Ordensfrau im Erdbebengebiet: "Helft uns"
Schwester Annie Demerjian lebt und arbeitet in Damaskus und in Aleppo und gehört zur Gemeinschaft der Schwestern Jesu und Mariens. Im Gespräch mit katholisch.de berichtet sie über die Situation vor Ort. Wir erreichen sie abends am Telefon. Am Tag gibt es nur eine Stunde Strom. Die Verbindung bricht immer wieder ab. Demerjian wird die Nacht, in der die Erde bebte, nicht vergessen.
Frage: Schwester Annie, wie haben Sie das Erdbeben erlebt?
Schwester Annie: Ich bin in dieser Nacht um vier Uhr morgens aufgewacht. Mein Bett hat sich bewegt. Ich war geschockt. Ich dachte nur: Was ist los? Dann hörte ich eine Mitschwester schreien. Sie ist auf den Boden gestürzt, weil sich alles bewegte und drehte. Die Erde bebte schnell und lange. Es hörte nicht auf. Dieses schreckliche Erdbeben traf uns aus heiterem Himmel.
Frage: Gab es keine Warnung?
Schwester Annie: Nein, keine Vorwarnung, nichts. Wir leben in Syrien schon seit 12 Jahren im Krieg. Uns terrorisieren Bomben und Granaten, sie lassen uns in der Nacht aufschrecken, sie zerstören viel. Immer wieder gibt es hier auch Erdbeben. Aber die sind schnell wieder vorüber. Aber dieses Erdbeben vor drei Tagen war so stark, so gewaltig. Wir wussten nicht, dass ein Erdbeben unser Leben hier komplett zerstören kann. Es ist eine große Katastrophe.
Frage: Wie geht es Ihnen jetzt?
Schwester Annie: Wir haben überlebt. Was soll ich sonst sagen? Viele haben es nicht geschafft, noch rechtzeitig aus ihren Häusern zu rennen, um ihr Leben zu rennen. Tausende sind tot oder verletzt. Ganze Familien, Kinder, auch viele alte Menschen, die alleine nicht aus den Häusern kamen. Es ist furchtbar. So viele Familien sind in den Trümmern begraben worden. Viele haben ihre Kinder verloren. Die Menschen hier sind verzweifelt und sie leiden. Ich habe heute gehört, dass in einem Nachbarort eine ganze Familie beerdigt wurde. Es ist schmerzhaft, so eine Katastrophe erleben zu müssen. Die Menschen, die überlebt haben, haben jetzt große Angst vor einem neuen Erdbeben. Sie wollen nicht in ihre Häuser zurück. Eine ehrenamtliche Helferin hat mir erzählt, dass sie seit dem Erdbeben nur noch in ihrem Auto übernachtet. Viele übernachten auch in Kirchen, in den Moscheen, in Schulen. Die Solidarität der Menschen untereinander ist groß. Noch wird unter den Trümmern nach den Verschütteten gesucht. Das viele Leid ist nur schwer auszuhalten.
Frage: Ich habe gehört, dass auch ein Priester in Aleppo in einer Kirche ums Leben kam?
Schwester Annie: Ja, dieser libanesische Priester ist unser Freund gewesen. Pfarrer Imad Daher war ein Freund von uns allen hier. Wir sind gemeinsam zur Schule in Aleppo gegangen. Wir haben zusammengearbeitet. Ich kannte ihn fast mein ganzes Leben lang. Er war immer sehr freundlich und hat uns Schwestern jedes Mal, wenn wir nach Aleppo kamen, freudestrahlend begrüßt. Er wohnte in dem Stadtteil Aziziyah. Dort gab es ein Haus mit zwei Wohnungen neben der Kirche. Auf der einen Seite wohnte er, auf der anderen Seite der emeritierte Erzbischof Jean-Clement Jeanbart. Bei dem Erdbeben ist die eine Hälfte des Gebäudes komplett in sich zusammengebrochen. Die Hälfte, in der Imad zu Hause war. Man hat seinen Leichnam aus den Trümmern geborgen. Bei dem Einsturz kam auch noch eine armenische Familie ums Leben. Der Bischof hat schwer verletzt überlebt. Pfarrer Imad wird uns hier in Aleppo unendlich fehlen. Schon vor vielen Jahren hat er sich Kriegsverletzungen zugezogen. Er war auf einem Auge blind und hatte einen Arm verloren. Aber er wollte nicht weg aus Syrien, er wollte bleiben und für die Menschen da sein. Und jetzt hat er sein Leben verloren. Sein Leichnam wird in den nächsten Tagen nach Damaskus gebracht. Dort leben noch seine Mutter und seine Geschwister. Sie wollen sich von ihm verabschieden. Für uns war er ein heiliger Mann. Wir haben sehr viel geweint, als wir von seinem Tod erfahren haben. Wir beten für ihn und für alle, die geliebte Menschen durch diese furchtbaren Erdbeben verloren haben.
