Ehemaliger Adveniat-Chef baute auf das Schweigen von Opfern und Umfeld

Bischof Stehle – unangreifbare Lichtgestalt, plumper Missbrauchstäter

Veröffentlicht am 09.08.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Essen/Köln ‐ Die Untersuchung der Akten des Hilfswerks Adveniat und der Bischofskonferenz zu Auslandspriestern zeigt eine Schattenseite weltkirchlichen Engagements: Täter wurden im Ausland versteckt – unter der Ägide von Bischof Emil Stehle, der selbst Täter war, und lange darüber hinaus. Damals wurden Betroffene nicht gehört. Heute zeigen sie Konsequenzen auf.

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Seine Masche war plump. Durch die Berichte von Betroffenen, die eine der Grundlagen für den von Deutscher Bischofskonferenz (DBK) und dem Hilfswerk Adveniat beauftragten unabhängigen Untersuchungsbericht sind, ziehen sich Tatbeschreibungen, in denen Emil Stehle sich einfach nimmt, was er will. Ganz unsubtil, ganz im Schutz der selbstverständlichen Annahme, dass sein priesterlicher Stand und seine Position ihn ungestraft handeln lassen. Eine damals 18-Jährige, die 1983 und 1984 als Pfarrhelferin in Caracas war, berichtet, wie Stehle – damals Adveniat-Chef – zu Gast im Pfarrhaus war. "Als er vom Flughafen kommend im Pfarrhaus eintraf, half ich ihm dabei, sein Gepäck ins Gästezimmer im ersten Stock zu tragen. Als ich die Tasche neben seinem Bett abgestellt hatte, strich er mit seiner Hand mehrmals über meine Wange und begann, mich auf den Mund zu küssen. In diesem Moment kam der Pfarrer ins Zimmer und Stehle ließ von mir ab", heißt es in dem Bericht. Eine andere zum Tatzeitpunkt 18-Jährige wurde in Stehles Wohnung zu einem Informationsgespräch über einen Auslandseinsatz eingeladen. "Sie habe das Gespräch okay gefunden. Dann habe Stehle ihr ein Glas Wein eingeschenkt und gesagt: 'Wir sind doch beste Freunde', 'Ich habe dir das vermittelt', 'Sag danke, gib mir einen Kuss'", steht im Protokoll der Adveniat-Referentin für Gewaltprävention. Im Verlauf des Gesprächs habe Stehle ihr an die Brust gefasst, nachdem sie seine Zudringlichkeiten schon abgelehnt hatte. Immer wieder ist Alkohol im Spiel. Keine Gewalt. Teil seiner Strategie, vermutet eine Betroffene: So hätten die von ihm Bedrängten die Schuld bei sich selbst gesucht.

Die Taten Stehles, einst eine Lichtgestalt, machen den Großteil des unter Federführung der Kölner Rechtsanwältin Bettina Janssen entstandenen Untersuchungsberichts aus. Gut 50 der insgesamt 148 Seiten in dem Bericht befassen sich mit seiner Zeit bei Adveniat und als Leiter der Fidei-Donum-Koordinationsstelle der DBK, die bei Adveniat in Essen angesiedelt ist. Von 1972 bis 1984 leitete er die Koordinierungsstelle für den Einsatz von Priestern im Ausland, von 1972 bis 1988 war er Adveniat-Geschäftsführer, ab 1977 allein. Sein Werdegang in der Hierarchie war ungewöhnlich: Schon 1983 wurde er zum Weihbischof im ecuadorianischen Erzbistum Quito ernannt, 1987 zum ersten Bischof der neugegründeten Diözese Santo Domingo de los Colorados, ebenfalls in Ecuador, bestellt. Zusammen mit dem Erzbischof von San Salvador war er in El Salvador an Vermittlungen zur Beendigung des Bürgerkrieges mit der Guerilla-Organisation FMLN beteiligt; 1994 wurde Stehle deshalb für den Friedensnobelpreis nominiert. Ein Einreiseverbot in Kolumbien aufgrund seiner Teilnahme an Verhandlungen für die Freilassung von Entführten und seine nur knapp gescheiterte eigene Entführung 2002 trugen zu seinem legendären Status bei.

