Himmelklar – Der katholische Podcast

Publizistin über Ukraine-Reise: Ausmaß der Gewalt ist unvorstellbar

Veröffentlicht am 08.06.2022 um 00:30 Uhr – Lesedauer: 

Köln ‐ Zehn Tage war die Juristin und Publizistin Liane Bednarz in der Ukraine unterwegs und hat das Ausmaß der Kriegszerstörung mit eigenen Augen gesehen. Im Interview berichtet sie über ihre Eindrücke.

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Bombenalarm und Luftschutzbunker kennen viele nur noch aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. In der Ukraine ist das allerdings wieder topaktuell. Die Publizistin Liane Bednarz war eine gute Woche dort unterwegs, und ist schockiert von dem, was sich in den Städten Irpin und Butscha abgespielt hat.

Frage: Sie sind zehn Tage durch die Ukraine gereist, mitten in Kriegszeiten. Hat man da Angst?

Bednarz: Ja und nein. Ich habe schon vor der Abreise immer wieder Momente gehabt, in denen ich dachte: Bist du wahnsinnig? Das ging dann aber auch wieder vorüber. Unsere Reiseroute führte von Lemberg – ukrainisch Lwiw – mit einem Abstecher in die Karpaten nach Kiew und wieder zurück nach Lwiw. Wirklich sicher sind diese zwar auch nicht – das ist kein Ort in der Ukraine –, aber dort finden im Moment keine Kämpfe statt. Kiew hat ein sehr gutes Flugabwehr-System, das die Innenstadt schützt. Allerdings sind dennoch Sonntag früh Raketen in einem anderen Stadtteil eingeschlagen. Bei Lemberg ist das ein bisschen schwieriger. Ganz in der Nähe der Stadt gab es tatsächlich genau einen Tag, bevor wir wieder dorthin aus Kiew zurückgefahren sind, einen Raketeneinschlag. Eigentlich wird meistens irgendein Anschlag auf irgendein Ziel in der Nähe von Lwiw vorgenommen, sobald der Westen neue Waffenlieferungen größerer Art ankündigt. So hatten jetzt die USA eine weitere große Waffenlieferung in Aussicht gestellt. Prompt schlug eine Rakete am letzten Mittwochabend ein, ungefähr zehn Kilometer westlich von Lwiw, auf eine der Eisenbahnlinien.

Dass Putin den Maidan in Kiew bombardieren wird, glaube ich eher nicht, weil er dort irgendwann seine Siegesparade abhalten will. Aber ob er nicht vielleicht doch versucht, in der Innenstadt von Lwiw irgendwas zu zerstören? Das halte ich nicht für fernliegend.

Frage: Wie haben Sie die Einschlagsgefahr in Lwiw erlebt?

Bednarz: Wir kamen Montag vor zwei Wochen spät abends im Hotel an und am Folgetag gegen Mittag ging das erste Mal die Sirene an. Das Hotel hat aber einen Schutzraum. Dann geht man also in den Schutzraum; das ist schon ein sehr komisches Gefühl. Beim ersten Mal habe ich mir eingebildet, ich könnte meine Angst verdrängen. Mir wurde aber später gesagt, meine Hände hätten ziemlich gezittert.

Aber bei den anderen Malen war ich innerlich sodann relativ ruhig. Der Mensch ist erstaunlich resilient und gewöhnt sich selbst daran. Und die Ukrainer gehen sowieso relativ gelassen damit um.

Frage: Luftalarm und Luftschutzbunker sind ja eine Erfahrung, die wir eher mit unseren Großeltern verbinden. Das ist ja etwas, wo wir überhaupt gar keine Berührungspunkte mit hatten in den letzten Jahrzehnten. Aber man gewöhnt sich relativ schnell daran?

Bednarz: Ja, genau. Man versucht, pragmatisch damit umzugehen. Es ging mir übrigens wie Ihnen: Ich dachte "Luftalarm", was für ein Wort, das kenne ich ja auch nur aus Erzählungen damals von älteren Mitgliedern meiner Familie.

In den umkämpften Gebieten ist der Luftalarm ein Frühwarnsystem, damit die Leute wissen, es passiert etwas. Wir haben zum Beispiel während der Zeit, als wir in Lwiw waren, Leute aus Charkiw kennengelernt – diese Universitätsstadt in der Ostukraine, die zeitweise befreit war, jetzt aber doch wieder durch Artillerie beschossen wird. Da hat natürlich der Luftalarm eine ganz andere Bedeutung. Dort dient er dazu, die Leute wissen zu lassen, dass sie nun wirklich schnell in den Keller gehen müssen, weil jetzt etwas passiert. In den anderen Gebieten ist es eher eine Vorsichtsmaßnahme. Es könnte etwas passieren. Also ist insofern die Angst dort etwas weniger ausgeprägt.