Frage: Fragen Sie sich in diesen Tagen oft, warum Gott so ein Unglück zulässt?
Schwester Annie: Ich gebe Gott nicht die Schuld für dieses Unglück. Nein, Gott macht das nicht, um uns hier zu verletzen. Gott ist nicht verantwortlich dafür. Vielleicht ist es unsere Schuld, weil wir unsere Mutter Erde nicht gut behandelt haben? Ich weiß es nicht. Vor fast genau zehn Jahren habe ich schon mal einen guten Freund hier verloren. Er war auch Priester. Als er damals wegen des Krieges starb, habe ich Gott gefragt: Warum? Und jetzt frage ich wieder: Warum Gott? Es ist nicht fair. Ich habe keine Antwort bekommen. Ich weiß nur, dass diese beiden Priester jetzt ganz nah bei Gott sind. Das tröstet mich ein wenig.
Frage: Wie helfen Sie nun den Menschen konkret vor Ort?
Schwester Annie: Wir sind neun Schwestern hier, fünf in Damaskus und vier in Aleppo. Weil ich die Oberin bin, koordiniere ich die Gemeinschaft, die Hilfeleistungen und versuche Geldspenden zu sammeln, Notunterkünfte zu organisieren. Wir haben eine Notfallgruppe zusammengestellt mit Ehrenamtlichen. Wir helfen vor allem den Familien und den älteren Menschen. Wir haben Zelte aufgebaut für die, die kein Dach mehr über den Kopf haben. Wir besorgen Decken, Lebensmittel. Wir brauchen mehr Hilfe. So, dass wir den Familien das Nötigste kaufen können. So viele haben ihre Häuser, alles verloren. Das Leid ist unermesslich groß. Viele Häuser sind durch das Beben stark beschädigt und einsturzgefährdet. Sie müssen erst bautechnisch untersucht werden, bevor man dorthin wieder einziehen kann. All das sind nächste Schritte. Das alles dauert hier in Syrien und ist ein enormer Kraftakt für die Regierung. Aber es muss nun für Sicherheit gesorgt werden. Außerdem ist es kalt hier, es regnet, es schneit. Ein alter Mann sagte mir heute: Ich habe zwei Decken und ich friere noch immer. Es gibt keinen Strom. Es gibt keine Heizung. Hier in Damaskus haben wir am Tag eine Stunde Strom. In anderen Dörfern gibt es oft nur alle paar Tage eine Stunde Strom. Es gibt nichts, um sich aufzuwärmen. Die Menschen erfrieren.
Frage: Was ist Ihr Wunsch?
Schwester Annie: Ich frage mich, ob die Welt uns sieht und registriert, dass wir Hilfe brauchen. Wir fühlen uns allein gelassen. Unsere Priester, unsere Bischöfe bitten um Hilfe, aber sie werden nicht gehört. Alle hier bitten die Politiker, die Sanktionen gegen Syrien zu stoppen. Hören Sie uns überhaupt, frage ich mich? Die Situation ist bitter für die Menschen in Syrien und in der Türkei nach dem Erdbeben. Viele sind so arm, dass das Geld, das sie verdienen, nur für eine Woche zum Leben reicht. Wie soll es nun nach dem Beben weitergehen für sie? Es schmerzt mich auch sehr, dass uns viele helfen wollen, aber die Hilfe im Katastrophengebiet nicht ankommen kann, weil Grenzübergänge blockiert werden. Ich bitte Gott jeden Tag: Wir brauchen Hilfe! Ich denke, die Menschen hier haben genug gelitten.
Zur Person
Schwester Annie Demerjian (56) ist armenisch-katholische Ordensfrau und gehört zu den rund 1300 Schwestern der Ordensgemeinschaft der Schwestern Jesu und Mariens, deren Mutterkloster in Rom ist. Demerjian ist im Libanon geboren und lebt seit Anfang 2016 in Damaskus, ist aber monatlich einige Tage in Aleppo, um dort ihre Arbeit zu tun. Die Lage der Christen in der früheren Millionenstadt Aleppo hatte sich in den vergangenen Jahren durch die Verfolgung und Drangsalierung durch die Terrororganisation "Islamischer Staat" verschärft. Um die Arbeit von Schwester Annie Demerjian in Syrien zu unterstützen, sammelt ihr Orden Spenden. Auch KIRCHE IN NOT unterstützt die Arbeit der Schwestern vor Ort.