Experte: In US-Abtreibungsdebatte hat es nie einen Kompromiss gegeben
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Die Debatte um Abtreibung spaltet die USA. Das hat auch mit der Geschichte des Landes zu tun, sagt Jesuitenpater und USA-Experte Godehard Brüntrup. Er erklärt, warum die Debatte so zugespitzt verläuft und wie die Kirche und der katholische Präsident Joe Biden dazu stehen.
Frage: Gerade das Thema Abtreibung sorgt für große Debatten fast schon bis zur Spaltung der Gesellschaft in den USA. Warum ist das Thema so konfliktbehaftet, noch mehr als in Deutschland?
Brüntrup: Viele urteilen über das amerikanische Abtreibungsrecht und die Konflikte, die sich daraus ergeben aus einer deutschen oder europäischen Perspektive und verstehen nicht, dass die Situation in den USA eine völlig andere ist. Die Situation in den meisten europäischen Ländern ist die, dass man in dieser Frage von einem harten Konflikt zu einem Kompromiss vorangeschritten ist. Ich erinnere mich selbst noch an Kardinal Ratzinger, damals im deutschen Fernsehen diskutierend über Abtreibung. Wir haben also nach einer harten Debatte einen gesellschaftlichen Kompromiss erreicht, mit dem beide Seiten nicht zufrieden sind, aber das ist immer ein Zeichen eines guten Kompromisses.
Diesen Prozess hat es in den USA so nie gegeben. Es ist nie ein gesellschaftlicher Kompromiss erreicht worden in der Frage der Abtreibung. Die Amerikaner sind sehr religiös, christlich religiös größtenteils, und ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist bis zum heutigen Tag der Meinung, dass Abtreibung in vielen Fällen ethisch nicht erlaubt ist. Das war übrigens, etwa in Absetzung von manchen Strömungen des Judentums, durch die ganze Geschichte hindurch ein Erkennungszeichen der Christen und Christinnen.
Und dann kam 1973 auf der Ebene des obersten Bundesgerichts (Supreme Court) eine Entscheidung, dass die einzelnen Bundesstaaten das Recht der Frau auf Abtreibung nicht einschränken dürfen. Das Recht auf Abtreibung war am Anfang nach dieser Entscheidung noch ein wenig eingeschränkt. Es wurde dann im selben Jahr noch entscheidend weiter liberalisiert (Doe vs Bolton). Im Endeffekt ist es seit 1973 so, wie man beispielsweise am Abtreibungsrecht in New York sieht, das explizit an die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes angeglichen wurde, dass prinzipiell bis zum neunten Monat abgetrieben werden kann, auch wenn keine Gefahr für das Leben der Mutter besteht. Im dritten Trimester (6. bis 9. Monat) muss allerdings die Schwangerschaft für die Mutter gesundheitlich belastend sein, und das muss von einer im Gesundheitsbereich arbeitenden Person (nicht unbedingt Arzt) attestiert werden. Es reicht aber prinzipiell aus, dass die Mutter angibt, dass sie sich mit der Schwangerschaft psychologisch belastet fühlt, um eine Abtreibung bis zum neunten Monat zu erlauben.
Es ging in den USA sogar so weit, dass, wenn solche späten Abtreibungen im letzten Trimester schiefgehen, in dem Sinne, dass der Hormon-Cocktail, der gegeben wurde, um das Kind abzutreiben, zwar zu einer Entbindung geführt hat, das Kind aber außerhalb des Mutterleibs atmet und überlebensfähig ist, dass dann, wenn die Mutter auf Abtreibung insistiert, die Ärzte das Kind nicht weiter medizinisch versorgen dürfen. Man legt es ab und lässt es sterben. Es ist kein angenehmes Sterben.
