Deutschsprachige Gemeinde nah dran an Demonstrantionen

"Enttäuscht und radikalisiert"

Veröffentlicht am 25.01.2014 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Ukraine

Bonn/Kiew ‐ Opposition und Regierung in der Ukraine werden sich nicht einig. Und die Proteste auf dem Maidan-Platz in der Hauptstadt Kiew sind nicht mehr ausschließlich friedlich. Es kam bereits zu Ausschreitungen zwischen Polizisten und Demonstranten. Peter Ullrich, der seit einem halben Jahr in Kiew den römisch-katholischen Gottesdienst in deutscher Sprache organisiert, hat mit katholisch.de gesprochen: über die Demonstrationen, Vitali Klitschko und die Position der Kirche im Land.

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Frage: Herr Ullrich, wir lesen von den Ereignissen in Kiew in der Zeitung und sehen die Bilder im Fernsehen. Wie schätzen Sie die Lage vor Ort ein?

Ullrich: Es ist sehr schwer zu sagen. Auch wir haben uns die Frage gestellt, was in den nächsten Tagen passieren könnte. Was vielleicht nicht so rüberkommt, ist, dass die große Masse der Demonstranten noch immer friedlich ist. Es sind lediglich ein paar Chaoten, die aus der ganzen Ukraine extra nach Kiew gekommen sind, um sich mit der Polizei Straßenschlachten zu liefern. Das Hauptproblem ist aber, dass sich die drei Oppositionsführer – darunter auch Vitali Klitschko – nicht einig sind. Auch das letzte Gespräch mit der Regierung hat keine Ergebnisse gebracht.

Frage: Wie reagieren die Menschen darauf, dass es keine Fortschritte gibt?

Ullrich: Das enttäuscht und radikalisiert gerade jene Demonstranten, die auf dem Maidan-Platz seit fast zwei Monaten campieren – und das bei minus 20 Grad Celsius. Beunruhigender für die Regierung sollte allerdings sein, dass mittlerweile auch einige Regierungsgebäude in der restlichen Ukraine von Demonstranten besetzt worden sind. Bisher hatten sich die Proteste ja auf Kiew beschränkt und Regierung und Präsident hatten versucht, das Ganze auszusitzen. Nächsten Dienstag jedoch soll nun das Parlament außerordentlich zusammenkommen und die umstrittenen Gesetze zur Einschränkung der Demonstrationsfreiheit ändern. Zudem hat der Präsident angekündigt, die Regierung umbilden zu wollen.

Frage: In den deutschen Medien dominieren Bilder von Vitali Klitschko? Wie ist seine Rolle zu bewerten?

Ullrich: Natürlich macht Klitschko auch Wahlkampf. Im nächsten Jahr stehen die Präsidentschaftswahlen an und er will sich schon einmal präsentieren. Daher auch seine vermehrten Auftritte in den Medien. Der Rückhalt bei den Demonstranten schwindet allerdings immer mehr, weil sie erkennen, dass sich bisher nicht viel bewegt hat.

„Den beiden großen orthodoxen Kirchen im Land fehlt es an Koordination, da sie sehr zerstritten sind.“

—  Zitat: Peter Ullrich

Frage: Es soll ja auch schon mindestens zwei Todesopfer gegeben haben. Wie wird in der Ukraine darüber berichtet?

Ullrich: Die offizielle Bestätigung der Regierung besagt auch, dass es zwei Tote gab. Es gibt aber auch Meldungen, die besagen, dass es bis zu sieben Opfer gegeben haben soll. Diese Zahl wurde bisher nicht offiziell bestaetigt, auch nicht von der Opposition. Nachgewiesen ist inzwischen, dass zwei Demonstranten entführt worden sind, von denen einer umgekommen ist.

Frage: Wie positionieren sich die Kirchen in der gesamten Auseinandersetzung?

Ullrich: Den beiden großen orthodoxen Kirchen im Land fehlt es an Koordination, da sie sehr zerstritten sind. Von beiden gab es bisher zur Lage auch kein offizielles Statement. Man weiß allerdings genau, dass die Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats für die Unabhängigkeit der Ukraine einsteht, während die Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats, die zur Russisch-orthodoxen Kirche gehört, natürlich pro Russland ist und damit indirekt auf Seiten der Regierung steht. Die römisch-katholische Kirche macht hier gerade einmal drei Prozent der Bevölkerung aus. Auch da gibt es aber kein offizielles Statement.

Frage: Was denken Sie, wie es in Kiew, aber auch in der gesamten Ukraine weitergehen wird?

Ullrich: In den nächsten Tagen erwarte ich in Kiew noch einmal eine größere Demonstration, da die meistens Samstag oder Sonntag laufen. Die Messe werden wir auf jeden Fall am Samstag feiern können. Ansonsten glaube ich aber, dass das Leben abseits der Schauplätze erst einmal normal weitergeht. Langfristig ist die Lage natürlich schwieriger zu beurteilen. Die Ukraine lag schon immer – nicht nur geografisch – zwischen Europa und Russland. Die Demokratie hier ist immer noch sehr jung, die Nation weiß selbst nicht so genau, was sie will. Die einen sind pro Westen, die anderen pro Russland. Es gibt Menschen, die nur ukrainisch und solche, die nur russisch sprechen wollen. Damit einher gehen auch kulturelle Unterschiede. 2004 gab es Überlegungen, das Land in zwei Teile zu spalten. Aber da es keine historischen Grenzen gibt, wurde diese Idee wieder fallen gelassen. Die Nation muss also selbst ihren Weg finden. Es bleibt spannend.

Das Interview führte Björn Odendahl

Infos zum deutschsprachigen Gottesdienst

Der deutschsprachige, katholische Gottesdienst findet jeden Samstag um 17 Uhr in der Heiligen Alexander Kirche, Kostol'naya Street 17., statt. Die Messe wird zelebriert von Pater Viktor Simon, Generalsekretär der Spes Caritas in der Ukraine. Anfragen zum Gottesdienst unter peter_ullrich65@hotmail.com oder +380 67 5499 355.