Nach dem Katholikentag: Zeitansage für eine krisenhafte Kirche
Am Ende hat das Wetter einen durchwachsenen Katholikentag gerettet: Strahlende Sonne am Samstag zog doch noch so viele Tagesgäste nach Stuttgart, dass erstmals das Kirchentagsgefühl zu spüren war – jedenfalls am Schlossplatz, dem zentralen Ort in der Stadt. Absorbierte zuvor die Königsstraße ("Platz drei der meistfrequentierten Einkaufsstraßen Deutschlands", erfährt man in der Landeshauptstadt von den Einheimischen so stolz wie ungefragt) die Teilnehmer mit Katholikentags-Bändeln und -Schals, war am vorletzten Tag das Verhältnis umgekehrt; wie beim Rekord-Katholikentag in Münster fühlte es sich an, durch die Massen zu laufen.
Münster, der letzte Katholikentag vor der Pandemie, profitierte von einer verhältnismäßig kleinen Stadt mit verhältnismäßig stabilem Milieu. Fast 100.000 Gäste zog der 101. Katholikentag an. Nummer 102, der erste Katholiken- und Kirchentag in Präsenz seit der Pandemie, musste sich die Zahlen dagegen schönrechnen. Bei der Auftaktpressekonferenz am Mittwoch wurden die Erwartungen schon mit der Ansage eingenordet, dass das "Gelingenskriterium" 20.000 Gäste gewesen seien, eine Zahl, die mit zu Beginn 25.000 Eintrittskarten deutlich überschritten wurde. Trotz allem Erwartungsmanagement: Je genauer die Zahlen in den Blick genommen wurden, desto kleiner wurden sie: 19.000 Dauergäste, 7.000 Mitwirkende schon eingerechnet. Der Katholikentag war etwas kleiner, dafür war man unter sich.
Erklärungsversuche, dass es an der Pandemie lag, überzeugten nur zum Teil: Dass die Bereitschaft, Fremde in Privatquartieren unterzubringen, im vergangenen Jahr noch klein war, dürfte klar sein. Aber andere Großveranstaltungen sind voll. An den Ständen der Kirchenmeile erahnte man den wahren Grund: Wie Mehltau liegt die Kirchenkrise über dem engagierten Laienkatholizismus. Bei aller Hoffnung auf den Synodalen Weg folgt doch Schlag um Schlag in die Magengrube: das Münchener Missbrauchsgutachten, die Woelki-Krise in Köln, ganz aktuell der Rück- und Austritt des Speyerer Generalvikars Andreas Sturm und Vorwürfe an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) Georg Bätzing aufgrund einer Beförderung eines gegenüber einer Mitarbeiterin übergriffigen Priesters.
Keine singenden Jugendgruppen in den Straßenbahnen
Die sonst üblichen Gruppen aus Pfarreien und Jugendverbänden, die breite Basis, die in Verbänden und Gemeinden engagiert ist, ohne mit Ehrenämtern auf Diözesan- und Bundesebene zum inneren Kreis des politischen Katholizismus zu gehören, waren im Stadtbild nicht zu erkennen. Gut 20 Jugendliche konnte etwa ein Jugendreferent aus dem Erzbistum Freiburg für die Fahrt nach Stuttgart gewinnen – aus einem Gebiet vom Kraichgau im Norden bis in die Ortenau im Süden, einem Gebiet größer als das Saarland.
Die Organisatoren betonten die gesellschaftliche Relevanz der Katholikentage: Im Kampf gegen Populismus und für Frieden, in der Solidarität mit der Ukraine und für weltweite Gerechtigkeit. Das ist der Anspruch, mit dem der Katholikentag als Bewegung des politischen Katholizismus auftritt, ein Anspruch, der schon quantitativ fragwürdig wird angesichts der gegenwärtigen Mobilisierungsfähigkeit. Aber auch ein Anspruch, der qualitativ fragwürdig wird: Die Bischöfe wie Laien sagen, dass sie etwas zu sagen haben, dass sie die Gesellschaft mit ihren Werten und ihrem Engagement prägen können und wollen. Aber wer will ihnen angesichts des Zustands ihrer Kirche zuhören?
