Dogmatiker Helmut Hoping über eine kontroverse kirchliche Lehre

Das Böse in uns – ist die Erbsündenlehre noch zu retten?

Veröffentlicht am 13.12.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Adam und Eva haben Schuld auf sich geladen – und wir tragen noch heute an dieser Schuld. Aber kann man überhaupt noch an dieser Lehre und diesem Menschenbild festhalten? Ein bekannter Theologe will die Erbsünde abschaffen. Der Freiburger Dogmatiker Helmut Hoping hält jedoch dagegen.

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Der Dogmatiker Hermann Häring macht die christliche Lehre von der Erbsünde für viele kirchliche Fehlentwicklungen verantwortlich: In einem Beitrag für die Zeitschrift "Christ in der Gegenwart" machte er jüngst die Lehre, nach der auf jedem Menschen als einem Nachfahren von Adam und Eva von Geburt an die Erbsünde lastet, für vieles verantwortlich, was die Kirche aus seiner Sicht heute plagt: Klerikalismus, Sexualphobie und Frauenhass. Doch kann man die Lehre von der Erbsünde derart in Bausch und Bogen verdammen? Oder gibt es doch etwas, das sich zu retten lohnt? Im katholisch.de-Interview sieht auch der Freiburger Dogmatiker Helmut Hoping Gründe für eine Neubewertung. Doch für ihn ist die Erbsünde zu retten – sie stelle sogar eine wichtige Einsicht in das Wesen des Menschen dar.

Frage: Professor Hoping, Ihr Kollege Hermann Häring hat eine ganz grundsätzliche Kritik an der Lehre der Kirche zur Erbsünde geäußert. Sehen Sie auch Gründe für eine Neubewertung?

Helmut Hoping: Dafür sehe ich durchaus Gründe. Augustins Erbsündenlehre ist ebenso wenig zu halten wie der damit verbundene Heilspartikularismus. Für ein peccatum originale (Ursünde) können wir nicht mehr auf das Fortpflanzungsschema zurückgreifen. Augustins Heilspartikularismus, wonach nur wenige gerettet werden, ist mit dem universalen Heilswillen Gottes unvereinbar, was nicht ausschließt, dass einzelne für immer verloren gehen, auch wenn wir für alle hoffen dürfen.

Von Augustins Erbsündenlehre ist die definierte Lehre vom peccatum originale des Konzils von Trient zu unterscheiden, die besagt, dass das Böse nicht allein durch Nachahmung geschieht, sondern in der Existenz jedes einzelnen von uns wurzelhaft angelegt ist. Das ist mit der Sünde Adams in uns gemeint. Weil wir alle davon betroffen sind, rekurriert das Konzil auf den Generationenzusammenhang.

Bild: ©privat (Archivbild)

Helmut Hoping ist seit 2000 Professor für Dogmatik und Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg. Schon in seiner Dissertation mit dem Titel "Freiheit im Widerspruch" befasste er sich mit der Erbsündelehre. 1995 wurde Hoping zum ständigen Diakon geweiht.

Frage: Das mit dem Begriff der "Erbsünde" verbundene Unbehagen dürfte auch auf diesem Generationenzusammenhang beruhen. Wie kann eine Sünde etwas sein, das geerbt wird? Ein Erbe ist ja gerade unverschuldet, und eine Erbsünde scheint im Gegensatz zur menschlichen Freiheit zu stehen.

Hoping: Die Lehre vom peccatum originale (engl. original sin; frz. péché origine) – das deutsche Wort "Erbsünde" ist eher irreführend – ist in ihrem Kern eine Antwort auf die Frage unde malum, woher kommt das Böse, in diesem Fall das malum morale, das heißt das Böse, das Menschen tun. Diese Frage hat nicht nur Augustinus beschäftigt, sondern andere nach ihm, auch Immanuel Kant, der das Böse in seiner Religionsschrift auf ein radikal Böses im Menschen zurückführt, weshalb der Mensch für Kant von Natur aus nicht nur gut ist. In der Tat ist die reale Freiheit die Freiheit zum Guten und zum Bösen. Keiner von uns ist davon ganz frei, Böses zu tun. Der Mensch ist der "Freigelassene der Schöpfung" (Johann Gottfried Herder), seine Freiheit aber immer schon vom Bösen affiziert. Kant war unter den Aufklärern derjenige, der es wagte, die Macht des Bösen in uns zu benennen, wofür ihn Johann Wolfgang von Goethe scharf kritisierte. Paul Ricoeur hat in seiner Phänomenologie des Bösen das peccatum originale als tiefgründige anthropologische Wahrheit gewürdigt.

