Münsteraner Missbrauchsstudie: Bischöfe und Laien im Schweigekartell
Fast hat man sich daran gewöhnt, dass Studie um Studie untermauert, was schon aus anderen Bistümern bekannt ist, und dass neue Tiefenbohrungen in den Akten und Archiven ans Licht bringen, dass das Ausmaß noch schlimmer ist als zuvor bekannt. In dieses Bild fügt sich auch die Münsteraner Studie ein, die 610 Betroffene und 196 beschuldigte Kleriker ausmacht. Daraus ergibt sich zwischen 1945 und 2020 ein Beschuldigtenanteil unter den Priestern von 4 bis 4,5 Prozent. Im Dunkelfeld rechnen die Forscher mit einer acht- bis zehnfachen Zahl an Taten, als sie im Hellfeld ausmachen konnten. Alle Diözesanbischöfe von Kardinal Clemens August von Galen an haben Fehler gemacht – erst in der Amtszeit des amtierenden Bischofs Felix Genn drehte sich der Wind.
Die Münsteraner Studie geht anders vor als die zuletzt prominenten Gutachten aus Köln und München, die auf eine Aufarbeitung mit den Mitteln der Rechtswissenschaft durch Anwaltskanzleien gesetzt hatten. In Münster wurde der Auftrag für die Studie an das Historische Seminar der Universität gegeben, kirchlich finanziert, aber nicht kontrolliert, mit der Zusicherung völliger Offenheit und Kooperation, aber ohne Einflussmöglichkeiten. Der Bischof wurde nicht vor den Betroffenen und der Presseöffentlichkeit informiert. In den quantitativen Ergebnissen gleichen sich die historischen und die juristischen Studien: Das Ausmaß des Schreckens, des Leids, das Menschen angetan wurde, ist ungeheuerlich, die Fühllosigkeit der Verantwortlichen bodenlos.
Der geisteswissenschaftliche Zugang ermöglicht es aber in Münster, den Blick zu weiten in einer Weise, wie es ein juristischer Zugang nicht leisten kann. Die große Leistung des zweiten Kölner Gutachtens ist die Definition von fünf "Pflichtenkreisen", anhand derer die persönliche Verantwortlichkeit von Akteuren bewertet werden kann. Längst ist dieses Vorgehen Standard in der systematischen Aufarbeitung. Auch die Münsteraner Studie setzt auf diese Pflichtenkreise in ihrer Bewertung, allerdings ohne sich im Kleinklein der numerischen Pflichtverletzungen zu verlieren. Die Systematik hat aber da ihre Grenzen, wo Verhalten nicht eindeutig über Schriftstücke zugesprochen werden kann. "Jene, die zwar bei einer Besprechung kritischer Fälle anwesend waren, sich im Hinblick auf die Weiterverwendung eines notorischen Serientäters aber nur mündlich oder am Telefon äußern wollten, können heute nicht mehr belangt werden", heißt es in der Studie: "Die juristische Sichtweise wäscht die Schlauen unter den Vertuschern geradezu weiß."
Historiker setzen auf Verstehen von Zusammenhängen
Der rechtliche Beweisstandard trifft auf Jahrzehnte zurückliegende Taten, die systematisch nicht dokumentiert wurden. Fragen danach, was enge Vertraute der Verantwortlichen wie bischöfliche Privatsekretäre oder hierarchisch Mächtige, formal aber Unbeteiligte wie Weihbischöfe wissen konnten, gehen mit diesem Ansatz ins Leere. Auch das Umfeld und das dort herrschende Klima – an der Bistumsspitze wie in den Gemeinden – kann ein solches Vorgehen nicht erfassen. Die Beteiligung am systematischen Nichtwissen, fehlendes Rückgrat und Unrechtsbewusstsein ist damit nicht greifbar.
Die geisteswissenschaftliche Methode ist auf Verstehen von Zusammenhängen ausgelegt, nicht allein auf das Feststellen zurechenbarerer Schuld. Beide Ansätze, der geisteswissenschaftliche wie der juristische, bringen Beschränkungen mit sich. Zwischen den für das Kölner und das Münchner Gutachten verantwortlich zeichnenden Kanzleien kam es zu Spitzen im Streit um die Grenzen der juristischen Methode. Während das Kölner Gercke-Gutachten den Auftrag, Handeln am "kirchlichen Auftrag" zu messen eng und positivistisch auf die Konformität mit der Missbrauchsordnung der Bischofskonferenz ausgelegt hatte, operationalisierte das WSW-Gutachten den kirchlichen Auftrag weiter unter Rückgriff auf lehramtliche Grundsatzerklärungen.