Ins Wort gebracht hat das bei der Auftaktveranstaltung Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Als ehemaliger designierter Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags (seine Wahl zum Staatsoberhaupt kam dazwischen) ist er der Bewegung verbunden. In seiner Rede formulierte er aber trotz aller Wertschätzung und Diplomatie deutlich, wie prekär es um den Anspruch auf gesellschaftliche und politische Relevanz der Katholiken steht. Die wohlfeile Illusion, der Katholikentag sei wegen Corona so klein, ließ er platzen: Den Eindruck, dass die Kirchen während der Pandemie trotz allem Engagement zu leise gewesen seien, könne man nicht auf die Infektionslage allein zurückführen: "Entscheidender ist, glaube ich, dass Missbrauch und Vertuschung und deren schleppende Aufklärung viel Vertrauen beschädigt und bei manchen zerstört haben. Und zugleich auch viel Selbstvertrauen – ganz viel Selbstvertrauen der Kirchen. Viele haben sich abgewendet, viele aus Enttäuschung", diagnostizierte der Protestant an der Spitze des Staates. Steinmeier setzt Hoffnung in den Synodalen Weg, der zwar zunächst ein innerkirchlicher Prozess sei – aber in den Augen des Bundespräsidenten zugleich die letzte Chance der Kirche darauf, die Überzeugung von der eigenen Relevanz mit der Abfrage dieser Relevanz in Politik und Gesellschaft in Deckung zu bringen: Es werde "auch von den Ergebnissen dort abhängen, welche Rolle die Kirche und die Christen in Zukunft in unserer Gesellschaft spielen. Ob es sich lohnt, wieder neu auf sie zu hören, oder ob manche, die enttäuscht sind, enttäuscht bleiben" – vom obersten Repräsentanten des Staates so viel Rat wie Drohung.
Weiter-so in die Bedeutungslosigkeit
Der Schock, die schöngeredeten Zahlen schonungslos in halb- bis ganzleeren Veranstaltungshallen und spärlichem Besuch auf der Kirchenmeile vor Augen geführt zu bekommen, schien bei den Verantwortlichen langsam zu einem Reflexionsprozess zu führen. Natürlich wurden bei der Abschluss-Pressekonferenz eine positive Bilanz gezogen. Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) Irme Stetter-Karp bezeichnete die Veranstaltung als ein "Herantasten an die Wiederbegegnung", als "Befreiungsgefühl nach langer Zeit des beeinträchtigten Lebens" – aber auch als "Spiegel des Ist-Zustands der Gesellschaft, der Kirche und der katholischen Zivilgesellschaft". Stolz verwies sie auf die "Zeitansage" wie die Friedenskundgebung im Schlossgarten, in dem die Laien ihre Solidarität mit der Ukraine versicherten. Wie viele der großen Veranstaltungen schien der Platz der Kundgebung kurz vor Beginn gefährlich leer, und wie bei den meisten füllte sich der Platz dann gerade doch noch so, dass man Peinlichkeiten umschiffen konnte.
Das Bewusstsein, dass ein Weiter-so für die Katholikentage der Weg in die Bedeutungslosigkeit bedeuten würde, machte besonders der ZdK-Generalsekretär Marc Frings deutlich. Der 40-jährige ist seit gut zwei Jahren im Amt und stammt selbst nicht aus dem Verbändemilieu, das das ZdK prägt. Abweichend vom veröffentlichten Manuskript seines Abschlussstatements sagte er am deutlichsten, dass aus Stuttgart zu lernen sei und manche seit Jahrzehnten überkommene Tradition auf den Prüfstand müsse – inklusive der strengen Trennung zwischen Katholikentag und Evangelischem Kirchentag.