Die evangelische Publizistin und Juristin Liane Bednarz
Bild: ©Privat

Die evangelische Publizistin und Juristin Liane Bednarz hat zehn Tage lang die Ukraine bereist.

Frage: Wie sieht es in Kiew aus?

Bednarz: In Kiew gibt es wie gesagt ein Flugabwehr-System über der Innenstadt, das als sehr sicher gilt, so dass der Luftalarm im Grunde ignoriert wird. Die Leute sind weiter auf der Straße und dann wird irgendwann Entwarnung gegeben. Das war ganz interessant zu sehen in dieser Zeit. Auch die Ukrainer sagten mir, dass in Kiew eigentlich so gut wie jeder den Luftalarm ignoriert.

In Lwiw war das ganz anders. Die Stadt und die Ukrainer haben wirklich eine unglaubliche Resilienz. Die Restaurants, die Außenbereiche sind voll. Es gibt einen wunderschönen Park direkt vor der Oper. Dort flanieren die Leute. Und es sitzen gerade am Spätnachmittag und früh abends fast wie in Italien oder Frankreich Grüppchen von älteren Männern auf Bänken und spielen Schach und/oder Mühle. Man sieht Jugendliche Skateboard fahren, da pulsiert wirklich das Leben.

Wenn man nicht wüsste, dass Krieg ist und man nicht ab und an Soldaten patrouillieren sehen würde, könnte man denken, Lwiw sei eine ganz normale, schöne und lebendige Stadt. Aber sobald die Sirene angeht, ist innerhalb von ganz kurzer Zeit die Stadt leer. Das sieht man, die Leute gehen sofort in die Schutzräume. Die Häuser sind hier unterkellert, also selbst wenn man flaniert oder einkaufen geht, findet man schnell einen Schutzraum. Im Zweifel geht man einfach Leuten nach, die gerade in einen Keller hinuntergehen.

Die Menschen versuchen, pragmatisch mit dem Alarm umzugehen. Es gibt eine Warn-App; die man auf den Oblast, also die Region und den konkreten Bezirk, in dem man gerade ist, einstellt. Meistens geht die App sogar ein paar Sekunden vor der lauten Sirene draußen an.

Für die Ukrainer ist der Luftalarm im Grunde jetzt in Lwiw Routine, allerdings dann wiederum auch nicht ganz. Man sieht schon, wenn die Sirene angeht, dass gerade Kinder sich erschrecken. Und der Alarm terrorisiert natürlich. Er ist ja trotzdem etwas, was den Tagesablauf unterbricht. Man wird, wie gesagt, pragmatisch. Ich habe irgendwann daran gedacht, das Ladekabel für das Smartphone mit hinunter zu nehmen in den Keller. Dort waren Steckdosen. Falls man wieder zwei Stunden dort sitzt, ist der Akku möglicherweise leer. Irgendwann habe ich sogar angefangen, meinen Laptop mit herunter zu nehmen oder ein Buch. Meistens spricht man dann aber doch eher mit den anderen Leuten dort unten.  In jedem Fall unterbricht der Alarm den regulären Tagesablauf.

Was besonders perfide ist: Der Luftalarm schlägt oft gegen 5:00 Uhr morgens an. Wenn Sie um 5:00 Uhr morgens in den Schutzraum müssen und dann anderthalb Stunden dort sitzen, dann ist es danach halb sieben bis sieben, und dann kann man sich auch nicht mehr hinlegen. Dann hat man einen übermüdeten, geräderten Tag vor sich. Das war für mich nicht so schlimm, aber für die Leute, die dort regulär arbeiten müssen, ist es natürlich nicht schön.

Frage: Sind das denn normale Kelleranlagen? Also wo kommen die Schutzräume her? Das ist ja eine Diskussion, die bei uns in Deutschland jetzt auch geführt wird. In Israel sind es ja teilweise stärker ausgebaute Bushaltestellen.

Bednarz: Es kommt darauf an. Das erste Hotel, in dem ich in Kiew war, hatte keinen Schutzraum. Da hat man mir gesagt, ich müsste im Prinzip zur nächsten U-Bahnstation laufen. Da gab es dann tatsächlich Luftalarm in der ersten Nacht früh morgens und dann bin ich einfach im Zimmer geblieben, weil ja alle sagten: In Kiew ist es sicher. Ich habe aber ein bisschen Angst gehabt, erstmalig nicht im Schutzraum zu sein.