Das ist über lange Zeit in erheblichem Umfang jedes Jahr in den USA passiert. Und dass George W. Bush 2004 die Wahl gewonnen hat, was für viele Deutsche überraschend war, lag auch daran, dass er die amerikanische Gesellschaft gegen die späten Abtreibungen im letzten Trimester mobilisiert hat. Etwa 2,5 Prozent von geschätzten 900.000 jährlichen Abtreibungen in den USA fallen in die letzten drei Schwangerschaftsmonate. Obama hingegen hat sich beispielsweise im Senat in Illinois dafür stark gemacht, dass Kindern, die überlebensfähig sind und außerhalb des Körpers der Mutter eine Abtreibung überlebt haben, kein Recht auf Überleben bekommen. Er argumentierte, dass alles andere eine Unterminierung der Frauenrechte wäre.
Frage: Was sagen die Christen dazu?
Brüntrup: Letzteres haben manche christliche Kommentatoren als einen Rückfall in eine Art "römisches Denken" betrachtet. Damals war es nicht die Frau, sondern der Mann, der nach der Geburt sagen konnte: Das Kind darf leben oder nicht. Wenn das Kind ein Mädchen war, sagte der Vater oft, er nehme es nicht an, und dann wurde das Kind dem Tode überlassen. Die Christen haben sich gegen diese Einstellung auch damals schon gewehrt und manche sahen etwas Ähnliches jetzt in der amerikanischen Gesellschaft wieder aufkommen. Das ist ein Konflikt, den wir in vergleichbarer Weise in Deutschland nicht erlebt haben. Wir haben auch Spätabtreibungen, aber nicht in vergleichbarer Weise. Es ging ja hier auch um überlebensfähige, atmende Kinder außerhalb des Mutterleibes.
1973 hat also der oberste Gerichtshof entschieden: Jedes Gesetz, was auf der Ebene der Bundesstaaten, also in New York, Illinois, Missouri usw. erlassen wird, das diese liberale Freigabe der Abtreibung, sogar prinzipiell bis hin zum neunten Monat, einschränkt, kann vom Verfassungsgericht kassiert werden. Das wäre so, als wenn der Oberste Gerichtshof der Europäischen Union allen europäischen Ländern, auch beispielsweise den Polen vorschreiben würde, dass sie Abtreibungen nicht beschränken dürfen. Da würden die Polen auf die Barrikaden gehen. Und genau das ist in Amerika passiert. Deshalb ist die Situation eine ganz andere, als bei uns in Deutschland. Und das hat nun im Endeffekt auch zur Revision dieses Urteils von 1973 geführt.
Frage: Sie sagen, dass ein großer Teil der amerikanischen Gesellschaft diesen liberalen Umgang mit Abtreibungen kritisch sieht. Dabei sieht man in den Medien ja nun meist die andere Seite, die vor allem von einer Einschränkung der Frauenrechte spricht, kaum von den Rechten des ungeborenen Kindes. Warum ist die Debatte so einseitig und hat so wenig Nuancen?
Brüntrup: Nach neuesten Umfragen wollen etwa zwei Drittel der Amerikaner, dass Abtreibung weder generell erlaubt noch generell verboten wird, sondern dass ein nuancierter Mittelweg gefunden wird. Der Streitpunkt ist der, dass es gemäß einer in den USA verbreiteten Meinung in der Frage der Abtreibung nicht um die Abwägung der berechtigten Interessen von zwei Rechtssubjekten geht. Das ungeborene Kind hat für diese Rechtstradition keine Rechte. Die Mutter hat natürlich die Rechte über die Unversehrtheit des eigenen Körpers und andere Rechte, die damit zusammenhängen, wie etwa medizinische Rechte. Aber nach christlicher Auffassung hat auch das ungeborene Kind Rechte. Diese Spannung in die eine oder andere Richtung aufzulösen und zu sagen: Abtreibung ist immer legal oder Abtreibung ist immer Mord, führt zu massiven gesellschaftlichen Spannungen. Das undifferenzierte Urteil des höchsten amerikanischen Gerichts von 1973 hat diese Spannungen jahrzehntelang angeheizt. Alle westlichen Gesellschaften, die diesen Konflikt erfolgreich integriert und eine gewisse gesellschaftliche Ruhe erreicht haben, sind in diesem Abwägungsprozess zu einem juristischen Güterausgleich gekommen zwischen den berechtigten Interessen der Mutter und den berechtigten Interessen des Ungeborenen, abhängig von Umständen und Lebensalter.
