als kanonisch anerkannten orthodoxen Kirchen halten untereinander Sakramenten- und Eucharistiegemeinschaft und feiern in der Regel die byzantinische Liturgie in ihrer Landes- oder liturgischen Sprache. Dazu kommen noch die "autonomen" Kirchen, die zwar ihre inneren Angelegenheiten zumeist selbst regeln, in bestimmten liturgischen Handlungen (wie dem Empfang des Salböls, des Myron) aber immer noch auf die Mutterkirche angewiesen sind, aus der heraus sie sich gebildet haben. Zwischen den einzelnen orthodoxen Kirchen umstritten ist dabei der Status der Ukrainischen orthodoxen Kirche, welche der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel am 6. Januar 2019 als selbstständig anerkannt hat, während der russisch-orthodoxe Patriarch von Moskau, Kyrill (seit 2009), die Ukrainische Kirche als Teil ihres kanonischen Territoriums betrachtet. Weitere orthodoxe Kirchen, deren Status nicht eindeutig geklärt ist, werden als Gruppe der "unkanonischen" Kirchen zusammengefasst.
2.2 Die Pluralität orthodoxen Christentums
Im Gegensatz zur lateinischen Kirche, in der das Lateinische bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil als Sprache der Liturgie diente, haben Missionare wie die beiden aus Thessaloniki stammenden Brüder Kyrillos und Methodios vom 9. Jahrhundert an das Christentum vor allem im östlichen Europa in Landessprache verkündet. Das kyrillische Alphabet, das sich aus dem glagolitischen entwickelt hat, oder das Kirchenslawische als Sprache der Liturgie sind Ausdruck dieser Offenheit gegenüber den einzelnen Kulturen. Deshalb stellt die Feier der byzantinischen Liturgie, die in den einzelnen Landessprachen zelebriert wird, ein einigendes Band zwischen den einzelnen orthodoxen Kirchen dar. Griechisch als Liturgiesprache herrscht dabei beispielsweise nur noch im Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel, den altkirchlichen Patriarchaten von Jerusalem und Alexandria sowie in anderen griechisch-sprachigen Regionen vor. Die griechisch-orthodoxe Kirche von Antiochia verwendet heute dagegen das in Syrien vorherrschende Arabische.
Ein weiterer Unterschied unter einzelnen orthodoxen Kirchen besteht darin, dass einige von ihnen – wie etwa die griechisch-orthodoxe Kirche – inzwischen die Kalenderreform, die Papst Gregor XIII. († 1585) im Jahr 1582 initiiert hat, mitgemacht haben, während andere orthodoxe Kirchen –beispielsweise die russische oder die serbische orthodoxe Kirche – am bis dahin üblichen julianischen Kalender festhalten. Dadurch ergibt sich ein Unterschied in der Feier der liturgischen Feste. Weihnachten wird daher in der russischen oder der serbischen-orthodoxen Kirche nach julianischem Kalender erst am 7. Januar 2022 gefeiert, in Griechenland hingegen bereits am 25. Dezember 2021. Da der Termin für das christliche Osterfest unterschiedlich berechnet wird, gibt es Stimmen, die dafür werben, die 1.700-Jahr-Feier des von allen christlichen Kirchen anerkannten Konzils von Nicaea (325), auf dem der Tradition nach die Modalitäten der Berechnung des Ostertermins festgelegt worden sind, im Jahr 2025 dazu zu nutzen, einen gemeinsamen Ostertermin für alle Christinnen und Christen weltweit festzulegen – beispielsweise durch die Bezugnahme auf astronomische Daten nach dem Meridian der Stadt Jerusalem.
