Erzbischof über seine Reise ins Krisengebiet

Heße in der Ukraine: Dürfen nicht gleichgültig gegenüber Krieg werden

Veröffentlicht am 08.07.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Rzeszow/Hamburg ‐ Seit Monaten tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine, Menschen fliehen und sterben. Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße hat die Krisenregion besucht. Er berichtet von Durchhaltewillen und mahnt weitere Unterstützung an.

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Der katholische Hamburger Erzbischof Stefan Heße (55) ist Flüchtlingsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz und derzeit auf einer Solidaritätsreise nach Polen und in die Ukraine. Im Interview sprach er über Begegnungen mit Flüchtlingen, Gespräche mit örtlichen Kirchenvertretern und die ungebrochene Hoffnung der Ukrainer auf einen Wiederaufbau.

Frage: Herr Erzbischof, Sie sind seit Sonntag in Polen unterwegs und waren zwei Tage in der West-Ukraine. Wie sind Ihre Eindrücke?

Heße: Ich habe die vielen Geflüchteten vor Augen, denen ich begegnet bin – Familien, Kinder und Jugendliche, die keine Eltern mehr haben, eine blinde Frau, die ihre Heimat verlassen musste. Ich habe eine Mutter mit zwei Söhnen getroffen. Der eine hat durch die Traumata, die er erlitten hat, die Sprache verloren. Wenn man Gesichter vor Augen hat, ist das noch mal was ganz anderes, als wenn man nur die Bilder im Fernsehen sieht. Zugleich habe ich eine große Hilfsbereitschaft erlebt.

Frage: Sie waren in Lwiw, einer Stadt im Westen der Ukraine, die Hunderttausende Binnenflüchtlinge aufgenommen hat. Wie kommen die Bewohner damit klar?

Heße: Nach dem, was mir hier gesagt wurde, hat Lwiw bei rund einer Million Einwohner etwa 250.000 Flüchtlinge aufgenommen. Die Stadt hat sich also um ein Viertel vergrößert. Das führt die Stadt und ihre Einwohner an die Kapazitätsgrenze. Die größten Fragen sind derzeit, wo die Menschen langfristig unterkommen und wie es mit dem Schulunterricht für die Kinder laufen wird. Wenn man durch die Stadt geht, nimmt man das auf den ersten Blick kaum wahr. Aber hinter den Kulissen wird kräftig gearbeitet. Man versucht zum Beispiel alle möglichen Räume herzurichten. So räumen beispielsweise auch Kirchengemeinden ihre Pfarrheime frei.

Frage: Lassen Mitgefühl und Hilfe im fünften Monat des Kriegs nicht nach?

Heße: Die Maßnahmen sind direkt mit Beginn des Krieges ohne großes Zögern angelaufen, und die Hilfsbereitschaft ist nach wie vor groß. Allerdings sind die meisten Menschen in Privatunterkünften untergebracht. Über fünf Monate Gäste zu haben in einem Krieg, dessen Ende nicht in Sicht ist, ist eine enorme Herausforderung. Die Menschen sind natürlich strapaziert. Ähnlich wie in Deutschland fragt man sich, wie lange das Engagement anhalten wird. Bei uns versuchen wir, den Ehrenamtlichen Begleitung anzubieten. Das sieht hier ein bisschen anders aus. Die Sorge der Überforderung steht im Raum, und es hoffen alle, dass der Eifer nicht erlahmt.

Bild: ©Caritas-Spes/Ukraine

Seit Monaten herrscht in der Ukraine Krieg.

Frage: Sie haben auch Projekte in der polnischen Grenzstadt Przemysl besucht. Ist die Lage dort ähnlich?

Heße: In Przemysl sind in den ersten Kriegstagen teilweise 30.000 Menschen pro Tag angekommen. Ehrenamtliche Helfer haben sich dort gerade in der Anfangszeit unermüdlich für die Menschen eingesetzt, etwa indem sie an einem einzigen Tag 40.000 Sandwiches zubereitet haben. Da ist Beeindruckendes geleistet worden.

Frage: Wie reagieren die Flüchtlinge selbst auf diese Hilfsangebote?

Heße: Mir sind immer wieder Geflüchtete begegnet, die von der Hilfe, die ihnen zuteilgeworden ist, zu Tränen gerührt sind. Bewegend war auch, dass die Vertreter der Caritas, die in Polen und in der Ukraine anders aufgestellt sind als bei uns, durch die Fluchtbewegung ihre Arbeit ganz neu verstehen und plötzlich Dinge in den Vordergrund treten, an die sie vorher nie gedacht haben. Sie haben einfach entschieden gehandelt und das getan, was dran ist.

