Tagung zu Haltung des Kanzlers und CDU-Chefs

Zwischen Ambivalenz und Pragmatismus: Helmut Kohl und die Kirchen

Veröffentlicht am 11.03.2023 um 00:01 Uhr – Von Christoph Scholz (KNA) – Lesedauer: 

Berlin ‐ Eine Untersuchung über das Verhältnis Helmut Kohls zu den Kirchen zeigt: Der bekennende Katholik pflegte diesbezüglich mehr Pragmatik als Programmatik. Einblicke in die CDU-Politik zu Zeiten der Säkularisierung – und ein ungelöstes Problem.

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Für den langjährigen CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl gehörte seine Kirchenzugehörigkeit gleichsam zur DNA. Allerdings kam es unter seiner Kanzlerschaft mehrfach zu Spannung besonders mit den katholischen Bischöfen und dem Vatikan. Eine Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) zeigte nun, wie paradigmatisch seine Kanzlerschaft für die Herausforderung christdemokratischer Politik in Zeiten der Säkularisierung war und ist.

Was heute wohl undenkbar wäre: Für Kohl gehörte der Besuch des Speyrer Doms zum selbstverständlichen Besuchsprogramm mit Staats- und Regierungschefs – von George Bush über Margret Thatcher bis König Juan Carlos. Für ihn war der romanische Dom wohl das eindrückliche Symbol für die Verbindung von christlicher Tradition, Geschichte und politischer Gegenwart – nicht zuletzt mit Blick auf die europäische Einheit.

Entsprechend endete nach Ansicht des KAS-Vorsitzenden Norbert Lammert (CDU) mit Kohls Kanzlerschaft auch eine Ära von Politikern, die Politik aus einer "bewusst christlichen Perspektive gestalteten". Dabei attestierte er Kohl einen durchaus selbstbewussten Umgang mit der kirchlichen Hierarchie und ein "dezidiert eigenes Verständnis von Kirche und Religion und deren politischer Relevanz".

Mehrere Wellen der Säkularisierung

Besonders erhellend war der Zugang zum Thema über die sich rasant entwickelnde Säkularisierung der deutschen Gesellschaft. Dabei verlief die Säkularisierung nach Auskunft des Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollack in mehreren Wellen. Die erste fand in den 1970er Jahren im Zeichen des Umbruchs der 68er statt. Der Luzerner Politikwissenschaftler Antonius Liedhegener sprach gar von einem "Erdrutsch".

Dann folgten die 1990er, in denen sich vor allem die protestantischen Kirchen leerten. Mit der Wiedervereinigung veränderte sich einerseits das zahlenmäßige Verhältnis von Protestanten und Katholiken, andererseits stieg die Zahl der Konfessionslosen. Wie epochal der Umbruch war, wird an der Zahl der regelmäßigen Kirchenbesucher deutlich: In den 1950er Jahren waren es noch rund 50 Prozent, heute sind es knapp fünf Prozent. Wie nun kompensierte oder bewältigte Kohl den fortschreitenden gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Glaubens bei seinem gleichzeitigen Anspruch, Politik auf der Grundlage der christlichen Gesellschaftslehre zu machen?

Bild: ©Harald Oppitz/KNA

Der Kirchenbesuch hat in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland deutlich nachgelassen.

Kohls Strategie verdeutlichte der Mainzer Zeithistoriker Markus Raasch paradigmatisch an einer Episode aus der Frühzeit: den Streit um die Konfessionsschulen in Rheinland-Pfalz in den 1960er Jahren. Für die Bischöfe waren sie Grundpfeiler des katholischen Milieus. Selbst der Vatikan schaltete sich ein.

Regieren nach Umfragen

Doch "keiner kannte Umfragen so gut wie Kohl" – so Raasch. Denn 76 Prozent der Wähler sprachen sich für das Ende der konfessionsgebundenen Schulen aus. So entschied er sich "ganz pragmatisch" für "klare Grenzen" zu den Kirchen. Die Bischöfe wurden laut Raasch nicht mehr eingebunden und Kohl betonte, dass die CDU keine Kirchenpartei sei. Allerdings gewann er die Sympathien der kirchlichen Hierarchie wieder mit einem großzügigen Privatschulgesetz.

Nach Ansicht Raaschs "inszenierte" Kohl sich als Interessenvertreter der Kirchen. Dabei sei die "Selbststilisierung als gläubiger Katholik" ein "wichtiges politisches Instrument" gewesen. Kohl sei sich zugleich stets bewusst gewesen, dass keine Partei der Kirche näherstand als die CDU – oder umgekehrt, dass die Kirche keinen vergleichbaren Verbündeten unter den Parteien besaß. Diese Angewiesenheit der Kirchen verschärfte sich mit der Säkularisierungswelle nach 1968.

