Untersuchung zeigt Missbrauch und Vertuschung durch Bischof Stehle
Der frühere Adveniat-Geschäftsführer und Bischof Emil Stehle (1926-2017) hat wegen Missbrauchs beschuldigten Priestern geholfen, sich den deutschen Strafbehörden zu entziehen, und ist selbst in mehreren Fällen sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Die am Montag von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und dem Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat veröffentlichte unabhängige Untersuchung der Akten der Auslandspriester-Koordinationsstelle Fidei Donum bestätigt Vorwürfe, die Ende 2021 bei der Vorstellung der Missbrauchsstudie des Bistums Hildesheim bekannt wurden. Laut der Untersuchungen gab es erste Meldungen von Betroffenen 2003 an die Deutsche Bischofskonferenz sowie 2005 an das Erzbistum Freiburg, wo Stehle nach seiner Emeritierung lebte. Stehle habe übergriffiges Verhalten eingeräumt. Ihm wurde ein Schmerzensgeld auferlegt sowie jegliche Tätigkeit im diözesanen Auftrag untersagt.
Aus der von der Kölner Rechtsanwältin Bettina Janssen durchgeführten Untersuchung von Akten und Protokollen von Gesprächen mit Adveniat-Mitarbeitenden sowie der Auswertung von Zeuginnenaussagen gehen insgesamt 16 Meldungen und Hinweise zu sexuellem Missbrauch hervor. Stehle habe sich oft unter Zuhilfenahme von Alkohol seinen Opfern genähert und gegenüber Mitarbeiterinnen ein grenzverletzendes Verhalten mit Berührungen und Umarmungen gepflegt. Zu den Betroffenen gehört auch eine Frau, die möglicherweise von Stehle selbst gezeugt wurde. Von den betroffenen Frauen waren nach den vorliegenden Akten sechs Frauen im Zeitpunkt der sexuellen Übergriffe noch minderjährig. Die beschriebenen Taten zogen sich durch seine Zeit als Priester in Bogotá (Kolumbien), als Leiter der Fidei-Donum-Koordinationsstelle und Adveniat-Geschäftsführer in Essen sowie später als Weihbischof von Quito und als Bischof von Santo Domingo in Ecuador. In den 1970er-Jahren hat Stehle drei Priester dabei unterstützt, sich den in Deutschland anhängigen Strafverfahren zu entziehen. In zwei Fällen wurden die Priester wegen Sexualdelikten an Minderjährigen gesucht, in einem war der Tatvorwurf den Akten nicht zu entnehmen. Stehle habe durch Namenscodierungen, Tarnadressen und Unterhaltshilfen dafür gesorgt, dass sie verdeckt in Lateinamerika bleiben konnten.
Adveniat betont heutige Null-Toleranz-Politik gegen Missbrauch
Janssen geht von einem Dunkelfeld aus. "Nach den Ergebnissen der Aktenuntersuchung ist es möglich, dass es weitere sexuelle Übergriffe durch Stehle gab. Auch kann es durchaus sein, dass Stehle weiteren Priestern in Lateinamerika zur Tarnung verhalf, was aber in den Akten, weil heikel, nicht dokumentiert war", so die Rechtsanwältin. Sie empfehle daher der deutschen Kirche zusammen mit den zuständigen lateinamerikanischen Bistümern, weitere Betroffene zu erreichen zu versuchen. "Um ein vollständigeres Bild zu erhalten, ist auch der Frage weiter nachzugehen, inwieweit die Übergriffe Stehles den zuständigen kirchlichen Stellen bekannt waren und welche Konsequenzen sie dagegen ergriffen haben", betonte Janssen. Die untersuchten Akten enthielten dazu kaum Hinweise.
Auch nach der Zeit von Stehle als Leiter der Fidei-Donum-Koordinationsstelle ließen sich in den Akten Fälle von beschuldigten Priestern finden. Durch mangelnde Kommunikation zwischen den beteiligten Stellen und Bistümern und fehlende Standards für die Kommunikation konnten Täter teilweise über Jahrzehnte unbehelligt wirken. Aktive Vertuschung durch die Koordinationsstelle ließe sich aus den gesichteten Akten aber nicht ableiten.
Der heutige Adveniat-Hauptgeschäftsführer und Leiter der Fidei-Donum-Koordinationsstelle, Pater Martin Maier, begrüßte, dass die Untersuchung Licht ins Dunkle bringe: "Das Leid, das den Opfern sexualisierter Gewalt und des Machtmissbrauchs angetan wurde, erschüttert uns zutiefst und wir bitten sie um Entschuldigung. Emil Stehle ist als Leiter der Koordinationsstelle zum Täter von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch sowie zum Komplizen gesuchter Täter geworden. Viel zu lange blieben seine Schandtaten im Dunkeln, erst die Meldungen von Betroffenen haben eine Aufarbeitung möglich gemacht." Die Untersuchung gehöre zur Wahrheit, der sich die Kirche in Deutschland und weltweit stellen müsse. "Adveniat vertritt die Position einer absoluten Null-Toleranz gegenüber dem Verbrechen sexuellen Missbrauchs und stellt sich – auch mit dieser schonungslosen Untersuchung – an die Seite der Betroffenen in Deutschland und in Lateinamerika", versicherte der Adveniat-Chef.
