Legitimation des Krieges durch Glauben habe sich jedoch gewandelt

Experte: Religiöse Propaganda in Kiew und Moskau allgegenwärtig

Veröffentlicht am 27.12.2022 um 12:11 Uhr – Lesedauer: 

Frankfurt ‐ Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine ist die militärische Auseinandersetzung auch religiös aufgeladen – etwa als "Heiliger Krieg" gegen den Westen. Ostkirchenexperte Reinhard Flogaus macht hierbei jedoch einen Wandel aus.

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Der russische Krieg in der Ukraine wird aus Sicht des Berliner Ostkirchenkundlers Reinhard Flogaus immer schärfer religiös aufgeladen. Schon zu Beginn des Angriffs habe es insbesondere von Seite der russisch-orthodoxen Kirche eine religiöse Legitimation für den Angriff gegeben; diese habe sich aber in den vergangenen Monaten stark gewandelt, schreibt Flogaus in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Dienstag).

Zu Beginn des Krieges hätten sowohl der Präsident Wladimir Putin als auch der Moskauer Patriarch Kyrill I. vor allem die Unterstützung der russischsprachigen orthodoxen Bevölkerung im Nachbarland betont, so der Experte. Dabei hätten sie sich auch auf die Maßnahmen der ukrainischen Regierung gegen die damals noch dem Moskauer Patriarchat unterstehenden Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) – im Gegensatz zur eigenständigen Orthodoxen Kirche der Ukraine – stützen können. Inzwischen hat sich die UOK weitgehend von Moskau emanzipiert.

Im stockenden Verlauf des Krieges sowie in der russischen Teilmobilmachung habe sich das Narrativ nun geändert, erklärt Flogaus. Inzwischen kämpften die Soldaten einen "Heiligen Krieg" gegen den "satanischen Westen". Besonders kritisiert der Kirchenhistoriker die Äußerung von Patriarch Kyrill, Gefallene erhielten sofortigen Sündenablass und Eingang ins Paradies.

Selenskyi strebt gesetzliches Verbot von UOK an

"Mit dieser Ausweitung der Sünden vergebenden Wirkung des Kreuzestodes Christi auf den Tod von Soldaten auf dem Schlachtfeld überschritt Patriarch Kyrill die Grenze zur Häresie. Diese Behauptung widerspricht nicht nur der orthodoxen Lehre; sie erinnert auch fatal an jenes Ablassversprechen, das Papst Urban II. 1095 mit der Teilnahme am Ersten Kreuzzug verbunden hatte", so der Historiker.

Aber auch von ukrainischer Seite spiele Religion durchaus eine Rolle, schreibt Flogaus. So hat der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU in den vergangenen verstärkt Razzien gegen Geistliche der UOK durchgeführt. Diese stünden im Verdacht, als "fünfte Kolonne" Moskaus zu dienen.

Ein gesetzliches Verbot der UOK, wie es der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi derzeit anstrebe, wird laut dem Forscher allerdings keinen Bestand vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg haben können. Dennoch zeige sich, dass der religiöse Konflikt zuletzt verstärkt eine Rolle spiele, urteilt Flogaus: "Nicht nur in Moskau, sondern auch in Kiew ist religiöse Propaganda derzeit allgegenwärtig." (KNA)