Frage: Kommt die Hilfe aus Deutschland vor Ort an, und was können wir noch besser machen?

Heße: Ja, ich habe viele deutsche Hilfsgüter gesehen, darunter auch Pakete, die in unserem Erzbistum Hamburg gepackt worden sind. Darüber hinaus kommen die Dinge aus aller Welt, auch aus den USA. Diese Hilfsgüter sind nach wie vor notwendig. Das Wichtigste, was wir im Moment tun können, ist zu spenden. Die Einrichtungen, die hier bislang zur Unterbringung und für Schulen zur Verfügung stehen, sind sehr bescheiden. Da ist noch viel zu tun. Immer wieder wurde mir auch gesagt, dass ich großen Dank für die Hilfe nach Deutschland mitnehmen soll.

„Ich habe bei den Menschen hier keine Aussichtslosigkeit gespürt. Sie stehen loyal zu ihrem Land und kämpfen.“

—  Zitat: Stefan Heße

Frage: Haben Sie auch Kriegszerstörungen gesehen?

Heße: Wir sind auf dem Weg von Lwiw zurück nach Polen an einer Stelle vorbeigekommen, wo durch einen Raketeneinschlag sieben Menschen getötet wurden. Man hat uns gesagt, dass die Rakete eigentlich ein paar Meter weiter bei einer Eisenbahnbrücke niedergehen sollte. An anderen Stellen haben wir Einschüsse gesehen. In Lwiw haben wir in der Nacht Alarm gehört. Die Einheimischen – darunter auch unser Gastgeber, der Erzbischof – scheinen sich fast daran gewöhnt zu haben und konnten weiterschlafen. Aber wir in unserer Delegation standen praktisch senkrecht im Bett. Da wird einem schon anders.

Frage: Wie denken die Menschen in der Ukraine über den Krieg, der aus unserer Perspektive so aussichtslos wirkt?

Heße: Ich habe bei den Menschen hier keine Aussichtslosigkeit gespürt. Sie stehen loyal zu ihrem Land und kämpfen. Wir wissen ja mittlerweile auch, dass viele, die aus dem Land geflohen sind, schon auf dem Rückweg sind, um mit anzupacken. Bewegend ist vor allem, dass die Menschen an den Wiederaufbau glauben. Schon jetzt fangen viele damit an, weil sie nicht die Hände in den Schoß legen wollen und voller Hoffnung und Visionen für ihr Land sind.

Frage: Was denken die örtlichen Kirchenführer über den Krieg?

Heße: Die Vertreter der griechisch-katholischen und der römisch-katholischen Kirche, die wir getroffen haben, sind sich in der Verurteilung des russischen Angriffskriegs einig und beten für den Frieden. Sie organisieren humanitäre Hilfe in ihren Bistümern. Und sie versuchen, an der Seite der Menschen zu sein. So gut wie keine Priester haben das Land verlassen. Sie sind entweder vor Ort geblieben oder mit ihren Gemeinden im Land auf der Flucht. Die Kirche kümmert sich auch um die Angehörigen der Kriegstoten. In einem griechisch-katholischen Gotteshaus sah ich die Bilder der toten Soldaten, die aus Lwiw stammen.

Frage: Haben Sie auch mit orthodoxen Vertretern gesprochen?

Heße: Lwiw ist griechisch-katholisch und römisch-katholisch geprägt. Das gilt auch für die kirchliche Flüchtlingshilfe vor Ort. Begegnungen mit der Orthodoxie gab es daher nicht.

Frage: Welche Botschaft soll von Ihrer Reise ausgehen?

Heße: Wir dürfen nicht gleichgültig gegenüber diesem Krieg werden. Je länger die Kämpfe dauern, umso größer ist die Gefahr, dass die Kräfte schwinden – bei den Menschen vor Ort und bei uns. Wir sollten nicht nachlassen, Solidarität mit der Ukraine zu zeigen. Im Moment finden ja viele Besuche von Politikern und Kirchenvertretern hier statt, und viele fragen sich, ob es in Ordnung ist, in ein Kriegsgebiet zu reisen. Dazu möchte ich sagen: Die Vertreter der Hilfswerke und der Bistümer waren sehr dankbar für unseren Besuch, weil er ihnen zeigt, dass sie nicht vergessen sind. Der russische Präsident hat einen durch keinen Grund zu legitimierenden Krieg begonnen. Daher müssen wir weiter alles dafür tun, dass das ukrainische Volk, in einem Land, das ihm gehört, leben kann, bleiben kann und existieren darf.

Von Michael Althaus (KNA)