Zahlen von Veranstaltungen wie Gespräche mit Teilnehmern und Mitwirkenden ließen eine gewisse Kluft zwischen Katholikentag "von oben" und "von unten" offenbar werden: Katholikentag "von oben" das heißt große Podien zu großen Themen mit großen Namen und dem Anspruch auf Weltdeutung. Konterkariert wurde dieser Anspruch nicht nur durch die vor Samstag nur sehr mäßige Füllung der großen Hallen, sondern auch durch die Abwesenheit von Politprominenz: Der Kanzler erschien pflichtschuldig, aber nur kurz, CDU-Spitzenpolitiker vermisste man trotz vieler Anfragen ganz. Katholikentag "von unten" heißt Spiritualität und Praxis. Gerade aus dem Familien- und Regenbogenzentrum hörte man von Organisatoren wie von Teilnehmenden begeisterte Berichte: Werkstätten zu Themen wie Paarkommunikation waren gut besucht und teils sogar – wie zu besten Zeiten – überfüllt, die Taizé-Gebetsnacht wieder ein Erfolg, Neues Geistliches Liedgut und Kirchenkabarett zogen Massen an: Schon ästhetisch zeigt sich an diesen Beobachtungen die Kluft zwischen dem intellektuell-politischen Katholikentag "von oben" und dem Geschmack und den Bedürfnissen der breiten Mitte der Basis.
Impulse für einen erneuerten Katholikentag
Das Format der großen Podien funktionierte erst am Samstag wieder, als eine kritische Masse an Menschen mit Tageskarten da waren. Stattdessen entwickelte sich das Format des Generalsekretärs zu einem Geheimtipp. Unter dem Titel "Frings fragt" bot er jeden Abend eine lockere Talkrunde mit Prominenten wie der Bundestagspräsidenten Bärbel Bas, der Kulturstaatsministerin Claudia Roth oder der Schriftstellerin Nora Bossong an. Die kurzweilig moderierten Runden kamen an – ohne den typischen zwischen Volkspädagogik und staatstragend changierenden Ansatz der "Großen Podien" mit ihren leicht zu parodierenden Titeln. Überschriften wie "Zwischen political correctness und cancel culture. Wie steht es um die Debattenkultur in unserer Gesellschaft?" oder "Mensch, Gesellschaft und Künstliche Intelligenz. Gegenwartsanalyse und Zukunftsperspektiven" vermittelt Anspruch, aber wenig Lust – ganz unabhängig davon, wie gut die Runden inhaltlich gestaltet sind.
Die ersten Tage mit übersichtlicher Beteiligung können, klug genutzt, weitere Impulse für die Weiterentwicklung der kommenden Katholikentage geben. Erratisch über die ganze Stadt verteilte Stände funktionieren, wenn die Stadt ohnehin vor Menschen überläuft. Nicht nur bei kleineren Zahlen braucht es quasi stadtplanerische Konzepte, die verhindern, dass Filetgrundstücke mit viel Außenwirkung wie die Königsstraße an irrelevante Auftritte wie Zelte kirchlicher Versicherungen und auf Gemeinden spezialisierte Softwareanbieter verschwendet werden, sondern dort Akzente gesetzt werden, die in die Gesellschaft hineinwirken: die Caritas, Kampagnen der katholischen Sozialverbände, geistliche Aufbrüche aus Orden und Gemeinschaften, Dialog- und Informationsangebote zu den Themen, die kritisch an die Kirche herangetragen werden. Warum die – oft besonders liebevoll und mit großer geistlichen Tiefe gestaltete – Stände der Orden und das gemeinsam gestaltete "Ökumenische Kloster" als Ordenszentrum nicht beieinander stehen, ist unverständlich und hat doch Methode: Ein Gleiches gilt für Jugendzentrum hier und Jugendverbände dort auf der Kirchenmeile, für das Zentrum der Arbeitsgemeinschaft der christlichen Kirchen hier und die Stände der nicht-römisch-katholischen Kirchen dort.