2.3 Das Selbstverständnis der orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition
Was die Kirchenstruktur angeht, so stehen heute an der Spitze der 14 (bzw. 15) kanonischen orthodoxen Kirchen Oberhäupter, die vom jeweiligen Synod, dem Konzil der Bischöfe, gewählt werden und ihre inneren Angelegenheiten selbst regeln. Weil sie ihren Ersthierarchen selbst bestimmen, nennt man sie "autokephal", von griechisch kephalē (Haupt) und autos (selbst). Die Gesamtkirche, die eine, heilige, apostolische und katholische Kirche kann nach orthodoxem Verständnis allerdings nur vom allgemeinen Konzil gemeinsam geleitet werden, weshalb die orthodoxen Kirchen bis heute nur die sieben Konzilien des ersten Jahrtausends als "ökumenisch", d.h. gesamtkirchlich, anerkennen. Eine solche Bestätigung versagen sie den Konzilien des zweiten Jahrtausends, welche die orthodoxe Kirche eher als Teilsynoden der lateinischen Kirche des Abendlands einstuft, obwohl es im lateinischen Westen Bestrebungen gegeben hat, das Konzil von Ferrara-Florenz (1431-1445) als achtes ökumenisches Konzil zu zählen, da an ihm der griechisch-orthodoxe Patriarch von Konstantinopel und weitere Bischöfe des Ostens teilgenommen haben und auf ihm durch die Bulle Laetentur Coeli vom 6. Juli 1439 die Wiederherstellung einer allerdings nur kurzfristigen Kircheneinheit zwischen den Kirchen von Rom und Konstantinopel verkündet worden ist. Seit dem 20. Jahrhundert rufen die ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel panorthodoxe Synoden ein, die in ein erstes neuzeitliches gesamtorthodoxes Konzil einmünden sollen. Zu diesem ist es bisher aber noch nicht gekommen.
2.4 Der Verlust der Gemeinschaft zwischen den Kirchen des Ostens und des Westens
Der Verlust der Kircheneinheit zwischen den orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition und dem Apostolischen Stuhl von Rom wird häufig auf das Jahr 1054 datiert. Neue Arbeiten lassen es jedoch als geratener erscheinen, den Verlust der Koinōnia zwischen den Kirchen des Westens und des Ostens als einen längeren Prozess zu verstehen, der mit dem Ausscheiden der anti-chalcedonensischen Kirchen im Orient im 6. Jahrhundert seinen Anfang genommen und über die Etablierung paralleler lateinischer Bischofslinien auf dem Gebiet der altkirchlichen Patriarchate von Antiochia (1100), Jerusalem (1100) und vor allem nach der Eroberung Konstantinopels durch lateinische Kreuzfahrer, Konstantinopel (1204) entscheidende Impulse erfahren hat. Im Jahr 1729 war es schließlich die römische Congregatio de Propaganda Fide, die katholischen Christen die Eucharistiegemeinschaft mit Angehörigen der orthodoxen Kirchen untersagt hat.
2.5 Zum Stand der Ökumene
Während die orthodoxen Kirchen überwiegend dem Papst in Rom die erste Stelle unter den Patriarchen einräumen, hegen sie Vorbehalte gegenüber theologischen Entwicklungen in der westlich-lateinischen Kirche im zweiten Jahrtausend: Zum einen die Einfügung der lateinischen Aussage, dass der Heilige Geist aus dem Vater "und dem Sohn" hervorgehe (qui ex Patre Filioque procedit) in den Text des Glaubensbekenntnisses, die sich in Rom zum ersten Mal im 11. Jahrhundert beobachten lässt. Zum anderen die katholische dogmatische Feststellung der Irrtumsfreiheit des päpstlichen Lehramts, welche in orthodoxen Augen die Lehre von der Kirche, die Ekklesiologie, entscheidend verändert hat. Deshalb äußern orthodoxe Kirchen Zurückhaltung gegenüber der Einladung des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Eucharistiegemeinschaft (UR 15,3). Auch wenn durch eine gemeinsame Erklärung von Papst Paul VI. († 1978) und Patriarch Athenagoras I. († 1972) von Konstantinopel die Exkommunikationen des Jahres 1054 aufgehoben worden sind, die ein päpstlicher Legat gegen den damaligen ökumenischen Patriarchen und dessen Synode gegen die Verfasser dieses Schreibens aus dem lateinischen Westen ausgesprochen hat, und der römische Papst im Januar 1964 die lateinischen, nur noch der Titulatur nach bestehenden Patriarchate von Konstantinopel, Antiochia und Alexandria aufgehoben hat, ist bis heute die Eucharistie- und Sakramentengemeinschaft zwischen der katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition noch immer nicht erreicht.