Die ungewöhnliche Bischofsweihe – Weihbischof in Quito, Adveniat-Chef in Deutschland – wird im Licht der nun vorliegenden Erkenntnisse fragwürdig. Handelt es sich tatsächlich nur um eine Ehrung und diplomatische Stärkung für den Verhandler? Im Vatikan will man jedenfalls nichts geahnt haben. Akteneinsicht wurde dort nicht gewährt. Stattdessen bescheinigte der Präfekt der Bischofskongregation dem Adveniat-Hauptgeschäftsführer im März 2022 in einem Schreiben, dass man in den in Rom vorhandenen Personalakten sowie in weiterem, den bischöflichen Dienst Emil Stehles dokumentierenden Archivmaterial, "keinerlei Hinweise auf sexuell übergriffiges oder anderweitig strafbares Verhalten des Verstorbenen gefunden" habe. Das muss man glauben. Unabhängig überprüfen lässt es sich nicht, und schon beim Aktenbestand, der für die Untersuchung vorliegt, wird eine sehr selektive Aktenführung durch die Gutachterin vermutet. Eine Betroffene wirft die Frage auf, ob die Ernennung zum Bischof der Vertuschung durch höchste kirchliche Stellen diente. Mit der Bischofsweihe verliert der bisher zuständige Ortsbischof seine Durchgriffsmöglichkeiten.

Exemplarische Täterstrategien

Obwohl laut Betroffenen erste Meldungen wegen Übergriffen schon 2003 oder 2004 bei der DBK und 2005 an Stehles Heimaterzbistum Freiburg eingegangen waren und dem Bischof, der nach seiner Emeritierung in seine Heimat an den Bodensee zurückkehrte, schließlich Tätigkeiten im Namen der Erzdiözese untersagt wurden, blieb das Bild in der Öffentlichkeit ungetrübt. Die Nachrufe anlässlich seines Todes 2017 waren makellos. Wie im Fall des ehemaligen “Sternsinger”-Präsidenten Winfried Pilz sah es das Erzbistum, das von Taten wusste, nicht als notwendig an, zu Zurückhaltung zu mahnen. Erst durch die Hildesheimer Missbrauchsstudie wurden erste, bereits detaillierte Verfehlungen bekannt. Nach Veröffentlichung der Studie meldeten sich weitere Betroffene.

Blick auf die Stadt Quito in Ecuador.
Bild: ©cameris/Fotolia.com (Archivbild)

In Quito wurde Stehle Weihbischof – ein ungewöhnlicher Vorgang für einen weiterhin in Deutschland tätigen Priester.

Der Fall Stehle zeigt exemplarisch Täterstrategien und Ermöglichungsbedigungen für Missbrauch in der Kirche. Ein charismatischer Priester weiß um seine Unangreifbarkeit, um Tabus und Machtungleichgewichte – alles so ausgeprägt, dass es für diese Strategie nicht sonderlich viel strategisches Handeln brauchte. Zugleich weiß er auch aus seinem eigenen Vertuschen von Taten anderer Priester um die Mechanismen, die Täter schützen. Es ist auch viel zu lernen über scheinbar lockere Organisationsstrukturen und -kulturen. Die Befragung von Zeitzeuginnen und -zeugen Stehles bei Adveniat zeigt die Wahrnehmung einer "familiären Atmosphäre" im Hilfswerk mit viel Verständnis dafür, dass der Geschäftsführer durch Umarmungen und Berührungen körperliche Nähe suchte.

Gleichzeitig gab es durchaus ein Bewusstsein für grenzverletzendes, übergriffiges und unangemessenes Verhalten. Berührungen bis hin zu Küssen, Bemerkungen und Anweisungen zur Kleiderauswahl von Mitarbeiterinnen wurden in den Gesprächen genannt. Es sei allgemein bekannt gewesen, dass Stehle gerne junge Frauen um sich hatte, die er zum Diktat rief oder zu sich nach Hause einlud. "Aus diversen Gesprächsprotokollen liest man eine Vorsicht, bis hin zu Sorge und Angst, heraus, etwas zu sagen, was Emil Stehle diskreditieren oder das System insgesamt beschädigen könnte", heißt es dazu aber im Bericht. "In Stehles Pfarrei sei bekannt gewesen, dass ihn häufig junge Frauen besuchten", berichtet eine andere Zeugin. Die Adveniat-Untersuchung liefert damit ein weiteres Beispiel für die Bedeutung von "bystanders", von Beteiligten und Menschen aus dem Umfeld, die hätten einschreiten können, die in der Münsteraner Missbrauchsstudie umfassend problematisiert wurde.

