392 Beschuldigte und 657 Betroffene seit 1945

Mainzer Missbrauchsstudie nennt deutliches Fehlverhalten unter Lehmann

Veröffentlicht am 03.03.2023 um 12:14 Uhr – Lesedauer: 

Mainz ‐ Die mit Spannung erwartete Missbrauchsstudie für das Bistum Mainz wurde vorgestellt: Sie nennt ein deutliches Fehlverhalten in der Zeit des verstorbenen Kardinals Karl Lehmann und weiterer Bischöfe. Seit 1945 gab es demnach 392 Beschuldigte und 657 Betroffene.

  • Teilen:

Für die Mainzer Bischöfe war von 1945 bis 2017 durchweg der Schutz der Institution Kirche wichtiger als ein angemessener Umgang mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs. Die am Freitag vorgestellte Studie "Erfahren, Verstehen, Vorsorgen" sieht in der Amtszeit von Kardinal Karl Lehmann erst ab 2010 Ansätze eines angemessenen Umgangs. Die Regensburger Kanzlei des Rechtsanwalts Ulrich Weber, der mit der unabhängigen Untersuchung betraut war, teilt die Amtszeit von Lehmann (Diözesanbischof von 1983 bis 2017) in drei Epochen ein. Bis 2001 prägten Abwehren und Vortäuschen das Handeln des Kardinals, ab 2002 Herausreden und Verteidigen. Erst ab 2010 sei eine Verschiebung des Schwerpunkts auf Eingestehen und Bewältigen erfolgt. Zwar sei in diesem Zeitraum erstmals ein echtes Aufklärungsbemühen festzustellen. Die von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) ausgearbeiteten Leitlinien zum Umgang mit Missbrauch wurden aber auch nicht stringent umgesetzt. Der Umgang mit Missbrauch sei bis zuletzt bei Lehmann nie Chefsache gewesen, stattdessen waren sein Generalvikar und sein Justiziar zuständig. Die Anwälte stellen bei Lehmann, der von 1987 bis 2008 Vorsitzender der DBK war, einen Gegensatz zwischen öffentlich medialem Auftreten und seinem tatsächlichen Handeln fest. Der 2018 verstorbene Lehmann habe den von ihm selbst formulierten Anspruch selbst am wenigsten erfüllt, so die Anwälte.

Kein Problembewusstsein auch bei Bischöfen Stohr und Volk

Die Studie untersucht den Zeitraum von 1945 bis 2022. Auch die beiden Vorgänger Lehmanns, deren Amtszeit in den Untersuchungszeitraum fällt, zeigten nach Ansicht der Studienautoren keinen angemessenen Umgang mit Missbrauch. Das Handeln von Bischof Albert Stohr (Diözesanbischof von 1935 bis 1961) lasse sich unter den Schlagworten "Ermahnen und Versetzen" charakterisieren. Die oberste Prämisse für sein Handeln sei das Vermeiden von Skandalen gewesen. Betroffene spielten in seiner Amtszeit keine Rolle, stattdessen setzte er sich beim Vatikan für die Rehabilitierung der ohnehin in der Regel nur mild kirchenrechtlich bestraften Täter ein.

Schwarzweiß Porträt von Kardinal Hermann Volk
Bild: ©KNA (Archivbild)

Hermann Volk war von 1962 bis 1982 Bischof von Mainz. Papst Paul VI. ernannte ihn am 2. Februar 1973 zum Kardinal. Ein Drittel der in der Studie erfassten Fälle fallen in seine Amtszeit.

Auch für Kardinal Hermann Volk (Diözesanbischof von 1962 bis 1982) war nach Ansicht der Anwälte die Vermeidung öffentlichen Ärgernisses oberste Maxime. Seine Amtszeit wird unter die Schlagworte "Verharmlosen und Verschweigen" gefasst. Austausch mit Betroffenen gab es nur, wenn sie als Zeugen benötigt wurden, oder um sie zum Schweigen zu bringen. Ab Ende der 1960er-Jahre wurde die schon zuvor kaum erfolgte kirchenrechtliche Strafverfolgung komplett eingestellt. Täter wurden in Klöster versetzt, um sie danach wieder im Bistum einzusetzen. Volk habe keinerlei Interesse an der Thematik gehabt und kein Problembewusstsein gezeigt.

Erst mit Kohlgraf Thema ernst genommen

Erst mit dem Amtsantritt von Bischof Peter Kohlgraf (Diözesanbischof seit 2017) habe sich eine neue Dynamik durch die von der DBK in Auftrag gegebene MHG-Missbrauchsstudie ergeben. In der Amtszeit Kohlgrafs stellten die Anwälte eine starke Orientierung an den Leitlinien und der Interventionsordnung fest, das Thema sei sehr ernst genommen worden. Der Umgang mit Beschuldigten wurde erstmals konsequent. Im Zweifel wurden Entscheidungen zu Lasten Beschuldigter und zugunsten des Präventionsgedankens gefasst. Die Anwälte würdigten die Bereitschaft Kohlgrafs, zu lernen, und die Einbindung externer Kompetenzen.

Insgesamt hat die Studie 657 Betroffene identifiziert. Bei 401 gehen die Anwälte davon aus, dass die erlittenen Taten hochplausibel sind. 59 Prozent der Betroffenen sind männlich. Bei 72 Prozent lagen mehrfache Übergriffe vor, in der Regel zogen sich die Taten über ein bis zwei Jahre hin. Die Altersspanne bei den Betroffenen liegt zwischen 3 und 62 Jahren. Schwerpunkte beim Alter liegen bei der Erstkommunion (um 10 Jahre) und bei postpubertären Jugendlichen im Alter von 14 und 15 Jahren. Die Hälfte der Betroffenen wurden Opfer schwerer oder besonders schwerer Straftaten.