3. Die orientalischen Traditionen
3.1 Die einzelnen Gruppen von Kirchen im Orient
Die Kirchen der orientalischen Christen lassen sich heute grob in fünf Gruppen unterteilen:
3.1.1 Die orientalisch-orthodoxen Kirchen
Als orientalisch-orthodoxe Kirchen werden diejenigen Kirchen bezeichnet, welche die Beschlüsse des vierten ökumenischen Konzils von Chalcedon (451) zur Christologie ablehnen und sich stattdessen zur Christologie des Cyrillus von Alexandria († 444) bekennen. Zu Unrecht sind sie aus diesem Grunde jahrhundertelang als "Monophysiten" eingestuft worden, obwohl sie, wie die pro-chalcedonensische Kirche des Imperium Romanum, an der Vollständigkeit des vom Gott-Logos angenommenen Fleisches (Joh 1,14) festgehalten und sich von denjenigen, welche diese bestritten, abgegrenzt haben. Langsam setzt sich jedoch als Ergebnis jüngerer Arbeiten und ökumenischer Gespräche die zutreffendere Bezeichnung "Miaphysiten" für sie durch. Sie stehen untereinander in Kirchen- und Sakramentengemeinschaft.
3.1.2 Die pro-chalcedonensischen orthodoxen Kirchen im Orient
Neben den orientalisch-orthodoxen Kirchen bestehen weiterhin die pro-chalcedonensischen Kirchen des Orients auf dem Gebiet der altkirchlichen Patriarchate von Antiochia, Jerusalem und Alexandria. Sie zählen zur Familie der orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition und sind dort als kanonische autokephale Kirchen anerkannt.
3.1.3 Die katholischen Ostkirchen aus orientalischen Traditionen
Aus orientalischen Traditionen ist eine ganze Reihe von katholischen Ostkirchen hervorgegangen, seit dem Mittelalter und in der Neuzeit orientalische wie lateinische Christen wieder näher in Kontakt gekommen sind. Als ecclesiae sui iuris gehören sie der katholischen Kirche an.
3.1.4 Reformatorische Gemeinden im Orient
Darüber hinaus gibt es christliche Gemeinden in den Staaten des Nahen Ostens, welche durch Missionierungen in der Neuzeit durch reformatorische Gemeinschaften oder Kirchen entstanden sind. So wird heute beispielsweise angenommen, dass etwa 19 Prozent der Äthiopier solchen reformatorischen Gemeinschaften und Kirchen angehören.
3.1.5 Die Apostolische Kirche des Ostens
Schließlich zählt zu den orientalischen Kirchen auch die Apostolische Kirche des Ostens, die das alte Christentum im Perserreich repräsentiert. Diese Kirche, welche sich auf Thomas, Aghai und Mari als Gründer zurückführt und der ostsyrischen Tradition folgt, ist jahrhundertelang fälschlicher Weise als "nestorianische" Kirche bezeichnet worden, obwohl Nestorius († 451), der wegen seiner christologischen Anschauungen abgesetzte Bischof von Konstantinopel, für ihre Theologie kaum eine einflussreiche Rolle gespielt hat und eher als Märtyrer für den wahren Glauben gegen den mächtigen ägyptischen Bischof Cyrillus von Alexandria († 444) angesehen wird.
In der Literatur werden die orientalisch-orthodoxen Kirchen und die Apostolische Kirche des Ostens zusammen als die Gruppe der altorientalischen Kirchen angesehen.