Frage: Häring macht die Erbsündenlehre für kirchliche Fehlentwicklungen verantwortlich und sieht viel Revisionsbedarf. Kann man sagen, dass der Erbsündenglaube "zu einer allgemeinen Freiheits- und Weltangst, zur Angst vor Selbstständigkeit und Autonomie, schließlich zu Sexualphobie und Frauenhass" geführt habe?

Hoping: Man kann nicht bestreiten, dass Augustins Erbsündenlehre und sein Heilspartikularismus nicht wenig Unheil produziert haben. Man denke etwa an die Sorge von Eltern um das Schicksal ihrer ungetauft verstorbenen Kinder, die nicht nur Augustinus vom Himmel ausgeschlossen hat. Oder an die mittelalterliche Angst vor der Hölle und dem Fegefeuer, die wie eine Folterkammer ausgemalt wurden. Doch für Weltangst, Sexualphobie und Frauenhass, die Häring mit der Ursünde in Verbindung bringt, gibt es viele historische Gründe. Weltangst wie Weltflucht existierten auch außerhalb jüdisch-christlichen Überlieferung. Frauenhass ist, wie historische Studien zeigen, eine Konstante der Menschheitsgeschichte, also nicht spezifisch für die Kirche.

Der Zusammenhang, den Häring zwischen Erbsündenlehre und Theodizee herstellt, ist historisch falsch. Häring schreibt: "Der Glaubenssatz von der Erbsünde behauptet, er könne plausibel die verheerende Rolle des Bösen in Menschheit und Welt sowie die grausamen Menschenschicksale mit dem Glauben an einen gütigen Gott versöhnen." Doch Augustins Lehre von peccatum originale diente nicht dazu, das sogenannte Theodizeeproblem zu lösen. Augustinus begründete seine Lehre gegenüber seinem Kontrahenten Pelagius vor allem gnadentheologisch. Die Notwendigkeit einer Theodizee, wie sie Leibniz für nötig hielt, mit der er freilich scheiterte, sah Augustinus ebenso wenig wie Hiob. Für beide bestanden keine wirklichen Zweifel, dass Gott sowohl gütig als auch gerecht sei, auch wenn menschliches Verstehen hier an seine Grenze stößt.

Frage: Häring zieht die Verbindung zwischen Erbsündenlehre und Kirchenkrise. Welches Verhältnis sehen Sie hier?

Hoping: Man müsste sich zunächst einmal darüber verständigen, worin die Kirchenkrise besteht, ob sie im Kern eine Glaubenskrise ist oder eine Krise des Amtes und kirchlicher Strukturen, wie Theologen des Synodalen Weges meinen, denen Häring zustimmt. Wir sehen, dass bei der Frage nach den Ursachen der Missbrauchskrise einfache Erklärungsmuster verbreitet sind. Vor allem Klerikalismus und Zölibat werden als systemische Ursachen von sexuellem Missbrauch ausgemacht. Die Dinge sind freilich komplexer. Die priesterliche Sakralmacht, von der immer wieder die Rede ist, erklärt keineswegs, warum einzelne Priester Minderjährige sexuell missbrauchen. Die entscheidenden Faktoren sind vor allem sexuelle Unreife, Verdrängung, Ephebophilie oder Pädophilie und pädokriminelle Energie. Priester, die Probleme mit dem Zölibat haben, vergreifen sich in der Regel nicht an Kindern, Möglichkeiten zur nichtkriminellen Triebabfuhr gibt es für Kleriker zahlreiche, wie nicht nur die Zeit der Renaissance zeigt.