„Die juristische Sichtweise wäscht die Schlauen unter den Vertuschern geradezu weiß.“
Das Münsteraner Forscherteam geht mit seinen methodischen Grenzen transparent um: "Die geschichtswissenschaftliche Methode besteht geradezu in der Verschränkung von empirischer Forschung und begleitender Interpretation. Geschichtswissenschaft ist immer auch eine sinnverstehende, hermeneutische und damit meinungsstarke Wissenschaft." Bei der Interpretation, so heißt es weiter, spielen auch ethisch-normative Aspekte eine Rolle. Konkret legen sie ihrer Deutung eine ethisch-normative Fundierung zugrunde: "Kirchliches Handeln im Hinblick auf den Umgang mit Taten des sexuellen Missbrauchs ist nur dann ethisch zu rechtfertigen, wenn es nicht nur die Interessen der Institution und der Beschuldigten, sondern auch der Betroffenen berücksichtigt und diese den zugrundeliegenden Maximen aus freien Stücken zustimmen können." Bis ins 21. Jahrhundert sei die Kirche davon "weit entfernt" gewesen, ist der Schluss der Studie.
Schutz der Institution als Skandal im Skandal
Dass auch die Münsteraner Forscher zum Schluss kommen, dass der Schutz der Institution vor dem Schutz der Betroffenen stand, kann nach den vielen vorigen Gutachten nicht mehr überraschen. Von einem "Skandal im Skandal" sprechen sie: "Über viele Jahre und Jahrzehnte hatten auch die Münsteraner Personalverantwortlichen – der Bischof, die Weihbischöfe, der Generalvikar und andere – die Taten nicht nur vertuscht, sondern Missbrauchstäter in andere Gemeinden versetzt, zum Teil nach fragwürdigen Therapien und oft, ohne die Gemeindeverantwortlichen in verantwortungsvoller Weise zu informieren." Wie es dazu kommen konnte, dass "in der Regel sehr gut ausgebildete, hoch reflektierte und von Beraterinnen und Beratern unterstützte" Bischöfe zu "schuldigen Hirten" werden konnten, ist ein zentrales Erkenntnisinteresse der Historiker.
Die Münsteraner Studie nimmt zusätzlich zu den letztverantwortlichen Entscheidungsträgern auch das Umfeld in den Blick, in dem die Missbrauchsfälle zugelassen wurden. Soziologisches Milieu und theologische Verfasstheit der Kirche greifen dabei nach Ansicht der Forscher so ineinander, dass in den Gemeinden und den Verwaltungen Menschen fehlten, die die nötige Wächterrolle gegenüber den Betroffenen einnahmen: "Sie alle waren über den sozialen Raum der Kirche miteinander verbunden, teilten gemeinsame Frömmigkeits- und Sagbarkeitsregeln, die den Tätern nicht nur Kontexte der Anbahnung für ihre Taten, sondern auch für deren Vertuschung bereitstellten. Sie alle hielten die katholischen Sittlichkeitsvorstellungen hoch, gegen die nicht verstoßen werden durfte, und wenn es doch geschah, dann verblieb das Wissen darüber in einem Nebel aus Scham und Schweigen", heißt es in der Studie.
"Bystander", Ekklesiozentrik und Asymmetrie sind zentrale analytische Begriffe, mit denen die Forscher den Problemkontext beschreiben. "Bystander" sind potentielle Mitwisser, Zeugen, Vertreter von Institutionen und Vertrauenspersonen, die hätten handeln können, es aber nicht getan haben. "Sie reagierten zu oft mit Abwehr, sie selbst waren vom katholischen Schamregime affiziert, ignorierten die Hinweise oder Signale oder wiesen die Betroffenen an, zu schweigen", stellt die Studie fest. Nur wenige hätten angemessen gehandelt, eine allgemeine Sensibilität wuchs laut den Forschern erst seit 2010. Dazu kam eine erstaunliche Großzügigkeit der zuständigen Staatsanwälte und Richter; die Forscher sprechen von einer "Freigiebigkeit der Behörden": "Wurden Priester tatsächlich angezeigt, was selten genug passierte, endeten die Prozesse häufig mit überraschend milden Strafen oder gar Freisprüchen." Bei der Vorstellung des Gutachtens kritisierte Studienleiter Thomas Großbölting die allzu willfährigen Behörden – die Aufarbeitung dieses Aspekts seitens des Staates steht noch aus.
