Die Ampelkoalition und die Kirchen: Eine schwierige Beziehung
Wollte man das erste Jahr der Ampelkoalition aus kirchlicher Sicht unter einem markanten Symbol zusammenfassen, käme man am Kreuz im Friedenssaal von Münster wohl nicht vorbei. Tagelang stand das historische Kruzifix Anfang November im Zentrum einer aufgeregten Debatte, weil es auf eine Bitte des von Grünen-Politikerin Annalena Baerbock geführten Auswärtigen Amts hin für das Treffen der G7-Außenminister aus dem Saal entfernt worden war. Während das Außenministerium die Maßnahme mit den unterschiedlichen religiösen Hintergründen der Teilnehmer begründete, äußerten Kirchenvertreter ungewohnt scharfe Kritik an dem politisch initiierten "Bildersturm".
Der Leiter des Katholischen Büros in Nordrhein-Westfalen, Antonius Hamers, etwa nannte die Abnahme des Kreuzes "geschichts-, kultur- und traditionsvergessen". Und weiter: "Dieser Saal ist der Ort, wo vor 374 Jahren ein Religionsfriede ausgehandelt worden ist. Und wenn dort ausgerechnet das religiöse Symbol entfernt wird, dann zeigt man, dass man offensichtlich nicht verstanden hat, wofür dieser Saal, wofür dieser Westfälische Friede steht." Ähnlich äußerte sich der Bochumer Theologe Thomas Söding, indem er Defizite in der religions- und kulturpolitischen Kompetenz des Auswärtigen Amtes diagnostizierte. Das Ministerium habe dem Raum seine "Tiefendimension in die Friedenspolitik hinein" genommen, so Söding.
Die Ampel ist erkennbar um mehr Distanz zu den Kirchen bemüht
Der Streit um das Kreuz – in vielerlei Hinsicht steht er symptomatisch für das Verhältnis der Ampelkoalition zu den christlichen Kirchen. Kirchliche Befindlichkeiten und Positionen, das haben die vergangenen zwölf Monaten gezeigt, haben es unter der linksliberalen Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen von SPD, Grünen und FDP schwer – gerade auch im Vergleich zu den unionsgeführten Regierungen in den Jahren davor. Die Ampel, das wurde auch schon im Koalitionsvertrag deutlich, ist um mehr Distanz zu den Kirchen bemüht.
Wohl am schmerzhaftesten vor allem für die katholische Kirche zeigte sich diese Zeitenwende beim Strafrechtsparagrafen 219a. Nachdem die Union eine Streichung des Paragrafen und damit ein Ende des Werbeverbots für Abtreibungen in der vorherigen Legislaturperiode noch verhindert hatte, machte die Ampelkoalition bereits wenige Monate nach ihrem Amtsantritt Nägel mit Köpfen. Ende Juni votierte der Bundestag mit großer Mehrheit für die Streichung des insbesondere von Grünen und FDP lange bekämpften Paragrafen.
Für die katholische Kirche war diese Entscheidung eine herbe Niederlage. Immer wieder hatte sie in der jahrelangen Auseinandersetzung um den Paragrafen für dessen Erhalt geworben. Nach dem Antritt der Ampelkoalition bekräftigte unter anderem der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Bischof Georg Bätzing, die kirchliche Position. Die beabsichtigten Änderungen bei den Abtreibungsregeln nähmen den Schutz des ungeborenen Lebens zurück und könnten "nicht für sich in Anspruch nehmen, fortschrittlich und modern zu sein". Die bestehenden Standards für den Lebensschutz seien keine Restbestände einer verkrusteten Gesellschaft, mahnte der Limburger Bischof. Ähnlich äußerten sich in seltener Einmütigkeit das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), der Deutsche Caritasverband sowie zahlreiche weitere katholische Verbände und Bischöfe – ohne Erfolg.
