Zwischen Himmel und Hölle
Doch jetzt sitzt Schick im Cafe der Kunsthalle und nippt entspannt an ihrem Kaffee. Paul Klees Engel sind für sie jetzt wie Kinder - adoptiert zwar, aber geliebt wie die eigenen. "Ich freue mich darauf, endlich die Originale erleben zu können", sagt die studierte Kunstgeschichtlerin. Ihre Augen leuchten, während sie durch den Katalog zur Ausstellung blättert und bei einem besonders farbenprächtigen Flügelwesen stoppt. "Engel, noch tastend" von 1939. Blondes Haar, rote Lippen, blaues Gewand. Pechschwarzer Rauch umhüllt die Gestalt, die mit ausgestreckten Armen voran durch das Dunkel stolpert. Den richtigen Weg sieht sie nicht, kann nur ahnen und hoffen.
"Als Mensch muss man sich nicht minderwertig fühlen, wenn man sich mit Klees Engeln befasst", fasst Schick die Anziehungskraft der geflügelten Gesellen zusammen. Den prunkvollen Putten, den der Welt entrückten Gotteswesen herkömmlicher Darstellungen stellte Klee eine neue Form des Engels gegenüber: ein Flügelwesen mit menschlichen Schwächen, mit einem Bein im Himmel stehend, mit dem anderen auf der Erde - oder in der Hölle.
Zarte, zerbrechliche Wesen
Jetzt sind Klees Engel in die Hamburger Kunsthalle gekommen, rund 80 Zeichnungen, Gemälde und Aquarelle. Klees Engel sind weit überwiegend zarte, zerbrechliche Wesen, erst recht solche, die mit wenigen schnellen Bleistiftstrichen oder Kleisterfarbe den Weg ins Leben fanden. "Zur Mühe der Restauratoren hat Klee oft nur auf einem dünnen Blatt Papier gearbeitet und mit den unterschiedlichsten Malmaterialien experimentiert", erklärt Schick.
Daran liegt es auch, dass sein bekanntester Engel, der "Angelus novus", nur als Faksimile zu sehen sein wird. Zu leichtsinnig wäre es gewesen, die fragile Ölpause-Zeichnung aus Israel zu verschiffen. Aber komplett fehlen durfte der "neue Engel" natürlich nicht. Schließlich diente er dem Philosophen Walter Benjamin einst als Muse, wurde im 20. Jahrhundert gar zu einer Ikone der Linken.
Engel im Angesicht des Todes
In Paul Klees umfassenden Gesamtwerk machen die Engelsmotive nur einen kleinen Teil aus - allerdings einen, der im Leben des 1879 in der Schweiz geborenen Malers immer wieder aufflackerte. Die meisten Engel, rund 60 an der Zahl, schuf Klee in seinen letzten Lebensjahren zwischen 1939 und 1940. Oft dauerte es nur wenige Minuten, bis ein neuer Engel fertig war. Klee habe gezeichnet, dass "die Blätter nur so herunter fielen", beschrieb Lily Klee den Schaffensprozess ihres Mannes einmal.
Zu jener Zeit war der Maler bereits unheilbar erkrankt - und spürte wohl schon, dass sein irdisches Dasein bald ein Ende finden sollte. Als Zeichen dafür, dass sich Klee im Angesicht des Todes mit der Amtskirche versöhnte, sind diese späten Werke aber nicht zu deuten: Wie seine frühen Engelsfiguren lassen auch sie einen feinen Spott erkennen, der sich gegen plakative Frömmigkeit und Gehorsamszwang der Institution Kirche richtet. Ein Protestant im Wortsinne war Klee also schon - freilich ganz anders, als es sich ein Luther gewünscht hätte.
Engel in ironischem Twist
Deutlich zutage tritt dieser Protest im Zusammenspiel zwischen Bild und Text. Erst nachdem eine gewisse Zeit verstrichen war, nahm sich Klee seine Zeichnungen ein zweites Mal vor, zog eine Linie darunter und grübelte über einen passenden Titel. "Wer beim 'vergesslichen Engel' von 1939 nur auf die bildliche Darstellung achtet, sieht ein verinnerlichtes, vielleicht ins Gebet vertieftes Wesen", so Schick. "Erst durch den Titel wird der Eindruck der Spiritualität verdreht, erhält diesen ironischen Twist."
Für diesen feinsinnigen Humor schätzt die Kuratorin Paul Klee. "Wissen Sie, was er auf der Rückseite eines seiner handgeschriebenen Werkkataloge notiert hat?" fragt Karin Schick zum Abschied, die leeren Kaffeetassen zusammenräumend. "'Dort [bei den Engeln] ist alles wie bei uns, nur englisch.' Großartig, oder?"
Von Jens Wiesner