Die DBK-Generalsekretärin Beate Gilles sieht in der Untersuchung keinen Schlusspunkt und kündigte noch zu klärende Konsequenzen an. Sie mache deutlich, dass die Entsendung von Priestern und inzwischen auch anderen pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern insgesamt kritisch reflektiert werden müsse.
Empfehlungen für Auslandspriester und Adveniat
Janssen führt in ihrer Untersuchung mehrere Empfehlungen auf, die gemeinsam mit zwei Vertretern des Betroffenenrates bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) entwickelt wurden. Dazu gehören weitere Aktenrecherchen insbesondere beim DBK-Sekretariat und in Stehles Herkunftsbistum Freiburg. Die Arbeit von "Fidei Donum" müsse öffentlich sichtbarer werden und dabei alles auf den Prüfstand gestellt werden, inklusive des Namens, der auf eine Enzyklika von Papst Pius XII. aus dem Jahr 1957 zurückgeht. "Ist eine Organisationseinheit und ein Name, der übersetzt 'Geschenk des Glaubens' heißt, im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und Vertuschung durch den langjährigen Fidei Donum-Leiter und weiterer Fidei Donum-Priester noch vertretbar?", heißt es in der Untersuchung. Für die Organisation der Auslandspriester wird eine Bereitschaft zur Reflexion eingefordert, wie es dazu kommen konnte, dass Übergriffe nicht bemerkt wurden oder dass weggesehen wurde. Außerdem brauche die Koordinationsstelle für die Fidei-Donum-Priester mehr Struktur und Verbindlichkeit. Dazu gehöre ein schriftlicher Kompetenznachweis der zu entsendenden Priester und die verbindlich erklärte Bereitschaft, sich regelmäßig in Präventionsfragen zu schulen sowie eine Selbstverpflichtung, "sich grundsätzlich an humanitäre Verhaltensregeln zu halten".
Das Hilfswerk Adveniat soll den Empfehlungen zufolge Anlaufstellen in Lateinamerika fördern, um vorhandene Beratungssysteme auszubauen und weitere Möglichkeiten zur Vernetzung zu schaffen. Außerdem stehe eine Stärkung von Ordensfrauen an und ihre Ausbildung als Multiplikatorinnen für Prävention solle gefördert werden. Die Untersuchung hatte gezeigt, dass auch Ordensfrauen Missbrauch ausgesetzt waren. "Ihre Abhängigkeit und die Gewalt gegen sie ist ein wichtiges Thema, das bisher kaum im Fokus stand und untersucht werden muss", betont die Untersuchung. Bislang fehle es bei Adveniat auch an Betroffenenbeteiligung bei der Prävention und Intervention.
Nach Hildesheimer Studie weitere Meldungen von Betroffenen
Ende Dezember forderte die Obfrau der für die Hildesheimer Studie verantwortlichen Expertengruppe, Antje Niewisch-Lennartz, in einem Offenen Brief an den DBK-Vorsitzenden Georg Bätzing die "sofortige und systematische Aufklärung" von Vorwürfen gegen Stehle, die nach Veröffentlichung der Studie von Betroffenen bei ihr vorgebracht wurden. "Aufgrund meiner Erfahrungen im Rahmen der Tätigkeit für die Expertengruppe aber auch aufgrund meiner langjährigen richterlichen Expertise habe ich keinen Anhaltspunkt dafür, an dem Wahrheitsgehalt des Vortrags zu zweifeln", so die frühere niedersächsische Justizministerin. Die DBK beauftragte gemeinsam mit Adveniat die Rechtsanwältin Janssen mit der Untersuchung.
Stehle wurde 1926 in Mülhausen geboren und 1951 zum Priester des Erzbistums Freiburg geweiht. 1972 wurde er stellvertretender Adveniat-Geschäftsführer und 1977 Geschäftsführer. 1983 wurde er Weihbischof im Erzbistum Quito in Ecuador, blieb aber zugleich Adveniat-Geschäftsführer bis 1988. 1987 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Bischof der Diözese Santa Domingo de los Colorados in Ecuador. 2002 nahm der Papst seinen altersbedingten Rücktritt an. Stehle verbrachte seinen letzten Jahre in Konstanz und starb 2017. Im Juni zeigten Recherchen des ARD-Magazins "report München" und der spanischen Tageszeitung "El País", dass Stehle Missbrauchstäter aus Spanien und Kolumbien in seinem Bistum in Ecuador aufgenommen habe. (fxn)