Wenig Bereitschaft, auf kirchliche Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen
Doch es waren im ersten Jahr der Ampel nicht nur prominente Projekte wie die Streichung von Paragraf 219a, bei denen deutlich wurde, dass die Bereitschaft der rot-grün-gelben Koalition, auf kirchliche Stimmen zu hören oder auf kirchliche Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen, wenig ausgeprägt ist. Vielmehr zeigte sich diese Haltung auch bei öffentlich kaum beachteten Neuregelungen wie dem "Dritten Gesetz zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften". Obwohl das Gesetz eigentlich nur die Grundlagen für die elektronische Kommunikation zwischen Bürgern und Standesämtern etwa bei der Anmeldung einer Eheschließung oder der Anzeige einer Geburt oder eines Sterbefalls legen sollte, schaffte die Regierung dabei quasi nebenbei die Möglichkeit einer freiwilligen Eintragung der Religionszugehörigkeit im Personenstandrecht ab.
Der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor warf der Koalition in der Debatte über den Gesetzentwurf Ende September vor, "die Religion immer weiter ins Private zurückdrängen" zu wollen. Dies sei ein Affront gegenüber großen Bevölkerungsgruppen, die bisher umfangreich vom freiwilligen Religionseintrag im Geburtenregister, im Eheregister oder im Sterberegister Gebrauch gemacht hätten. "Für viele Bürger ist ein solcher Eintrag nicht nur ein Bekenntnis im Rahmen ihrer positiven Religionsfreiheit, sondern auch ein Ausdruck ihrer Identität. In diesem Zusammenhang erstaunt es, dass ausgerechnet eine Koalition, die etwa in Geschlechterfragen für eine identitätspolitische Selbsterklärungsfreiheit in Registern wirbt, nun die Religion als Merkmal personaler Identität aus den Personenstandsregistern streicht", erklärte Amthor. Auch die beiden großen Kirchen hatten sich zuvor für die Beibehaltung der Möglichkeit der freiwilligen Angabe der Religionszugehörigkeit eingesetzt – auch hier wieder ohne Erfolg.
Bezeichnend für die reservierte Haltung der Koalition zu religiösen Fragen und eine gewisse Ignoranz gegenüber der weltweiten Bedeutung von Religionen wirkte auch die Debatte um das Referat "Religion und Außenpolitik" im Auswärtigen Amt. Mitte Oktober wurde bekannt, dass das Ministerium für das Referat künftig keine Religionsvertreter mehr als externe Berater engagieren will. Eine Überprüfung der externen Beratung sei zu dem Ergebnis gekommen, die Beratung auszusetzen, begründete das Ministerium die Entscheidung.
Die Entscheidung löste nicht nur bei der Union, sondern auch bei Kirchenvertretern Befremden aus. So äußerte der Benediktinermönch Nikodemus Schnabel, der von 2018 bis 2019 selbst als Berater für das Ministerium tätig war, die Sorge, dass das Referat mit anderen Themen zusammengeschmolzen werden könnte. "Und ich befürchte tatsächlich auch, dass der Name verschwindet, dass also Religion nicht mehr im Organigramm des Auswärtigen Amts vorkommt. Und das würde ich für wirklich skandalös halten", so der in der Jerusalem lebende Benediktiner. Schließlich sei Religion "nicht irgendein zivilgesellschaftlicher Faktor, sondern der größte zivilgesellschaftliche Player auf diesem Planeten" betonte Schnabel.
Vehemente Wortmeldungen zu vor allem zu innerkatholischen Vorgängen
Auch der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, Prälat Karl Jüsten, rief die Bundesregierung dazu auf, Religionen weiterhin als wichtigen Faktor in der internationalen Politik wahrzunehmen und politisch entsprechend zu handeln. "Mit großem Interesse haben wir verfolgt, dass in den beiden vergangenen Legislaturperioden die Religionen als Faktor in der Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik eine große Rolle spielten. Hier wurden wichtige Akzente gesetzt. Angesichts der Bedeutung des Themas sollten in diesem Feld weitere Anstrengungen unternommen und erfolgreiche Ansätze verfolgt werden", betonte der Geistliche.
