Papst Franziskus: Säkularisierung ist gut und berechtigt
Angesichts einer zunehmenden Abkehr von Gläubigen auch in der traditionell katholischen Provinz Quebec hat Papst Franziskus vor einer Rückzugs- oder Kreuzzugsmentalität in der Kirche gewarnt. Säkularisierung an sich sei keine negative Entwicklung, betonte er am Donnerstagabend (Ortszeit) bei einem Treffen mit Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und anderen kirchlichen Mitarbeitern in der Kathedrale Notre-Dame in Quebec.
Gott wolle, dass Menschen nicht "Sklaven, sondern Kinder sind", so der Papst. "Er will nicht an unserer Stelle entscheiden und uns nicht mit sakraler Macht in einer von religiösen Gesetzen beherrschten Welt unterdrücken." Vielmehr seien Menschen frei geschaffen und sollten laut Gottes Willen "erwachsene und verantwortliche Personen im Leben und in der Gesellschaft" sein. Dabei berief Franziskus sich auf Aussagen von Papst Paul VI. (1963-1978), wonach Säkularisierung "ein in sich richtiges, berechtigtes und niemals im Widerspruch zum Glauben und zur Religion stehendes Bestreben" sei.
Säkularismus sei etwas anderes
Etwas anderes, so Franziskus, sei Säkularismus, "eine Lebensauffassung, die uns völlig von unserer Bindung an den Schöpfer trennt, so dass Gott 'überflüssig und zu einem Störfaktor' wird und 'neue Formen des Atheismus' entstehen". Dieser Entwicklung müssten Christen, insbesondere kirchliche Verantwortliche, sich entgegenstellen.
Allerdings dürften sie dabei nicht in die Falle laufen, "eine falsche Botschaft auszusenden". Hinter der Kritik an der Säkularisierung dürfe keine Sehnsucht nach einer sakralisierten Welt stehen, "nach einer Gesellschaft vergangener Zeiten, in der die Kirche und ihre Amtsträger mehr Macht und gesellschaftliche Bedeutung hatten". Für die kirchliche Verkündigung, so der Papst, ist "Säkularisierung eine Herausforderung an unsere pastorale Vorstellungskraft". Es komme darauf an, die christliche Botschaft mit Freude zu verkünden, mehr mit der eigenen Lebensweise als mit Worten.
Dazu gehöre es, Jesus und seine Botschaft bekannt zu machen, sowie das freie Zeugnis der Nächstenliebe, ohne Gegenleistung zu erwarten. Wichtig sei zudem ein geschwisterliches Zusammenleben in der Kirche im Einsatz für das Gemeinwohl. Dies gelte für Bischöfe, Kleriker und Gläubige. "Sind wir Geschwister oder Konkurrenten, die in Parteien gespalten sind?", fragte der Papst.
Franziskus bat zudem ausdrücklich um Vergebung für sexuellen Missbrauch. Dies seien "Ärgernisse, die ein entschlossenes Handeln und eine unwiderrufliche Bekämpfung erfordern", sagte er bei dem Treffen. Daher, so der Papst, "möchte ich gemeinsam mit euch alle Opfer erneut um Vergebung bitten. Der Schmerz und die Beschämung, die wir empfinden, müssen zu einer Gelegenheit zur Umkehr werden: Nie wieder!" Überlebende der Residential Schools und andere Betroffene, aber auch Politiker und Kommentatoren hatten eine solche Bitte schon länger gefordert.
Das Kirchenoberhaupt ging zudem noch einmal auf die kirchliche Mitwirkung in der Kolonialgeschichte ein. "Die christliche Gemeinschaft" dürfe sich "nie wieder von der Vorstellung anstecken lassen, dass eine Kultur einer anderen überlegen ist und dass es legitim ist, Zwangsmittel gegen andere einzusetzen". Damit verwies der Papst indirekt auf eine Mentalität und Herrschaftsform europäischer Eroberer und Kolonialmächte, die von Kritikern unter dem Begriff "Doktrin der Entdeckung" (doctrine of discovery) behandelt wird. Auch dazu wurden in Kanada dieser Tage immer wieder Forderungen laut, Franziskus solle päpstliche Aussagen aus dem 15. und 16. Jahrhundert widerrufen, in denen die Unterwerfung und Entrechtung nicht-christlicher Indigener gerechtfertigt worden sei.
Warnung vor "ideologischer Kolonialisierung"
Der Papst warnte in seiner Ansprache zudem vor den Einflüssen einer liberalistisch-individualistischen Denk- und Lebensweise auf andere Kulturen; diese bezeichnete er mitunter als "ideologische Kolonialisierung". "Lassen wir nicht zu, dass irgendeine Ideologie die Stile und Lebensweisen unserer Völker entfremdet und verwirrt, um zu versuchen, sie zu beugen und zu beherrschen", mahnte Franziskus.
Die sechstägige "Buß-Reise" des Papstes in Kanada geht an diesem Freitag zu Ende. Nach einer privaten Begegnung mit Mitgliedern des Jesuitenordens trifft er sich am Morgen (Ortszeit) mit einer Delegation der indigenen Bevölkerung Quebecs. Am Nachmittag wird das katholische Kirchenoberhaupt in Iqaluit am Nordpolarmeer erwartet. Dort sind Gespräche mit ehemaligen Schülern der Residential Schools geplant.
In den meist von Kirchen betriebenen Internatsschulen waren bis 1996 insgesamt 150.000 indigene Kinder und Jugendliche von ihren Familien getrennt, ihrer Kultur beraubt und vielfach misshandelt worden. Franziskus bat deshalb in den vergangenen Tagen mehrfach um Vergebung. Das Thema steht im Mittelpunkt seiner Visite in dem nordamerikanischen Land. Nach einer Abschiedszeremonie am Flughafen Iqaluit tritt der Papst am Freitagabend den Heimflug nach Rom an. Die Ankunft in der Ewigen Stadt ist für Samstagmorgen vorgesehen. (tmg/KNA)