Keine Sprache für Sexualität
Dass das Reden über Missbrauch in der Kirche tabuisiert war, liegt nach Ansicht der Forscher am Umgang mit Sexualität und dem Fehlen einer Sprache dafür. Sexualität "wurde unter einer Decke aus Scham und Sprachlosigkeit begraben, wenn überhaupt wurden Erfahrungen mit der eigenen Sexualität in der Beichte thematisiert und dort negativ als Sünde konnotiert", so die Studie. Nicht nur habe der Katholizismus Missbrauch nicht verhindert, sondern mit seinen Tabus und seiner Sprachunfähigkeit dazu beigetragen, dass nicht darüber geredet werden konnte.
„Der Schutz der Kirche wurde so zum Selbstzweck, und diejenigen, die sexuellen Missbrauch benannten […], wurden zur Bedrohung des Heilsauftrags der Kirche.“
Mit "Ekklesiozentrik" wird das Primat des Institutionenschutzes verstanden. Dazu gehören die "Priorisierung des Wohls der Kirche, der Skandalvermeidung, des Schutzes für die Mitbrüder und die damit verbundene Nichtachtung der Betroffenen". Erklärt wird diese kirchliche Handlungsmaxime historisch und theologisch. Historisch liege der Ekklesiozentrik eine "Wagenburgmentalität" angesichts gesellschaftlich-politischer Konflikte des Kulturkampfes im 19. Jahrhundert wie auch der "Kirchenkampf" des NS-Regimes zugrunde. Dazu komme ein theologisches Selbstverständnis als "Trägerin der göttlichen Verkündigung und damit als alleinige Stifterin des menschlichen Heils". "Der Schutz der Kirche wurde so zum Selbstzweck, und diejenigen, die sexuellen Missbrauch benannten – also die betroffenen Kinder und Jugendlichen, Eltern oder andere Zeugen, aufklärungswillige kirchliche Akteure sowie die Medien –, wurden zur Bedrohung des Heilsauftrags der Kirche", schließen die Forscher.
Bischöfe hätten sich "zunächst als Repräsentanten Gottes, nicht als Vertreter des Gottesvolkes" gesehen: "Deshalb stand der Schutz der Institution an erster Stelle, der Schutz des Mitbruders an zweiter. Die Betroffenen kamen im Grunde im bischöflichen Blick nicht vor", heißt es in der Studie weiter: "Wer die Kirche als sakrale Heilsanstalt begriff, musste allen Schmutz von ihr fernhalten. Geschützt werden mussten vor allem die Sakramente, nicht die Menschen." Der Münsteraner Bischof Felix Genn räumte ein, zunächst gegenüber Beschuldigten zu sehr als Seelsorger, zu wenig als Vorgesetzter agiert zu haben.
Positive Auswirkungen von Säkularisierung und Liberalisierung
Eng damit verbunden ist die Asymmetrie, die mit der sakramentalen Amtstheologie verbunden ist: Das Priestertum unterscheidet sich nach katholischer Lehre "dem Wesen nach" von den Laien. Beziehungen zwischen Priestern und Laien, vor allem Seelsorgebeziehungen, sind asymmetrisch, Priestern wird ein gewisser Nimbus und Vertrauensvorschuss zugebilligt. "Diese Asymmetrie wurde von den Betroffenen häufig nur unzureichend wahrgenommen, während die Täter schließlich die Konstellation zur Anbahnung und Ausführung von Übergriffen nutzten konnten", schreiben die Forscher. Die Asymmetrie habe "ebenso das Tatgeschehen begünstigt wie seine nachträgliche Vertuschung" – und zwar bis in die 2000er-Jahre.
Im zeitlichen Verlauf stellt die Studie fest, dass die Zahl der Taten mit den Jahren abgenommen hat; die Meldungen von Taten stieg jedoch deutlich. Erst als durch die Offenlegung der Taten am Berliner Canisius-Kolleg im Jahr 2010 Missbrauch in der Kirche nicht mehr als Einzelfälle und amerikanisches Problem kleingeredet werden konnte – "Warum soll ich mir den Schuh der Amerikaner anziehen, wenn er mir nicht passt?", sagte der Mainzer Kardinal Karl Lehmann noch 2002 in einem Spiegel-Interview –, entstand ein Klima, in dem sich Betroffene offenbaren konnten.
