Mutmaßliches Opfer von Kardinal Ouellet wendet sich an Öffentlichkeit
Die Frau, die Kardinal Marc Ouellet in einer Klage Übergriffe vorwirft und dafür von ihm wegen übler Nachrede verklagt wurde, wendet sich an die Öffentlichkeit. Laut "Radio Canada" (Freitag) hat sie im Beisein ihres Anwalts erklärt, nun aus der Anonymität zu treten. "Ich bin nicht mehr F, ich bin Paméla Groleau", zitiert der Radiosender die Frau. Sie sei bislang anonym geblieben, um ihr Umfeld, ihre Arbeitsstelle und ihre psychische Gesundheit zu schützen. Jetzt habe sie aber den Eindruck, dass ihr Kampf nicht mehr nur ihr eigener sei. Die Kirche, der sie selbst angehöre, müsse sich der Betroffenen besser annehmen. "Ich möchte sehen, wie sie sich dem Missbrauch stellt, anstatt ihn zu leugnen, möchte hören, wie sie allen, die sich als Opfer bezeichnen, mit neutralen, unparteiischen, unabhängigen, strengen und professionellen Mechanismen begegnet", so Groleau.
Die Frau wirft dem damaligen Erzbischof von Quebec Ouellet "nicht einvernehmliche Berührungen sexueller Art" vor. Die mutmaßlichen Übergriffe sollen zwischen 2008 und 2010 stattgefunden haben, als Groleau in der Erzdiözese eine pastorale Ausbildung absolviert hat. 2020 hatte sie sich an die Beschwerdestelle der Erzdiözese gewandt, dem Vatikan sind die Vorwürfe seit 2021 bekannt. Im Dezember 2022 teilte Ouellet in einer persönlichen Erklärung mit, dass er eine Klage wegen übler Nachrede vor einem Gericht in Quebec eingereicht und Schadensersatz verlangt habe.
Den Umgang des Erzbistums Quebec und des Vatikans mit ihr empfand sie laut "Radio Canada" als "zweiten Übergriff". Sie habe anonyme Schreiben erhalten, die sie einschüchtern sollten, und fürchte um ihre jetzige Stelle als pastorale Mitarbeiterin in einer anderen Diözese. Ihr Anwalt Alain Arsenault, der nach eigenen Angaben bis zu 2.400 Betroffene in mehr als 20 Sammelklagen gegen die Kirche vertreten hat, sagte, es sei das erste Mal, dass ein beschuldigter Priester mit einer Verleumdungsklage reagiere.
Sammelklage beschuldigt 88 Kleriker
Im vergangenen August wurde bekannt, dass sich über 100 Betroffene einer Sammelklage in Kanada angeschlossen haben. Beschuldigt werden 88 Kleriker. Die meisten der mutmaßlichen Taten sollen in den 1950er- und 1960er-Jahren stattgefunden haben. Ouellet ist den Angaben zufolge der prominenteste unter den Beschuldigten. Von Anfang an wies er die Vorwürfe zurück. Mit der kirchenrechtlichen Voruntersuchung gegen den jetzigen Präfekten der Bischofskongregation beauftragte Papst Franziskus einen langjährigen Vertrauten Ouellets, der keine juristischen oder kirchenrechtlichen Qualifikationen hat. Die Voruntersuchung habe "keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Eröffnung einer kanonischen Untersuchung wegen sexueller Nötigung von Kardinal Ouellet gegen Person F" ergeben, teilte Vatikansprecher Matteo Bruni kurz nach Bekanntwerden der Sammelklage mit. Gegenüber katholisch.de schätzte der Tübinger Kirchenrechtler Bernhard Sven Anuth anhand der öffentlich bekannten Darstellungen die Sachlage so ein, dass die dem Kardinal vorgeworfenen unerwünschten Berührungen, Umarmungen, Massagen und Küsse zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt als Zölibatsverstoß, nicht aber als Straftat nach dem Kirchenrecht eingeordnet werden können.
Ouellet ist seit 2010 Präfekt des jetzigen Bischofsdikasteriums und Mitglied der Priestergemeinschaft der Sulpizianer. Nach Lehraufträgen in Dogmatik, zuletzt an der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom, ernannte ihn Papst Johannes Paul II. 2001 zum Sekretär des Päpstlichen Rates für die Förderung der Einheit der Christen. 2002 wurde er Erzbischof von Quebec und 2003 zum Kardinal erhoben. Papst Benedikt XVI. holte Ouellet 2010 als Kardinalpräfekt zurück an die Kurie. Als Leiter des Bischofsdikasteriums, das unter anderem für die Auswahl von Bischofskandidaten zuständig ist, ist Ouellet einer der einflussreichsten Kardinäle an der Kurie. Der 78-jährige galt zeitweise als aussichtsreicher Kandidat für eine Papstwahl. In jüngster Zeit wurde erwartet, dass er im Zuge der Umsetzung der Kurienreform an der Spitze des Bischofsdikasteriums bald abgelöst werde. (fxn)