Hinder über Lage der Christen in Arabien: "Die Toleranz ist gewachsen"
18 Jahre lang war Bischof Paul Hinder auf der Arabischen Halbinsel aktiv. Heute leben dort 3,5 Millionen Katholiken, überwiegend Arbeitsmigranten aus Asien. Als Apostolischer Vikar für Südarabien mit Sitz in Abu Dhabi, zuletzt auch Administrator für Nordarabien, betreute der Schweizer Kapuziner den größten Kirchenbezirk der Welt mit Fingerspitzengefühl. Anfang Mai nahm Papst Franziskus den Rücktritt des 80-Jährigen an. Im Interview spricht Hinder über die Lage der Christen, den Dialog mit Muslimen - und sieht Grund für Optimismus.
Frage: Herr Bischof Hinder, Wie haben Sie den Zustand der Religionsfreiheit auf der Arabischen Halbinsel erlebt?
Hinder: In allen Ländern ist der Islam die offizielle Staatsreligion. Die Ausübung nicht-muslimischer Religionen ist in den meisten Ländern innerhalb der zugewiesenen Plätze - Kirchen, Tempel, Synagogen - mit Ausnahme von Saudi-Arabien garantiert. Individuelle Religionsfreiheit im Sinne der Konversion einer muslimischen Person zu einer anderen Religion ist allerdings überall strafbar.
Frage: Hat sich die Situation für Christen während Ihrer Dienstzeit in Arabien verbessert?
Hinder: Zunächst ist zu betonen, dass dort fast alle Christen Ausländer sind. Die Toleranz ist in meiner Dienstzeit gewachsen. In 18 Jahren konnte ich auf der Arabischen Halbinsel acht neue Kirchen weihen und in den Vereinigten Arabischen Emiraten drei neue Schulen eröffnen. 2006 führte die als islamkritisch empfundene Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. zu starken Irritationen, hat aber danach indirekt den interreligiösen Dialog belebt. Ich bin als katholischer Bischof öfter als Redner und Gesprächspartner eingeladen und immer mit größtem Respekt behandelt worden. Die Medien bringen auch Meldungen zu christlichen Themen.
Frage: Welche Chancen hat der von Papst Franziskus angestoßene interreligiöse Dialog realistischerweise?
Hinder: Interreligiöser Dialog ist ähnlich wie der ökumenische Dialog unter Christen großen Schwankungen unterworfen. In den Jahren meines Wirkens in Arabien habe ich aber erlebt, dass es echtes Bemühen gibt, aufeinander zuzugehen. Das begann schon vor Franziskus, hat aber mit ihm eine neue Dynamik erhalten. Sein unkompliziertes Zugehen auf andere und seine Besuche in muslimisch geprägten Ländern, nicht zuletzt sein Besuch in Abu Dhabi 2019, waren wichtige Schritte in diese Richtung. Das dort unterzeichnete Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen (Human Fraternity) ist sicher ein Markstein auf diesem Weg.
Frage: Der Islam in den Golfstaaten ist sehr konservativ, zugleich streben sie nach einer Öffnung. Wie erleben Sie das Nebeneinander von Scharia und westlicher Lebensweise?
Hinder: Diese Frage treibt alle islamischen Gesellschaften um, ist aber in den Golfstaaten besonders virulent. Hier sind Menschen binnen 50 Jahren aus der Beduinen- und Perlfischer-Existenz ins elektronische Zeitalter katapultiert worden. Wo früher Zelte und einfache Bauten standen, ragt heute ein Wald von Wolkenkratzern auf, samt dem höchsten Gebäude der Welt in Dubai. Der Import von westlichem Lebensstil und die partielle Angleichung an ihn führt gerade bei jungen Menschen zu Identitätsproblemen und bei den älteren manchmal zu Vorbehalten und Nostalgie.
Frage: Sehen Sie Reformansätze im Islam?
Hinder: Die Konfrontation mit anderen Kulturen und Religionen fördert einen Prozess der Selbstvergewisserung samt Ansätzen zu Reformen. Sie müssen, sollen sie nachhaltig sein, innerhalb des Islam wachsen, auch wenn sie indirekt von außen angestoßen werden. Die manchmal noch zaghaften Reformen im Rechtswesen der Staaten gehen eindeutig in Richtung Modernisierung. Das bedeutet aber nicht, dass der Prozess exklusiv in die Richtung der europäisch verstandenen Aufklärung geht.
Frage: Wie hat man sich christliches Gemeindeleben in Arabien ganz praktisch vorzustellen?
Hinder: Alle unsere Gemeinden sind im Grunde genommen Großpfarreien, die sich teils über hunderte Kilometer erstrecken. Die im Vergleich zur wirklichen Anzahl der Gläubigen wenigen Kirchen sind Orte, wo die Sakramente gefeiert, die Katechesen abgehalten und Feste begangen werden. In diesen Zentren stehen Priester für individuelle Seelsorge zur Verfügung und kümmert sich eine große Zahl von Frauen und Männern um die verschiedenen Aktivitäten: Katechese, Gebetsgruppen, Vereine, Wirken in der Peripherie wie Unterstützung der ausländischen Arbeitskräfte.