Bild: ©KNA

Altkanzler Helmut Kohl bei Papst Benedikt XVI.

Kohl gelang dabei das Kunststück, sich vom schwindenden Einfluss der Kirchen abzusetzen, gleichzeitig aber die Allianz mit der katholischen Wählerschaft aufrechtzuerhalten. Überzeugte Katholiken gehörten weiterhin zur sicheren Bank der Union bei den Wahlen. Für die nachholende Modernisierung war demnach nicht zuletzt das Ludwigshafener Parteiprogramm von 1978 wesentlich, das sich auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes volksparteilich offen für eine breite Wählerschaft präsentierte.

Überkonfessionelle Ausrichtung

Ein Kernpunkt war für Kohl stets die überkonfessionelle Ausrichtung der CDU, wie der Hallenser Historiker Jürgen Plöhn verdeutlichte. Als Parteivorsitzender achtete er darauf penibel bei der Besetzung von Spitzenpositionen. So förderte er gezielt prominente Protestanten wie Richard von Weizsäcker, Wolfgang Schäuble oder Angela Merkel.

Der ehemalige Sekretär der katholischen Bischofskonferenz, Pater Hans Langendörfer, hob noch einen weiteren wichtigen Faktor für Kohls "pragmatischen Umgang mit den Kirchen" hervor: die persönlichen Beziehungen. "Es gab immer mal wieder Anrufe aus dem Kanzleramt", erinnerte er sich. Kohl "suchte den persönlichen Kontakt. Wenn der gut läuft, ist die Sache schon mal weitestgehend geritzt", so Langendörfer. Auf katholischer Seite war dies vor allem durch das Verhältnis zu den Kardinälen Joseph Höffner und Karl Lehmann gegeben, wobei Lehmann "eine große Zuversicht in die politische Geschicklichkeit Kohls" hatte.

Bild: ©KNA

Helmut Kohl im Gespräch mit Kardinal Karl Lehmann während der Einweihung der neuen Nuntiatur in Berlin 2001.

Was Kohl und Lehmann dann aber auch verband, war nach den Worten Langendörfers "eine große Frustration" über Kardinal Joseph Ratzinger und Papst Johannes Paul II. in der Frage der Schwangerschaftskonfliktberatung. Tatsächlich versagte Kohls Pragmatismus an Ratzingers Einspruch und der Sorge von Johannes Paul II. vor einer Verdunkelung des kirchlichen Zeugnisses für das Leben. Für Kohls Parteifreund und Weggefährten Bernhard Vogel war es "das einzige Thema, das nicht gelöst wurde". Er sah den Fehler allerdings im Einstieg der Bischöfe in die Pflichtberatung, nicht im Ausstieg. Man hätte die Beratung "von Anfang an mutigen Katholiken" überlassen sollen.

Ambivalentes Verhältnis zu Päpsten

Langendörfer bewertet das Verhältnis Kohls zu den Päpsten aus Polen und Deutschland als "ambivalent". Johannes Paul II. sei für Kohl zugleich der "große Papst" gewesen, mit dem er symbolträchtig das Brandenburger Tor durchschnitten habe. Und Papst Benedikt XVI. habe sich wiederum bei seiner Deutschlandreise nur einen Gesprächspartner gewünscht: Helmut Kohl. Die Begegnung mit dem bereits stark von seiner Krankheit gezeichneten Kohl in Freiburg sei "hoch emotional" und vom "gegenseitigen Respekt" geprägt gewesen.

Nicht zuletzt die persönlichen Beziehungen – von früher Jugend an – widersprechen einem rein instrumentellen Verständnis des Machtpolitikers im Verhältnis zur Kirche. Diese sei für Kohl immer auch Glaubensheimat geblieben, so Raasch. Keiner der Teilnehmer äußerte denn auch Zweifel an der Glaubensüberzeugung Kohls. Einig war man sich allerdings auch über den "unbefriedigenden Forschungsstand" zu dem Thema.

Eine besondere Programmatik ließ sich aus dem Gesagten für das Verhältnis von Kirche und Politik bei Kohl nicht ableiten. Im Gegenteil: Dogmatische Festlegungen scheinen dem liberalen Katholiken und machtbewussten Politiker eher einengend gewesen zu sein, bei seiner Suche nach pragmatischen Lösungen in Zeiten des Umbruchs.

Von Christoph Scholz (KNA)