Auch in Stehles Fall fällt das völlige Fehlen einer Betroffenenperspektive auf, wie die Gutachterin beklagt. Die Untersuchung selbst begegnet dem nicht nur, indem Gesprächsprotokolle und Berichte von Betroffenen neben den Akten zur Datengrundlage gehören. Alle bekannten Betroffenen wurden auch nach ihren Anregungen und Empfehlungen gefragt. Ihre Stimmen eröffnen in der Untersuchung den Empfehlungsteil. Problematisiert wird das überhöhte Priesterbild: "Hier kommt Macht ins Spiel, und zwar durch Strukturen (in denen Frauen per Definition nie eine gleichrangige Rolle spielen werden, allen Verschwurbelungen zum Trotz) und vor allem auch durch die enorme Aufladung der Weihe als einer 'besonderen' Form der Nachfolge", gibt eine Betroffene zu bedenken. Dass Betroffene nicht gehört werden, stößt auf. Schließlich Skepsis, dass in Ecuador auch nach Kenntnis der Ergebnisse aus Deutschland eine gründliche Aufarbeitung aus eigener Kraft möglich ist.

Empfehlungen zusammen mit Betroffenen

Bei den Empfehlungen hat sich die Rechtsanwältin Janssen von zwei Mitgliedern des Betroffenenbeirats bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) beraten lassen, Ilka Katrin Kraugmann und Karl Haucke. Gefordert wird zunächst eine weitere Aufarbeitung aus den Akten; die Freiburger Akten standen bislang nicht zur Verfügung, da sie nicht im Zusammenhang mit Stehles Tätigkeit für Adveniat und die Fidei-Donum-Koordinationsstelle stehen; das Missbrauchsgutachten des Erzbistums Freiburg ist für den Herbst angekündigt.

Ein Personalaktenordner vor Archivschränken
Bild: ©Harald Oppitz/KNA (Symbolbild)

Aufarbeitung von Missbrauch wird auch durch mangelhafte Aktenführung in der Vergangenheit erschwert. Eine neue Personalaktenordnung soll das in Zukunft besser machen. Auch die Adveniat-Untersuchung zeigt strukturelle Maßnahmen zur Missbrauchsprävention auf.

Eine der ersten großen strukturellen Veränderungen im Zuge der MHG-Missbrauchsstudie war die Einführung einer einheitlichen Personalaktenordnung für Kleriker und Kirchenbeamte in allen deutschen Bistümern. Die Adveniat-Untersuchung zeigt nun weitere strukturelle Reformansätze auf: Kennzeichnend für die im Zuge des Fidei-Donum-Programms ins Ausland geschickten Priester sei, dass man von einem formellen Programm eigentlich kaum sprechen kann. Strukturen gibt es dafür kaum, oft ist es anscheinend sogar schwierig, einen zentralen Überblick über alle entsandten Priester zu bekommen. "Stehle lud nahezu jeden zur Fidei Donum-Gemeinschaft ein. Wichtigste Voraussetzung: Priester in Lateinamerika sein zu wollen. Es ging um die Stärkung des priesterlichen Männerbundes. Alles Weitere schien nicht hinterfragt: Weder die Herkunft, noch die seelsorgerische Qualifikation, noch die Bereitschaft zum Einhalten von Regeln und Verbindlichkeiten", heißt es in der Untersuchung. Was sich bei anderen Missbrauchsstudien in der Versetzung von Tätern über diözesane Grenzen hinweg gezeigt hat, scheint bei den Auslandspriestern noch verschärft zu gelten: Unklare und ungeregelte Zuständigkeiten zwischen verschiedenen Bistümern schaffen Räume für unkontrollierten Missbrauch.

Die Analyse der Koordinationsstelle in der Zeit nach Stehle zeigt massive Kommunikationsdefizite. "Zuständige Bistümer informierten sich untereinander weder über die Transfers der Priester zwischen Lateinamerika und Deutschland, noch informierten sie sich über Problemanzeigen oder Sanktionen", heißt es dazu. Für die Kommunikation von problematischen Fällen habe es keine verbindlichen Berichtsstrukturen, Warnverpflichtungen oder ähnliches gegeben, kommuniziert wurde nur "mit denen, die einem gewogen erschienen", und dass auch nur, wenn es notwendig erschien. Daraus folgt in der Untersuchung die Empfehlung zu klaren Strukturen und erhöhter Verbindlichkeit. Es verwundert, dass Adveniat ausweislich der Untersuchung erst 2019 damit begonnen hat, wirksame interne Strukturen aufzubauen.

Dem Hilfswerk wird empfohlen, lokale Anlaufstellen für Betroffene in Lateinamerika zu fördern und Ordensfrauen zu stärken und zu Multiplikatorinnen zu machen. Für alle Beteiligten der internationalen Zusammenarbeit brauche es Schulungen zur Prävention, schließlich müsse auch – möglicherweise hilfswerkübergreifend – mit der Beteiligung von Betroffenen begonnen werden.

