Eine moraltheologische Einordnung

Worte aus der Welt von gestern? Franziskus und die Homosexualität

Veröffentlicht am 18.02.2023 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Mainz ‐ Der Papst hat ein Interview gegeben, das manche begeistert und einige irritiert hat: Homosexualität sei "kein Verbrechen" – aber bleibt sie gelebt eine Sünde? Der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz schreibt in seinem Gastbeitrag über das moralische Ringen um katholische Identität.

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In den kurzatmig aufgeregten Debatten um den richtigen Weg der katholischen Kirche in einer Welt globaler Umbrüche lohnt innehaltendes Erinnern. Vor mehr als achtzig Jahren, mitten in den Kriegsjahren und kurz vor seinem Tod, schrieb Stefan Zweig (1881-1942) in Die Welt von Gestern: "Vielleicht auf keinem Gebiete des öffentlichen Lebens hat sich durch eine Reihe von Faktoren – die Emanzipation der Frau, die Freud’sche Psychoanalyse, den sportlichen Körperkult, die Verselbständigung der Jugend – innerhalb eines einzigen Menschenalters eine so totale Verwandlung vollzogen wie in den Beziehungen der Geschlechter zueinander." Die katholische Kirche ringt nicht erst seit Ende der 1960er Jahre, sondern seit der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts mit der Frage, ob sie sich von dieser Verwandlung erfassen lassen oder ihr widerstehen soll. Traditionsbewusst wie sie ist, will sie die redliche Überzeugung der Vergangenheit lange nicht preisgeben, dass im sinnlichen Verlangen die erbsündliche Verfassung des Menschen ihr Unwesen treibt. Sexualität wurde zuvorderst als Problem empfunden und darum moralisch streng reguliert. Mit der schweren Autorität des Augustinus und des Thomas von Aquin im Rücken, sollte die Sexualität sich beschränken auf das vital und sozial Notwendigste, das heißt auf die Zeugung von Kindern und die Stabilisierung der Ehe.

Ein kontroverses Interview mit Interpretationsspielraum

Kommt diese Haltung der Vergangenheit zum Vorschein in einem Interview, das Franziskus Nicole Winfield von Associated Press am 24. Januar 2023 gegeben und manche begeistert und einige irritiert hat? Erstmals sprach sich darin ein Papst explizit gegen die Kriminalisierung von Homosexualität aus. Wer Homosexualität als Verbrechen betrachte, müsse seine Haltung ändern – dies betreffe auch Bischöfe. Ein verächtlicher Umgang mit sexuellen Minderheiten, der in Teilen der katholischen Kirche verbreitet ist, lässt sich für Franziskus mit dem christlichen Glauben nicht vereinbaren. Er gibt nachholend denen Recht, die seit mehr als hundert Jahren ein Ende der Kriminalisierung der Homosexualität fordern und für ihre vermeintliche Anpassung an den säkularen Zeitgeist in katholischen Kreisen attackiert wurden. Zugleich gelte, dass gleichgeschlechtliches Sexualverhalten eine Sünde sei. Denn es werde außerhalb der Ehe ausgelebt. Auf eine weitere Begründung verzichtet der Papst; und lässt damit unter den Tisch fallen, was bis vor wenigen Jahren im Zentrum der lehramtlichen Missbilligung von Homosexualität stand: Weder die Bibel noch die Naturordnung werden von Franziskus bemüht, um die Sündhaftigkeit zu bestimmen. Man könnte das eine Delegitimierung von Argumenten durch Nichtbeachtung nennen.

In der mittelalterlichen Theologie wurde folgender Zusammenhang zwischen Sexualität und Ehe hergestellt: Um Schaden von Kindern abzuwenden, müssten sie von Frau und Mann aufgezogen werden. Der Frau mangele es an Vernunft und körperlichem Durchsetzungsvermögen, um sich allein um die Erziehung sorgen zu können. Darum wäre es sozial nicht zu verantworten, Sexualität außerhalb der festen ehelichen Bindung von Frau und Mann zu leben. So dachte die "Welt von Gestern" über die Fähigkeiten und Beziehungen der Geschlechter und über die Natürlichkeit der Ehe. Gleichgeschlechtliche Sexualität fiel völlig aus diesem Rahmen. Sie verfehlte den Zweck des männlichen Samens, ein Kind zu zeugen. Und sie beleidigte die soziale Hierarchie zwischen den Geschlechtern, die im Sexualverhalten zu respektieren sei. Um Liebe ging es dabei selten und wenn nur am Rande. Von der Beziehung "von Person zu Person" (Gaudium et spes Nr. 49) her die Sexualität zu regulieren, wie das letzte Konzil vorgeschlagen hat, ist eine moderne Entwicklung. Jetzt zählen Gleichberechtigung, Einvernehmlichkeit, Genussfähigkeit auf Augenhöhe.

Bild: ©stanislav_uvarov/Fotolia.com

Um Liebe ging es im mittelalterlichen Eheverständnis höchstens am Rande.