Bemerkenswert im ersten Jahr der Ampel waren zudem zahlreiche durchaus vehemente Wortmeldungen aus den Reihen der Koalition vor allem zu innerkatholischen Vorgängen. So bezeichnete etwa der religionspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Lars Castellucci, den bisherigen Weg der Aufarbeitung des kirchlichen Missbrauchsskandals mittels einzelner, diözesaner Missbrauchsstudien als "verrückt", während die religionspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Sandra Bubendorfer-Licht, Bischof Bätzing und den neuen Missbrauchsbeauftragten Bischof Helmut Dieser dazu aufforderte, auch gegen Widerstände von anderen Bischöfen Reformen in der Kirche durchzusetzen. Wörtlich erklärte sie: "Sie müssen mobilisieren, zusammenführen und auch klare Kante zeigen gegen die Bischöfe, die lediglich blockieren wollen."
Auch die jüngst beschlossene neue Grundordnung des kirchlichen Dienstes, innerkirchlich teilweise durchaus als Meilenstein angesehen, wurde von der Ampel eher kühl aufgenommen. Die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Ferda Ataman, betonte zwar, dass die neue Grundordnung "in einigen Bereichen in die richtige Richtung“ gehe. Allerdings halte sie es nach wie vor für problematisch, dass Mitarbeitende auch im verkündigungsfernen Bereich gekündigt werden könnten, wenn sie aus der Kirche austräten. "Ich würde mir wünschen, dass Menschen, die bei den Kirchen arbeiten, die gleichen Rechte und Pflichten haben wie diejenigen, die in der privaten Wirtschaft oder bei öffentlichen Arbeitgeber*innen arbeiten", so Ataman, die in diesem Zusammenhang auch die Kirchenklausel im Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz in Frage stellte. Es sei "nicht in Ordnung, dass eine unterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmenden wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften für zulässig erklärt" werde.
Wie geht es weiter im Verhältnis von Ampel und Kirchen?
Doch bei allen Differenzen: Im Gespräch blieben Ampel und Kirchen in den vergangenen zwölf Monaten trotzdem – und natürlich gab es auch Gemeinsamkeiten, etwa bei der Bewertung des russischen Angriffs auf die Ukraine oder bei der Hilfe für die gerade auch aus der Ukraine nach Deutschland kommenden Flüchtlingen. Und auch für das im November mit der Koalitionsmehrheit beschlossene Triage-Gesetz fanden die Kirchen lobende Worte. "Wir begrüßen, dass der Gesetzgeber betont, wie sehr es darauf ankommt, eine Triage-Situation von vorneherein soweit als irgend möglich zu vermeiden", erklärte etwa der DBK-Vorsitzende Bischof Bätzing nach der Entscheidung. Wenn es aber doch zu einer Triage-Situation komme, habe der Gesetzgeber völlig zu Recht besonderen Wert darauf gelegt, bei der notwendigen Auswahlentscheidung jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung, Gebrechlichkeit, Alter, ethnischer Herkunft, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung strikt zu vermeiden.
Es dürfte spannend werden, wie sich das Verhältnis von Ampelkoalition und Kirchen im weiteren Verlauf der Legislaturperiode entwickelt, zumal aus Sicht der Kirchen in den kommenden Monaten noch einige Herausforderungen warten. Denn: Auch aufgrund der hohen Belastungen durch den Krieg in der Ukraine hat die Ampelregierung einige im Koalitionsvertrag vereinbarte Reformvorhaben etwa im Bereich der Familienpolitik, die vor allem die katholische Kirche kritisch beurteilt, bislang noch gar nicht in Angriff genommen. Von der geplanten Ablösung der Staatsleistungen, die ebenfalls jede Menge Konfliktpotential für das künftige Verhältnis birgt, ganz zu schweigen.