Bei Häring gilt die Lehre vom peccatum originale als Schlüssel zum Verständnis der Kirchenkrise. Selbst das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens macht er dafür mitverantwortlich (Härings Beitrag im "Christ in der Gegenwart" erschien zum Fest der Immaculata Conceptio am 8. Dezember). Auch die Entkirchlichung erklärt Häring mit dem peccatum originale. Von einer Entchristlichung will Häring nichts wissen, das Problem ist für ihn der "Kirchenverlust": "Keine Entchristlichung, sondern Entkirchlichung ist angesagt", schreibt er. Doch wie soziologische Untersuchungen zeigen, lässt sich das eine vom anderen nicht sauber trennen.

Ein Kirchenfenster zeigt die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies.
Bild: ©jorisvo/Fotolia.com (Archivbild)

Der Schrift nach vertrieb der Erzengel Michael Adam und Eva aus dem Paradies – von der Ursünde Adams sind gemäß der Lehre der Kirche alle Menschen gezeichnet.

Frage: Ist es nicht dennoch denkbar, dass die Erbsündenlehre eine spezifisch katholische systemische Ursache ist, die Machtmissbrauch und Klerikalismus begünstigt?

Hoping: Wenn Häring meint, mit der Lehre von der Ursünde die Krise der katholischen Kirche erklären zu können, ist das schon deshalb wenig überzeugend, weil die Kirche Luthers an dessen Auffassung von der Ursünde beziehungsweise Personsünde des Menschen festhält, sofern sie Voraussetzung seiner Rechtfertigungslehre ist, wonach sich der Mensch nicht aus eigener Kraft von der Macht des Bösen, die seine Freiheit beherrscht, befreien kann, sondern die Rechtfertigung des Sünders sola gratia geschieht. Die Kirchen der Reformation haben all das nicht, was Häring beschwert und mit der Lehre vom peccatum originale erklärt: das priesterliche Amt, die Weihehierarchie, zölibatäre Lebensform, eine naturrechtlich begründete Ehe- und Sexualmoral und so weiter.

Frage: Wenn man den Begriff der Erbsünde positiv wendet: Welche Bedeutung hat die Erbsündenlehre heute für den Glauben und das Leben von Menschen?

Hoping: Die Lehre von der Ursünde, davon spreche ich lieber als von der Erbsünde, erinnert uns daran, dass die wahre Freiheit in der Gnade Gottes gründet. Wenn wir von der Macht der Sünde in uns sprechen, können wir zu ihrem Verständnis nicht mehr von einer durch Zeugung weitergegebenen Schuld sprechen. Doch in der tiefsitzenden Inklination unseres Willens zum Bösen manifestiert sich, was wir peccatum originale nennen. Ich sehe weder anthropologisch noch theologisch überzeugende Gründe dafür, von eine Freiheit auszugehen, die in ihrem Innersten von der Sünde nicht affiziert ist, wie dies etwa in der Schule von Thomas Pröpper geschieht, wo von einer selbstursprünglichen Freiheit im Verhältnis zu Gott gesprochen wird, auch im Blick auf die Rechtfertigung des Sünders. Doch eine reine Autonomie ist eine Fiktion. Freiheit geht aus Befreiung hervor, gesellschaftlich wie individuell. Das peccatum originale, von dessen beherrschender Macht wir durch Glauben und Taufe befreit werden, meint, dass die Wurzel des Bösen in den Grund unseres bewussten Selbst- und Weltverhältnisses zurückreicht.

"Bestimmte neue Theologen bestreiten die Erbsünde, die der einzige Teil der christlichen Theologie ist, der wirklich bewiesen werden kann", meinte der Schriftsteller G. K. Chesterton. Von einem Beweis würde ich nicht sprechen, wohl aber von einer hohen anthropologischen Triftigkeit dafür, dass das Böse in uns radikal ist.

Von Felix Neumann