Lieber tot als pflegebedürftig?
Frage: Herr Brysch, nach jahrelanger, immer wieder neu aufflackernder Debatte sieht es jetzt so aus, als wolle der Bundestag sich ernsthaft mit einem Verbot der organisierten Suizidbeihilfe befassen. Freut Sie das?
Brysch: Das freut mich einerseits. Andererseits geht die Debatte aber am Kern des Problems vorbei. Wichtig ist mir, dass wir den Suizid nicht kriminalisieren. Es gibt Menschen, die in unerträglichen Situationen nur den Ausweg des Suizid sehen und dafür auch die Hilfe eines anderen brauchen. Das ist im Einzelfall nachvollziehbar. Andererseits ist aber wichtig, dass der Staat dazu kein organisiertes Angebot zur Verfügung stellt oder zulässt. Wir dürfen uns nicht von Menschen entsolidarisieren, die in großer Angst vor Krankheit und Pflegebedürftigkeit leben. Und vergessen wir nicht: Der allergrößte Teil der Menschen, der sich heute das Leben nimmt, leidet an Depression. Das gesellschaftliche Signal für all diese Menschen wäre fatal, denn der Suizid ist keine Therapie. Und er darf von der Gesellschaft nicht zu einem allgemein akzeptierten Weg werden.
Frage: Warum geht die Debatte ihrer Ansicht nach am Kern des Problems vorbei?
Brysch: Gegner von aktiver Sterbehilfe und organisierter Suizidbeihilfe argumentieren immer, dass es ja die Palliativmedizin und die Hospizbewegung gibt, um die letzte Lebensphase von Sterbenskranken zu erleichtern. Das stimmt zwar. Aber die Ängste der Menschen gehen viel, viel weiter...
Frage: Welche sind das?
Brysch: Ende 2012 haben wir eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben. Ergebnis: Jeder zweite Deutsche würde sich eher beim Suizid begleiten lassen als pflegebedürftig zu werden. Die Angst vor Pflegebedürftigkeit ist so groß, dass diese Menschen lieber tot wären, als ihre Selbstständigkeit zu verlieren, sich der Pflege ausgeliefert zu fühlen und einsam zu sein. Die Ängste der Deutschen beziehen sich also nicht nur auf die Phase des Sterbens in den letzten vier Wochen, sondern sogar auf die letzten vier Jahre ihres Lebens als möglicherweise Pflegebedürftige. Die Palliatvimedizin ist also nur ein sehr begrenztes Gegenmittel gegen den Wunsch nach Selbsttötung.
Frage: Welches andere Gegenmittel sehen Sie?
Brysch: Wer die Herzen und Köpfe der Menschen erreichen und dem Trend zur Sterbehilfe etwas entgegensetzen will, muss dafür sorgen, dass die Angst vor Pflegebedürftigkeit geringer wird. Unser Gesundheitssystem ist nur darauf aus, Menschen wieder gesund zu machen - eine Art Gesundheitsfabrik. Fallpauschalen und Krankenhausfinanzierung zielen nur darauf. Die Pflege von Alten, Dementen und chronisch Kranken fällt dabei hinten runter.
Frage: Was heißt das konkret für die Politik?
Brysch: Das Gesundheitssystem muss so umorganisiert werden, dass auch Begleitung und Pflege honoriert und ausgebaut werden. Auch die Kassen müssen Leistungen bereit stellen, damit Pflegebedürftige ihr Leben weiter als lebenswert und würdevoll empfinden. Derzeit passiert genau das Gegenteil, wie wir bei unseren Beratungsgesprächen mit Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen merken. Viele Kassen machen den Patienten zunehmend das Leben schwer. Sie wollen notwendige Heil- oder Hilfsmittel nicht bezahlen, Reha-Maßnahmen werden abgelehnt, Gehbehinderte müssen um einen Rollstuhl kämpfen.