Immer wieder war bei den Jugendverbänden Unmut zu hören, dass die Anreise von Jugendgruppen nicht gut genug unterstützt wurde – der Gastgeber des nächsten Katholikentags, Bischof Ulrich Neymeyr von Erfurt, einst langjähriges Mitglied der DBK-Jugendkommission, hat schon zugesagt, sich dem anzunehmen. Schließlich wird es darum gehen, die Vision einer "Zeitansage" mit den viel praktischeren und pragmatischeren Bedürfnissen der Basis nach Vergemeinschaftung in fordernden Krisenzeiten in Verbindung zu bringen. Sowohl die neugewählte ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp wie ihr Generalsekretär Marc Frings scheinen in diese Richtung zu zielen; beide haben in ihren vielen Interviews, Statements und Reden während des Katholikentags den Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz mit kritischer Reflexion des eigenen Plausibilitätsverlusts ausgedrückt, Frings mit Blick auf die nötigen Reformen des Formats Katholikentags deutlicher als Stetter-Karp. Für die Präsidentin ist die Premiere trotz der Zahlen gelungen: Auf ihrem ersten Katholikentag konnte die vor ihrer Wahl kaum bekannte Schwäbin – Stuttgart war für sie ein Heimspiel – mit so prägnanten wie klugen Ansagen ihr Profil als sozialpolitische Stimme wie innerkirchliche Mahnerin nach Reformen stärken; die oft allzu große Nähe zu den Bischöfen, wie sie noch ihr Vorgänger gezeigt hat, scheint vorbei, auch wenn sie hinsichtlich DBK-Chef Bätzing sichtlich Zurückhaltung geübt hat trotz der Vorwürfe gegen ihn – Realpolitik auf dem Synodalen Weg.
Froh inmitten multipler Krisen
Mit Blick auf eine Reform des Katholikentags muss sich die neue ZdK-Führung noch bewähren: Die Veranstaltung mit ihrer Organisation ist auch ein schwerfälliger Tanker mit einer Verwaltung aus Menschen, die teils seit Jahrzehnten immer dieselbe Veranstaltung in immer einer anderen Stadt planen, und solchen, die vielleicht ein, zwei Katholikentage mitgestalten und dann weiterziehen. Diesen Apparat zum Umsteuern und möglicherweise zu einer engeren Kooperation mit dem Evangelischen Kirchentag, einem ganz eigenen, ganz anderen Tanker, zu führen, ist eine große organisatorische Herausforderung in der atemlosen Planung, die schon für diese Woche den Beginn der Organisation von Erfurt 2024 vorsieht.
"Inmitten der multiplen Krisen haben sich in Stuttgart viele Katholik*innen getroffen, die endlich mal wieder einen Grund hatten, froh zu sein!", lautete ein Fazit von Frings. Ob man mit den anwesenden "vielen" am Ende wirklich zufrieden sein kann – 27.000 war die letzte ausgegebene Zahl –, darf bezweifelt werden. Nach dem Mehltau der ersten Tag war am Samstag und beim Abschlussgottesdienst aber tatsächlich eine gelöste Stimmung zu spüren, Dankbarkeit für ein kirchliches Klima, in dem in der Messe unter Vorsitz eines Bischofs bei den Fürbitten Missbrauch und Diskriminierung von queeren Menschen offen angesprochen werden konnten, bei der im Dialog gepredigt wurde – und tatsächlich das von Stetter-Karp angeführte Befreiungsgefühl nach langer Zeit des beeinträchtigten Lebens. Insofern war der Katholikentag tatsächlich kirchliche Zeitansage: prekär, in der Krise, mit erheblichem Reformbedarf – und nicht mehr viel Zeit. Erfurt 2024 muss gelingen – für 2026 fehlt bislang noch ein gastgebendes Bistum. Und angesichts der ohnehin immer kleiner werdenden Schnittmenge aus Bischöfen, die einen Katholikentag finanziell stemmen können und ideell stemmen wollen, braucht es Gründe, diese Investition in die katholische Zivilgesellschaft zu wagen und die beachtlichen Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln zu rechtfertigen – Gründe, die eine glückliche Fügung beim Wetter am Samstag übersteigen.