3.2 Zum Selbstverständnis der orientalischen Kirchen
Die orientalischen Kirchen sehen sich selbst als direkte Nachfolger der von den Aposteln gegründeten Kirchen. Im 4. Jahrhundert spiegelt die Historia ecclesiastica des Eusebius von Caesarea († 339) die Überlieferung von frühen Kirchengründungen durch Jakobus in Jerusalem, Markus in Alexandria sowie Petrus für Antiochia wider. Als Missionar des Ostens wird der Apostel Thomas angesehen, der nach verschiedenen frühchristlichen Autoren bis nach Indien gelangt sein soll. Gemäß der armenischen Überlieferung soll es darüber hinaus Gregor dem Erleuchter († ca. 331) im Jahr 311 gelungen sein, den armenischen König Trdt III. (Tiridates) († ca. 330) zur Taufe zu bewegen – also rund 70 Jahre, bevor der römische Kaiser Theodosius II. im Jahr 380 das Christentum offiziell zur Staatsreligion im Imperium Romanum gemacht hat.
3.3 Der Reichtum der orientalischen Tradition des Christentums
Das orientalische Christentum kennt einen immensen Reichtum an Liturgie, Theologie und Literatur, der sich in seinen Sprachen inklusive dem Arabischen ausdrückt. Zu diesen Sprachen zählen das Aramäische der Stadt Edessa, das als das klassische Syrische bezeichnet wird, die indoeuropäische Sprache des Armenischen, das Koptische als letzte Form des Altägyptischen sowie Geez, die semitische altäthiopische Sprache. Im Zuge der Arabisierung der Länder des vorderen Orients hat das Arabische die alten Sprachen der Christen zumeist auf die Liturgie reduziert, doch hat sich in der Türkei (rund um Mardin) sowie im Norden Syriens (im Gebiet von Maalula) beispielsweise ein moderner Dialekt des Syrisch-Aramäischen, das so genannte Turoyo, gehalten. Durch Auswanderung und Vertreibung im syrischen Bürgerkrieg sind diese Sprachinseln allerdings heute hoch gefährdet. In den Sprachen des Orients sind von den wichtigen Zentren Jerusalem, Antiochia und Alexandria entscheidende Impulse für die christliche Liturgie ausgegangen, von der auch der byzantinisch-orthodoxe und der römische Ritus profitiert haben.
3.4 Meilensteine in der Geschichte des Christentums im Orient
Verschiedene historische Ereignisse haben dazu geführt, dass sich das orientalische Christentum heute in einer sehr schwierigen Lage befindet: Durch die pro-chalcedonensische Politik der Kaiser Justinus († 527) und Justinianus († 565) ist die Kircheneinheit zwischen der Mehrheit der Bevölkerung in Ägypten, Syrien oder Armenien mit der (ost-)römischen Reichskirche verloren gegangen. Die Anzahl der Bischöfe von Städten wie Antiochia, Jerusalem oder Alexandria, die sich gleichermaßen auf die apostolische Tradition berufen, hat sich seitdem vermehrt. Für Antiochia gibt es deshalb heute beispielsweise einen griechisch-orthodoxen, einen syrisch-orthodoxen, einen katholisch-maronitischen, einen katholischen griechisch-melkitischen und einen syrisch-katholischen Patriarchen. Diese Zersplitterung schwächt das Christentum vor Ort.
Die arabische Eroberung des Nahen Ostens im 7. Jahrhundert hat einen historischen Prozess angestoßen, in dem die Christen im Laufe der Jahrhunderte zu einer mehr oder weniger starken Minderheit in einer mehrheitlich muslimischen Gesellschaft geworden sind. Nach unsicheren Schätzungen machen die Kopten heute rund 10% der Bevölkerung Ägyptens aus, die überwiegend katholisch-maronitischen, griechisch-orthodoxen oder griechisch-katholischen Christen im Libanon wohl zwischen 30 und 40% der Einwohner des Libanon sowie die äthiopischen Christen etwa 2/3 der Äthiopier.