Die Studie kommt auf 392 Beschuldigte, von denen die Schuld von 181 als hoch plausibel angenommen wird. 96 Prozent der Beschuldigten sind männlich, 65 Prozent Kleriker. In der überwiegenden Zahl begingen die Beschuldigten mehrfach Taten. Das Spektrum dabei ging von Grenzverletzungen bis hin zu besonders schweren sexualbezogenen Straftaten. 27 Strafverfahren wurden eröffnet, die zu acht Haftstrafen führten. Unter den mit einer Freiheitsstrafe belegten Tätern ist nur ein Priester. Bei 30 Prozent der Beschuldigten wurde ein kirchenrechtliches Strafverfahren durchgeführt.

Deutlicher Anstieg bei Beschuldigten und Betroffenen im Vergleich zur MHG-Studie

Sowohl bei den Beschuldigten wie bei den Betroffenen wurden Taten nicht in die Aufstellung aufgenommen, die zeitlich vor eine Beschäftigung in kirchlichen Einrichtungen fallen. Nicht berücksichtigt wurden auch Fälle in Kindertagesstätten, bei denen Kinder Gewalt ausüben. Im Rahmen der MHG-Studie wurden 2018 für den Zeitraum von 1946 bis 2017 im Bistum Mainz 53 beschuldigte Kleriker und 169 Betroffene ermittelt.

Insgesamt haben die Anwälte 25.000 Seiten an Akten des Bistums und von kirchlichen Einrichtungen analysiert, außerdem wurden 246 Personen schriftlich, telefonisch oder im persönlichen Gespräch befragt. Eine Abfrage bei Pfarreien und Caritas-Einrichtungen hatte laut den Anwälten eine so geringe Rücklaufquote, dass sich daraus keine belastbaren Erkenntnisse ziehen ließen. Das zeige eine unzureichende Sensibilisierung für die Thematik Missbrauch.

Bild: ©parallel_dream/Fotolia.com (Archivbild)

In der Amtszeit von Bischof Peter Kohlgraf sei das Thema Missbrauch sehr ernst genommen worden, heißt es.

Mit Blick auf missbrauchsbegünstigende Faktoren konstatieren die Studienautoren, dass Betroffene sich oft durch eine enge kirchliche Bindung, schwierige familiäre Verhältnisse sowie besondere persönliche Voraussetzungen auszeichneten. Bei Beschuldigten herrschten dagegen oft eine narzisstische Tendenz sowie ein unreifer Umgang mit Sexualität vor. Pädophilie habe nur bei wenigen vorgelegen. Die Beziehung zwischen Betroffenen und Beschuldigten habe sich durch Macht und Vertrauen ausgezeichnet, diese Beziehung sei auch oft der Grund für das Schweigen nach Taten, etwa durch Gefühle von Scham und Schuld. Zudem habe der unangemessene Umgang des Bistums mit Meldungen sexuellen Missbrauch begünstigt. Weiterhin hätten viele Eltern ihre Schutzfunktion und staatliche Stellen ihre Kontrollfunktion nicht oder unzureichend erfüllt.

Gemeinden hätten durch ihre Solidarisierung mit Beschuldigten und die Diskreditierung der Betroffenen die Aufklärung erschwert und weitere Fälle ermöglicht. Auch gesamtgesellschaftlich habe sich Sensibilität nur langsam entwickelt und fehle teils bis heute.

Kirchenimmanente Faktoren

Begünstigende Faktoren sieht Weber auch in der Kirche selbst: So habe es in der Priesterausbildung lange wenig Aufmerksamkeit für die sexuelle Reife gegeben, dazu kam eine Überhöhung des Priesteramts sowie Zölibatsherausforderungen. Weiterhin seien die Sexualmoral, das Sündenverständnis, Machtverhältnisse und mangelnde Verwaltungsführung begünstigende Faktoren für Missbrauch. Gemeinsam mit der Vermeidung von Skandalen und Ärgernissen sowie der mangelnden Aufmerksamkeit für die Schicksale der Betroffenen sei ein Umfeld entstanden, in dem "sexueller Missbrauch einen Raum finden konnte und nicht verhindert wurde", so Weber.

Mit Blick auf die Herausforderungen der Aufarbeitung in Gegenwart und Zukunft konstatieren die Autoren, dass es für die Kirche mehrere Dilemmata gebe, etwa im Umgang mit Beschuldigten zwischen Präventionshandeln und Unschuldsvermutung. Der bisherige Fokus auf standardisierte Verfahren sei jedoch unzureichend. Es brauche Hilfe bei der spirituellen Aufarbeitung von Missbrauchsfällen, die Weiterentwicklung von Hilfsangeboten sowie eine Lebensbegleitung von Betroffenen, schlagen sie vor. Neben Unterstützungsangeboten für Bistumsmitarbeiter und Gemeinden fordern sie weiterhin eine angemessene Erinnerungskultur. Schädliche Erinnerungskulturen müssten abgelegt und eine Kultur der Anerkennung, Mahnung und Sensibilisierung installiert werden. Beschuldigte müssten stärker in den Blick genommen werden, damit deren Bereitschaft zur Meldung erhöht und weitere Fälle dadurch verhindert würden. Es sei ein Kulturwandel hin zu Achtsamkeit notwendig, nicht nur für die Bistumsleitung, sondern auch für Mitarbeiter, Ehrenamtliche, Gläubige und die gesamte Gesellschaft. (fxn/cph)

Die vollständige Studie

Die Untersuchung "Erfahren. Verstehen. Vorsorgen. Studie zu Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung seit 1945 im Verantwortungsbereich des Bistums Mainz" ist vollständig abrufbar im Internet.