In Lwiw war das anders: In unserem Hotel wurde einfach der Spa-Bereich genutzt. Da waren dann Stühle. Bei meinem Apartment-Hotel in Kiew war es der ganz normale Keller, wo etwa Matratzen lagerten. Der wurde als Schutzraum genutzt. Oder ich war einmal in Lwiw in einem Restaurant, da wurde dann auch gesagt, man solle die Treppe heruntergehen. Ich bin dann aber schnell noch gegenüber ins Hotel gelaufen. Alles, was sich eignet, wird also als Bunker genutzt.

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Frage: Sie haben aber auch die Städte Butscha und Irpin in der Nähe von Kiew besucht, die zum Symbol für die Grausamkeit und Zerstörung in der Ukraine geworden sind. Was sieht und erlebt man da?

Bednarz: Wir sind von Kiew aus über Hostomel gefahren, wo auch der Flughafen liegt. Wenn man dort durchfährt, sieht man schon die zerstörten Häuser. Man sieht, dass obere Teile von Gebäuden fehlen oder man sieht Supermärkte, die weg sind. Man sieht auch Tankstellen, von denen nichts mehr übrig ist. Wir sind auch diese Straße lang gefahren, auf der diese russische Panzerkolonne stand, die dann von den Ukrainern zerschossen wurde, sodass sie nicht weiterkamen.

Dann sind wir nach Irpin gefahren und haben mehrfach angehalten, sind ausgestiegen. Annalena Baerbock hat über Butscha gesagt, das sei wie Potsdam. Das gilt für Irpin eigentlich fast noch mehr. Irpin ist ein gehobener Vorort. Das ist so, als würden jetzt in irgendeinem netten Vorort einer ganz normalen deutschen Großstadt plötzlich Panzer fahren. Es gibt dort eine staatliche Universität für das Steuerwesen – ein sehr elegantes Gebäude. Das ist komplett zerstört. Da steht nur noch die Fassade und der Gebäuderumpf, aber die Fenster sind zerplatzt. Es ist alles schwarz und verkohlt.

Neben dieser Universität stehen ganz normale Einfamilienhäuser. Häuser, in die Leute wohl ihre Ersparnisse steckten und sich alles nett gemacht hatten mit Vorgärten. Das sind nun Ruinen, die man abreißen muss.

Wenn man dann weiter fährt, sieht man auch, wie wahllos zum Teil einfach losgeballert wurde. Einfamilienhäuser sind ja keine strategischen Ziele gewesen. Schon wenn man nach Irpin hineinfährt, ist links ein großer Parkplatz. Da haben die Ukrainer die zerschossenen oder auch zerbombten Autos hingestellt. Man sieht praktisch nur noch die Karosserie, weil sie zerbombt wurden. Andere Autos wurden mit Maschinengewehren angegriffen. Da sehen Sie die ganzen Löcher, da sehen Sie das zerbeulte Blech. Und das Schlimme ist: Da waren natürlich Menschen drin. Es ist entsetzlich, sich vorzustellen, dass da einfach ganz normale Leute in ihren Vororten gerade im Auto unterwegs waren, und dann kommt plötzlich ein Panzer und schießt wie wahnsinnig los. Oder aber die Soldaten, die mit ihren Maschinengewehren auf dem Panzer sitzen. Es ist unvorstellbar und es geht mir immer noch so, dass ich das eigentlich kaum fassen kann.

Himmelklar: Wie gehen den die Menschen damit um?

Bednarz: Die Ukrainer sind extrem tapfer. Ich habe Bilder gesehen vom Zustand der beiden Vororte vor vier Wochen. Die Menschen räumen auf. Auf den Straßen liegt jetzt nichts mehr herum. Es sind auch schon wieder kleine Geschäfte geöffnet, ein Imbiss zum Beispiel, direkt neben diesen zerstörten Häusern. Das hat mich besonders berührt: In einem dieser wirklich nicht mehr bewohnbaren Einfamilienhäuser haben Ukrainer ganz demonstrativ die ukrainische Flagge und Blumenkübel mit frischen Blumen aufgehängt. Also das ist bemerkenswert, wenn man auch diese deutschen Debatten verfolgt. Ich habe keinen einzigen Ukrainer getroffen, selbst auf Nachfrage, der sagte: "Hoffentlich gewinnen wir" oder "ich habe Sorge, wir könnten verlieren". Man hört immer nur: "Wir werden gewinnen!"

Von Renardo Schlegelmilch