Flüchtlingsbischof Heße: Dürfen in unserem Engagement nicht nachlassen
Der Ukraine-Krieg, Bewegungen über die Balkanroute: Die Zahl der Flüchtlinge ist deutschland- wie europaweit zuletzt stark angestiegen und dürfte dies weiter tun. Der Flüchtlingsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Hamburgs Erzbischof Stefan Heße, spricht über kirchliche Hilfsmaßnahmen, Vergleiche zum Jahr 2015 – und die Hoffnung auf tragfähige politische Entscheidungen in der EU.
Frage: Herr Erzbischof Heße, was erwarten die beiden großen Kirchen mit Blick auf die Flüchtlingszahlen für den Winter?
Heße: Infolge des brutalen russischen Angriffskrieges sind europaweit 7,8 Millionen Menschen aus der Ukraine als Flüchtlinge registriert. Mit seinen Angriffen auf die ukrainische Infrastruktur setzt Russland nun gezielt Kälte als Waffe gegen die Zivilbevölkerung ein. Deshalb müssen wir damit rechnen, dass die Zahl der Geflüchteten weiter steigt. Dies gilt sowohl für die Binnenvertriebenen als auch für Menschen, die im Ausland Schutz suchen.
Frage: Wie können beziehungsweise werden die Kirchen den Menschen helfen?
Heße: Bereits heute hat die kirchliche Flüchtlingshilfe beide Gruppen im Blick. So trägt die Arbeit der Hilfswerke maßgeblich dazu bei, dass notleidende Menschen in der Ukraine Lebensmittel und medizinische Versorgung erhalten. Und auch in Deutschland oder Polen übernehmen die Diözesen, Kirchengemeinden und kirchlichen Wohlfahrtsverbände eine wichtige Rolle, wenn es um die Aufnahme und Begleitung ukrainischer Flüchtlinge geht. Bei meiner Reise in die Ukraine und nach Polen im Sommer dieses Jahres wurde mir deutlich: Es handelt sich um eine langfristige Aufgabe – wir dürfen in unserem Engagement nicht nachlassen!
Frage: Derzeit gibt es Flüchtlingsbewegungen unter anderem über die Balkanroute, die Beobachter mit der des Jahres 2015 vergleichen. Wie sehen Sie das?
Heße: Die Wege schutzsuchender Menschen sind in den vergangenen Jahren schwieriger und gefährlicher geworden. Eine Ursache dafür sind jene politischen Maßnahmen, mit denen eine "Schließung der Balkanroute" erreicht werden sollte. Mittlerweile scheinen "Pushbacks" an den EU-Außengrenzen zum Alltag zu gehören – eine inakzeptable Verletzung des Völkerrechts. Vergleiche mit 2015 haben nicht selten einen dramatisierenden Unterton und helfen wenig, die aktuellen Herausforderungen anzugehen.
Frage: Jüngst kam es zu Anschlägen auf Flüchtlingsheime – just in jenen Tagen, da immer wieder an die Anschläge aus den 90er-Jahren erinnert wird. Warum schaffen wir es immer noch nicht Geflüchtete angemessen zu schützen – und Rechtsextreme in die Schranken zu weisen?
Heße: Trotz der rassistischen Ausschreitungen und Mordanschläge haben wir in Deutschland die Bedrohung des Rechtsextremismus viel zu lange unterschätzt. Dabei stellt der rechte Terror eine fundamentale Gefahr dar – für die Menschen, deren Leben er bedroht, und für unsere Gesellschaft insgesamt. Es darf nicht sein, dass Menschen, die Krieg und Leid entflohen sind, in Deutschland erneut mit dumpfer Gewalt konfrontiert werden. Deshalb brauchen wir breite Bündnisse gegen jede Form des Rassismus und der Menschenfeindlichkeit. Politik, Kirchen und Zivilgesellschaft stehen hier gemeinsam in der Verantwortung. Das starke Engagement, das es in den Kirchen für die Anliegen geflüchteter Menschen und für ein respektvolles Miteinander gibt, ist eine wichtige Ressource, um der rechtsextremen Gefahr entgegenzuwirken.
Frage: Ein Blick über den Tellerrand: In Italien hat eine postfaschistische Regierung ihr Amt angetreten. Italiens Bischöfe haben der neuen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bereits gratuliert. Hardliner in der Flüchtlingsfrage wie Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban freuen sich auf die Zusammenarbeit mit Meloni. Wie blickt der Flüchtlingsbischof der katholischen Kirche in Deutschland auf diese Entwicklungen?
Heße: In seinem Schreiben an die neue Regierungschefin hat der Vorsitzende der Italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Matteo Zuppi, daran erinnert, dass die Aufnahme und Integration von Migranten eine vordringliche Aufgabe darstellt. Und er hat klargestellt: Gerade in Zeiten des Krieges braucht es ein europäisches Einvernehmen. Ich bin davon überzeugt, dass solidarische Lösungen in der EU-Flüchtlingspolitik letztlich auch im italienischen Interesse liegen.
Frage: Derzeit beraten die EU-Mitgliedstaaten – wieder einmal – über die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen. Sehen Sie irgendein Anzeichen, das Hoffnung macht auf eine Einigung im x-ten Anlauf?
Heße: Ende November hatte ich die Gelegenheit, das Migrationswort der Kirchen gegenüber den EU-Institutionen in Brüssel vorzustellen; es trägt den programmatischen Titel "Migration menschenwürdig gestalten". Bei den Diskussionen war zu spüren: Es besteht ein großer Leidensdruck, dass die Reform der europäischen Flüchtlingspolitik in dieser Legislaturperiode des Europaparlaments – das heißt bis Frühjahr 2024 – endlich gelingt.
Frage: Aber wie ließe sich dieses Ziel verwirklichen?
Heße: Statt problematischer ad-hoc-Lösungen brauchen wir eine verlässliche Basis für mehr Solidarität und Humanität. Bei meinen Gesprächspartnern gab es zumindest die vorsichtige Hoffnung, dass man sich in absehbarer Zeit auf ein neues Migrations- und Asylpaket verständigen kann. Die vergleichsweise unkomplizierte Aufnahme ukrainischer Schutzsuchender zeigt, was mit dem entsprechenden politischen Willen möglich ist.