Offener und freier als in früheren Generationen wird seit den 1970er Jahren in der katholischen Theologie das Thema Sexualität behandelt – zugegeben erzwungenermaßen: Nicht nur passten die Werte der "Welt von Gestern" nicht mehr zu den Erfahrungen der Menschen von Heute; auch der Skandal des sexuellen Missbrauchs und seiner Vertuschung ließ eine weitere Tabuisierung nicht mehr zu. Es steckt mehr Vergangenheit als menschliche Wahrheit in dem Satz, gleichgeschlechtlicher Sex sei eine Sünde.

Was ist unter Sünde zu verstehen? Wenn grundlos und frei anderen Menschen bewusst Schaden zugefügt wird, spricht die Ethik von Schuld. Die theologische Deutung macht daraus eine Sünde, weil nur sündigt, wer an einen Gott glaubt, der unbedingt das Wohl der Menschen will. Aber welcher Schaden wird verursacht, welche Verletzung eines Guten bewirkt, wenn es jenseits der Zweigeschlechtlichkeit zu liebe- und respektvoller sexueller Intimität kommt? Die Bewertung der Segnung schwuler oder lesbischer Paare, um die es auf dem Synodalen Weg im März gehen wird, entscheidet sich an diesem Punkt. Verfechter der überlieferten Position sagen, dass die homosexuelle Praxis das gottgewollte Verhältnis der Geschlechter missachtet und darum gegenüber der Schöpfungsordnung ungehorsam ist, wie sie die Kirche verbindlich auslegt. Gott wolle klare und reproduktionsfähige Polarität, keine fluide Geschlechtlichkeit, die sich weigert, in der biologischen Gestalt des Körpers moralische Gebote zu entdecken. Protagonisten der Verwandlung argumentieren, dass Sexualität Schaden verursacht, wenn sie verantwortungslos die körperliche und moralische Integrität der Beteiligten verletzt. Zu schützen sei nicht eine in patriarchalen Kulturen verteidigte Ordnung, sondern das Recht des Menschen, frei zu entscheiden, mit wem er intime Beziehungen eingehen will. Theologisch gewendet, sei eine solche Moral Ausdruck des Respekts vor gottgewollter Gerechtigkeit zwischen den Menschen. "Denn Gott wird von uns nur dadurch beleidigt, dass wir gegen unser Gutes handeln", wie der Heilige Thomas (in der Summa contra gentiles) formuliert hat. Diese theologische Wahrheit macht uns frei, Antworten auf ethische Fragen daran auszurichten, ob sie dem Menschen in seiner Würde gerecht werden oder nicht. Biblisch ist diese Perspektive allemal, weil nicht der Mensch für die kirchlichen Gebote, sondern die kirchlichen Gebote für den Menschen da sind.

Wo droht der eigentliche Identitätsverlust?

Schlägt sich Franziskus auf die Seite des Gestrigen, wenn er von sündhafter homosexueller Praxis spricht? Versperrt er damit den Weg für die Segnung? War das diesbezügliche Nein der Glaubenskongregation im Februar 2021 kein Ausrutscher, sondern Markierung einer Grenze, die nur um den Preis des Verlustes katholischer Identität überschritten werden könnte? Die Antwort fällt nicht leicht. Tatsächlich spricht das römische Lehramt von der Sünde der gleichgeschlechtlichen Sexualität (Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 2396). Die Härte der moralischen Norm ist an dieser Stelle nicht in Zweifel zu ziehen. Dass Franziskus unnachgiebigen Rigorismus als unbarmherzig betrachtet, hat er in Amoris laetitia (2016) deutlich gemacht. Seine von pastoraler Sorge um eine inklusive Kirche angetriebene Strategie besteht darin, die Norm gleichsam zu enthärten. Die Sündhaftigkeit eines Tuns hänge auch von den Umständen und der inneren Disposition ab. Seine berühmten fünf Worte "Who am I to judge?" bringen zum Ausdruck, dass wir uns bei Urteilen über die Moralität eines anderen Menschen strenge Zurückhaltung auferlegen sollten.

Doch auf diesen ersten Schritt folgt nicht der zweite, den die Moraltheologie Anfang der 1970er Jahre gegangen ist: Wer sind wir, die moralische Qualität gleichgeschlechtlicher Sexualität stets negativ zu bewerten? Homosexuelles Verhalten ist nicht zunächst eine Sünde, die dann unter Umständen der Person nicht angelastet werden kann; sondern zunächst eine moralisch neutrale Praxis, die unsittlich wird, wenn sie gegen Werte verstößt, die wir generell an zwischenmenschliches Handeln anlegen, unabhängig von der geschlechtlichen Identität der Beteiligten. Diese neue Sichtweise beendet die ethische Diskriminierung Homosexueller, die darin besteht, ihre Liebe für die Beurteilung ihres Sexualverhaltens bedeutungslos beiseitezuschieben und in kalten Worten von "objektiver Unordnung" zu sprechen. Solange die gleichgeschlechtliche Liebe gegenüber der gegengeschlechtlichen abgewertet wird, besteht fort, was nach Auskunft des letzten Konzils (Gaudium et spes Nr. 29) dem Plan Gottes widerspricht, nämlich eine ungerechte Ungleichbehandlung. Für die Identität eines ethischen Christentums lohnt es sich zu streiten. Und es gibt keinen Grund, sich vor den Verwandlungen in den Beziehungen der Geschlechter immer nur zu fürchten.

Von Stephan Goertz