Die Bekehrung des Mongolenkhan Timur Lenk († 1405) zum Islam beendete im 14. Jahrhundert die bis dahin erfolgreiche christliche Mission der ostsyrischen Kirche des Ostens, die bereits im 8. und 9. Jahrhundert christliche Bistümer in China errichten konnte und von deren Werben für das Christentum unter den Mongolen westlich-lateinische Reisende wie der Franziskanermönch Wilhelm von Robruk († ca. 1270) berichten. Durch die Unterbrechung der Verbindungen entlang der Seidenstraße schrumpfte die im Mittelalter größte und geographisch am weitesten verbreitete christliche Kirche auf eine Territorialkirche im heutigen Irak zusammen. In Indien gibt es hingegen noch heute Millionen von Christen, die, wenn auch inzwischen vielfach in katholischen Ostkirchen beheimatet, die beiden syrischen Traditionen des Christentums fortführen.
Schließlich haben die Kriege der Neuzeit im 20. und 21. Jahrhundert Flucht, Vertreibung und Ermordung von orientalischen Christen mit sich gebracht – ob nun im Osmanischen Reich, im Irak, im Libanon oder in Syrien. Ein bildhaftes Zeichen für diese Entwicklung ist das Schicksal der Hagia Sophia in Konstantinopel/Istanbul. Von Kaiser Justinianus († 565) im Jahr 537 errichtet und geweiht, war sie bis zur Eroberung der Stadt durch die Türken die Hauptkirche der Kaiser am Bosporus. Vom Eroberer Mehmed II. († 1481) in eine Moschee umgewandelt, diente das Gebäude auf Anregung Atatürks († 1938) seit dem Jahr 1935 in der modernen Türkei als Museum. Im Juli 2020 hat jedoch das oberste türkische Gericht entschieden, dass die ehemalige Kirche wieder eine Moschee sein soll.
3.5 Gegenwartslage und interreligiöse wie ökumenische Impulse
Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Gegenwartslage des orientalischen Christentums heute in den meisten Ländern des Nahen Ostens als problematisch dar (z.B. Irak, Syrien, Libanon, Ägypten), auch wenn es immer wieder Zeichen der Hoffnung gibt, wie den ersten Neubau einer christlichen (syrisch-orthodoxen) Kirche in der Türkei, deren Grundstein der türkische Präsident Erdogan im August 2019 gelegt hat, gemeinsame Protestdemonstrationen von Muslimen wie Christen nach den Terroranschlägen vom 1. Januar 2011 in Ägypten oder die Erklärung von Abu Dabi vom 4. Februar 2019, in der Papst Franziskus und Scheich Achmed el-Tayeb, das Oberhaupt der einflussreichen muslimischen wissenschaftlichen Institution der Azhar in Kairo, alle Menschen als Geschwister bezeichnet haben. Der Besuch von Papst Franziskus im Irak wurde gleichermaßen von vielen Gläubigen im Land als ein Zeichen der Ermutigung gedeutet.
Wie im interreligiösen Gespräch, haben sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil grundlegende Fortschritte in der binnenchristlichen Ökumene ergeben. Die Päpste Paul VI. († 1978) und Johannes Paul II. († 2005) haben gemeinsame Erklärungen zur Christologie mit der koptischen Kirche (1973), der armenisch-apostolischen Kirche (1973), der syrisch-orthodoxen Kirche (1984), der Malankara-orthodoxen syrischen Kirche (1990) und der Apostolischen Kirche des Ostens (1994) unterzeichnet. Im Jahr 2001 hat der Apostolische Stuhl sogar die gegenseitige Eucharistiegemeinschaft zwischen ostsyrischen und katholischen Christen in besonderen Situationen erlaubt. Damit wurden jahrhundertealte Differenzen überwunden. Seitdem werden, häufig unter dem Dach der katholischen Stiftung Pro Oriente, Fragen der Sakramentenlehre oder der Ekklesiologie erörtert.
Der Autor
Christian Lange ist als Patristiker und Kirchenhistoriker an der Universität Erlangen tätig.