Informelle und familiäre Strukturen in den Blick nehmen

Die Untersuchung von Emil Stehles Wirken und der Rolle der Fidei-Donum-Koordinationsstelle im Umgang mit Missbrauchstätern fügt den bislang bekannten Studien einen wichtigen Aspekt hinzu: Die Missbrauchsgutachten zu einzelnen Bistümern haben vor allem einen Blick auf die hierarchische kirchliche Verwaltung, auf Priester in der diözesanen Pfarrseelsorge geworfen. Das ist aber nur eine Facette kirchlichen Lebens, und ein überdurchschnittlich regulierter. Die Aufarbeitung von Missbrauch in informelleren Kontexten ist schwieriger – wenn auch nicht unmöglich, wie die Adveniat-Untersuchung zeigt. Deutlich wird hier die Gefahr, die in vermeintlich familiären Situationen liegt, in denen der Umgang nur scheinbar auf Augenhöhe ist. Das sind Situationen, wie sie nicht nur in den Hilfswerken zu erwarten sind, sondern auch in den Verbänden. Hier stehen entsprechende Aufarbeitungsprozesse noch aus; vor allem im Bereich der Jugendverbände hat der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) hier aber bereits Konzepte vorgelegt, wie das gelingen könnte.

Pater Martin Maier
Bild: ©Bram Penninckx/KNA (Archivbild)

Pater Martin Maier ist seit September 2021 Hauptgeschäftsführer von Adveniat. Zur Untersuchung sagte er: "Sie gehört zur Wahrheit, der wir uns als Kirche in Deutschland und weltweit stellen müssen. Das sind wir den Betroffenen sexualisierter Gewalt ebenso schuldig wie jenen, die unsere Arbeit unterstützen. Adveniat vertritt die Position einer absoluten Null-Toleranz gegenüber dem Verbrechen sexuellen Missbrauchs und stellt sich – auch mit dieser schonungslosen Untersuchung – an die Seite der Betroffenen in Deutschland und in Lateinamerika."

Ein Aspekt, der nicht in den Empfehlungen vorkommt, aber zwischen den Zeilen steht, ist die Bedeutung von Öffentlichkeit: Erst durch die Veröffentlichung der Hildesheimer Missbrauchsstudie und die Presseberichterstattung dazu konnten weitere Betroffene den Mut finden, sich als Opfer Stehles zu offenbaren. Eine Betroffene nennt explizit die Berichterstattung bei katholisch.de; gerade kirchlich finanzierte Medien sehen sich innerkirchlich oft dem Vorwurf ausgesetzt, zu viel über Missbrauch zu berichten und zu wenig über das Gute in der Kirche. Eine unzensierte und ungeschminkte kirchliche Presse, die – auch wenn sie von der Hierarchie aus Kirchensteuermitteln finanziert wird und damit in Abhängigkeiten steht – mehr Zeit und Raum als nichtkirchliche Medien für Detailberichterstattung über innerkirchliche Themen hat und ein spezifisch kirchliches Milieu – und damit auch potentielle Betroffene – erreicht, ist eine Facette, die kirchlicher Aufarbeitung zuträglich sein kann.

Manche Aspekte der Präventionsarbeit stehen bisweilen in der Kritik, wenn etwa ein scheinbarer Generalverdacht durch verpflichtende regelmäßige Präventionsschulungen beklagt wird. Spontaneität, Flexibilität und flache Hierarchien sind attraktiver als Regeln, Normen und ein geregelter Verwaltungsgang. Die nun vorliegende Untersuchung bekräftigt dagegen die Bedeutung von klaren Strukturen der Prävention und Dokumentation, der Schulung zu Prävention und dem Aufbau von Melde- und Interventionsstellen. "Die Kirche muss strukturell und institutionell (durch komplett und nachweislich unabhängige Anlaufstellen) dafür sorgen, dass jeder Übergriff durch einen Geistlichen jederzeit und überall öffentlich gemacht werden kann", drückt es eine Betroffene aus.

Von Felix Neumann

Deutsche Bischofskonferenz und Adveniat veröffentlichen unabhängige Untersuchung

Die Deutsche Bischofskonferenz und die Bischöfliche Aktion Adveniat hat am Montag eine unabhängige Untersuchung der Akten der Koordinationsstelle Fidei Donum veröffentlicht. Daraus ergibt sich, dass der frühere Leiter der Koordinationsstelle und spätere Bischof von Santo Domingo in Ecuador (so der heutige Name der Diözese), Emil Stehle, Priester, die in Deutschland wegen sexualisierter Gewalt strafrechtlich verfolgt wurden, dabei unterstützt hat, sich den Strafverfolgungsbehörden zu entziehen. Auch wird er selbst des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Die Untersuchung ist vollständig online einsehbar.