Die Schwierigkeiten liegen oft im Mangel an qualifizierten Personen für die Individualbetreuung von Gläubigen mit Problemen. Viele leben getrennt von ihren Angehörigen und leiden unter der Abwesenheit der Familie. Dies führt häufig zu Ersatzbefriedigungen aller Art und zum Scheitern nicht weniger Ehen. Das Wirken der Familienpastoral und verschiedener Bewegungen, die sich besonders der Ehen und Familien annehmen, ist oft nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Frage: Mit welchen Alltagsproblemen haben die christlichen Gastarbeiter noch zu kämpfen?
Hinder: Alle Gastarbeiter, nicht nur die christlichen, erleben die Fremdbestimmtheit ihrer Lebens- und Arbeitsweise. Sechs Tage pro Woche, manchmal auch sieben, bringt der Bus sie morgens zum Bauplatz, Einkaufszentrum oder einem anderen Arbeitsplatz. Die Löhne sind oft nicht angemessen. Im Sommer liegen die Temperaturen im Freien zwischen 40 und 50 Grad. Am Abend werden die Menschen in ihre Wohnstätten zurückgefahren, wo sie müde den Abend verbringen und schließlich schlafen. Die Gesetzgebung zum Schutz der Arbeitskräfte hat in den vergangenen 20 Jahren große Fortschritte gemacht. Oft fehlt aber die nötige Kontrolle, ob die gesetzlichen Vorgaben auch eingehalten werden.
Frage: Im Jemen findet eine humanitäre Katastrophe statt, bei der Muslime gegen Muslime kämpfen. Sehen Sie derzeit eine realistische Möglichkeit für einen Frieden?
Hinder: Konflikte im Jemen sind nicht neu, haben aber in den letzten sieben Jahren zu besonders katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung geführt: interne Fluchtbewegungen, kriegerische Gewalt mit ihren Exzessen, Hunger und Krankheiten. Das Land kann im Moment die Krise nicht allein bewältigen. Hilfe von außen sollte aber nicht in erster Linie in Waffenlieferungen bestehen, sondern in humanitären Hilfsmaßnahmen und der geduldigen Zusammenführung der Kontrahenten in friedensfördernden Verhandlungen. Die arabische Kultur kennt aus der eigenen Tradition Mechanismen, wie Konflikte auf Sparflamme reduziert und oft auch gelöst werden können. Ich denke, dass diese Instrumente des Aushandelns unter den Stämmen im Westen oft unterschätzt werden.
Frage: Wie beurteilen Sie die kommende Fußball-WM in Katar? Eine reine Show-Veranstaltung oder kann daraus ein Impuls für mehr Toleranz und Weltoffenheit auf der Arabischen Halbinsel werden?
Hinder: Fußball-WMs sind immer und überall eine Show-Veranstaltung - nicht nur in Katar. Wir wissen, dass die Vergabe nicht lupenrein über die Bühne ging, was allerdings auch für frühere WMs gilt. Die Problematik der Ausnützung von Arbeitskräften ist bekannt, allerdings keine Besonderheit Katars. Ob und inwieweit eine solche Veranstaltung zu mehr Toleranz und Weltoffenheit beiträgt, bleibt abzuwarten. Ich würde den Nutzen nicht überschätzen, haben doch solche Events auch in Russland, Brasilien und anderswo nur beschränkte Nachhaltigkeit entwickelt. Die WM wird jedoch dem Selbstbewusstsein Katars und anderer arabischen Staaten neuen Schub verleihen.
Frage: Wie beurteilen Sie die zunehmende Präsenz des Islam in Europa? Haben Sie gewisses Verständnis für die Ängste der Menschen vor dem geburtenstarken Islam?
Hinder: Von außen besehen kann ich für die Ängste vieler Menschen Verständnis aufbringen. Ob die Prognosen der Pessimisten eintreffen, kann allerdings niemand sagen. Aus der jüngsten Geschichte wissen wir, wie rasch und unvorhergesehen sich die Bedingungen und damit auch die Migrationsströme verändern können. Das gilt auch in Bezug auf die Geburtenrate. Ob die Christen in Deutschland dauerhaft zu einer Minderheit werden, hängt doch wohl nicht primär mit der Zunahme der Muslime, sondern mit der Abnahme der Zahl der Christen und ihrer Kirchenzugehörigkeit zusammen. Unseren Glaubwürdigkeitsverlust können wir gewiss nicht den Muslimen und ihrer realen oder fiktiven hohen Geburtenrate zuschieben. Wir müssen vielmehr uns selbst die Gretchenfrage stellen: "Nun sag', wie hast du's mit der Religion?"