Man muss auch Folgendes bedenken: Das oberste Gericht hat mit der Aufhebung von Roe v. Wade nichts darüber gesagt, ob Abtreibung erlaubt sein soll oder nicht. Das ist nicht der Inhalt des Urteils, sondern die Richter sagen, dass das Verfassungsgericht nur die Verfassung auslegen kann. Was nicht in der Verfassung steht, ist nicht Gegenstand des Bundesgerichts, sondern subsidiär zu behandeln. Das entspricht auch der katholischen Soziallehre. Was die oberste Ebene nicht zwingend festlegt, müssen die darunterliegenden Ebenen festlegen. Nun ist es so, dass die amerikanische Verfassung nichts über Abtreibung sagt. Es kommt dort nicht vor, im Gegensatz zum Waffenrecht. Und daraufhin haben die Richter in dieser aktuellen Revision gesagt, die Entscheidung von 1973 hätte so nicht getroffen werden können und sollen, da in der Verfassung nichts steht zum Thema Abtreibung.
Das heißt, die Frage, ob Abtreibung liberal oder restriktiv geregelt wird, ist Aufgabe der einzelnen Bundesstaaten und nicht des obersten Bundesgerichts. Das ist die Entscheidung. Und jetzt müssen die einzelnen Bundesstaaten in den demokratisch gewählten Parlamenten festlegen, ob sie nun ein liberales oder ein restriktives Abtreibungsrecht haben wollen, also wie sie in diesem schwierigen Konflikt um die legitimen Rechte der Mutter und der legitimen Rechte des Ungeborenen zu einem rechtlichen Ausgleich kommen können. Ich befürchte, dass die innere Zerrissenheit der USA zu sehr verschiedenen Auslegungen führen wird.
Frage: Interessant ist auch die Position von Präsident Joe Biden, der als Katholik Abtreibungen kritisch gegenübersteht, aber sagt, dass er in seiner Politik für das Recht auf Abtreibung kämpft. Diese zwei Position sind ja eigentlich nicht miteinander vereinbar.
Brüntrup: Joe Biden hat in den 1970er-Jahren über die Grundsatzentscheidung "Roe v. Wade" des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten, die jetzt aufgehoben wurde, gesagt, dass er dieses Urteil nicht für richtig hält. Es sei nicht allein eine Frage der Frauenrechte, um die es hier ginge. Das hat er 1974 gesagt. 1982 hat er dafür gestimmt, den Bundesstaaten das Recht zu geben, für den jeweiligen Staat diese Entscheidung des Obersten Gerichtshofs aufzuheben. Was jetzt gerade passiert ist, hat er selbst also noch in den 1980er-Jahren vertreten. Das ging so weiter bis 2006 – allerdings immer weniger werdend. Und dann ist der Druck in der Partei immer größer geworden, indem klar festgelegt wurde, dass man ein führendes Amt in der Demokratischen Partei nicht mehr einnehmen kann, wenn man in der Abtreibungsfrage von der "Pro-Choice-Position" abweicht, also der, dass es sich um eine Entscheidung (choice) der Mutter handelt.
Biden ist eher ein Katholik, der von der Idee der sozialen Gerechtigkeit her kommt. Und dementsprechend, weil er natürlich viele andere sozialen Anliegen der Partei für wichtig hielt, hat er dieses liberale Recht auf Abtreibung in Kauf genommen und später auch verteidigt. Dafür kann man auch Argumente angeben. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass in einer Gesellschaft in der Abtreibung zumindest teilweise liberalisiert wird, de facto weniger Abtreibungen vorkommen als in einer Gesellschaft, in der sie verboten sind. Dafür gibt es Hinweise. Also es kann Gründe geben, dass auch Katholiken und Katholikinnen der Meinung sind, man solle die Abtreibung liberalisieren, weil das die beste Methode ist, die Zahlen zu drücken. Das muss man alles diskutieren und zu einem gesellschaftlichen Kompromiss kommen. Aber man kann sagen: Joe Biden hat seine katholischen Überzeugungen an die Parteiräson angepasst.