Die Studie räumt dabei mit der Schuldzuweisung an die "sexuelle Revolution" in den 1960er- und 1970er-Jahren auf; schon der zeitliche Verlauf der Taten gebe das nicht her. Die Liberalisierung könnte sogar zu einer Abnahme des Missbrauchs beigetragen haben, vermuten die Forscher: Indem das – bis heute der kirchenrechtlichen Normierung von Sexualdelikten fremde – Prinzip der sexuellen Selbstbestimmung als "gesellschaftliche und rechtliche Grundmaxime verankert" wurde, sei damit eine "normative Alternative zur katholischen Schamkultur mit ihren strengen Sagbarkeitsgrenzen eröffnet" worden. Die Enttabuisierung von Homosexualität habe ebenso begünstigt, "dass nicht-heterosexuelle Priester ihre geschlechtliche Orientierung nicht mehr länger vor sich selbst verdrängten, sondern mit dieser kontrolliert umzugehen lernten und dadurch das regressive, auf Minderjährige gerichtete Missbrauchsgeschehen abnahm", so die Forscher weiter.
Keine Besserung aus eigener Kraft
Weniger kirchliche Reformbemühungen sind demnach für eine Verbesserung der Lage verantwortlich, sondern äußere Einflüsse: Säkularisierung spielt nach Ansicht der Forscher eine größere Rolle als theologische Verheutigung: "In dem Maße, in dem die Gläubigen Auswege aus der katholischen Autoritätskultur fanden, den 'Klerikalismus von unten' zunehmend überwanden und den pastoralen Angeboten der Priester mit größerer Distanz begegneten, nahm auch das Missbrauchsgeschehen ab."
Die Münsteraner Studie ist keine theologische Reflexion auf den aus Akten und Betroffeneninterviews gewonnenen empirischen Befund. Sie will es auch nicht sein. Als historische Studie arbeitet sie Kontexte und Ermöglichungsbedingungen für den Missbrauch heraus und kann ohne dogmatische Einengungen analysieren, welche Auswirkungen bestimmte Vorstellungen über die Kirche und das sakramentale, hierarchische Amt haben. Damit können die Ergebnisse wiederum Grundlage für eine theologische Reflexion bieten. Schon jetzt ist klar, dass die von der Studie angesprochenen Problempunkte die sind, die auch im Synodalen Weg ins Zentrum gestellt wurden. Schon der Titel der Studie setzt die Macht an erste Stelle, Missbrauch wird nicht auf die Verfehlungen und die Schuld einzelner reduziert, sondern in ein systemisches Gesamt analytisch eingebettet, zu dem auch die Laien gehören. Deren Co-Klerikalismus, in der Studie als "Klerikalismus von unten" bezeichnet, stand bislang angesichts des eklatanten Versagens der Bischöfe und der anderen Mitglieder der Diözesanleitungen weniger im Scheinwerferlicht. Diese Verantwortung ist mit juristischen Methoden kaum auszuleuchten; umso wichtiger sind erste Initiativen im Laienkatholizismus, trotz des Mangels an Personalakten und Dokumentation in ehrenamtlichen Strukturen Missbrauch auch dort aufzuarbeiten, wie es etwa im Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) mit einer eigenen Aufarbeitungskommission geschieht.
Das Fazit der Forscher ist trotz der positiven Tendenz über die untersuchten Jahrzehnte warnend. Sexueller Missbrauch und Machtmissbrauch seien noch lange nicht zu Ende in der Kirche, schließt die Studie: "Es sind der Zentralismus der Institution und die Sakralisierung ihrer Machtstrukturen, es ist die Vorstellung vom Priester als 'heiligem Mann' und es sind die Unwahrhaftigkeit, Bigotterie und die internen Sprachblockaden, die aufgrund einer zunehmend lebensfremden Sexualmoral im Katholischen Einzug gehalten haben und damit den Missbrauch ermöglichen wie auch Vertuschung begünstigen. Wer die Betroffenen nur bemitleidet, ihnen lediglich Geld als Form der Anerkennung zur Verfügung stellt, sich in ebenso pathetischen wie unkonkreten Schuldbekenntnissen übt, ansonsten aber diese strukturellen Bedingungen als unabänderlich und von Gott gegeben sakralisiert, wird den Skandal des sexualisierten Machtmissbrauchs in der katholischen Kirche nicht im positiven Sinne aufarbeiten, sondern auf Dauer stellen."