Ordensfrau in Tunis: Noch nie von so vielen Toten gehört
Von einer "rundherum angespannten" Lage hat zu Ostern die in Tunesien tätige Ordensfrau Maria Rohrer berichtet. Illegale Migranten würden von Tunesien seit Februar nicht mehr geduldet, was viele von ihnen in die Flucht aufs Meer Richtung Europa treibe, berichtete die 76 Jahre alte Don-Bosco-Schwester dem Hilfswerk "Jugend Eine Welt". Viele kämen nie ans Ziel. "Noch nie haben wir von so vielen Toten gehört", so die aus der Schweiz stammende Ordensfrau, die als Seelsorgerin für Studentinnen aus Schwarzafrika in der katholischen Pfarrei Tunis tätig ist.
In den vergangenen drei Wochen sei kein Tag ohne eine Todesnachricht von der Pfarrei bekannten Personen vergangen, sagte Rohrer. Unter den bei der Überfahrt jüngst Ertrunkenen seien "sechs Studenten, zahlreiche Hausfrauen, Eltern mit zwei Kindern, ein frisch verheiratetes Paar, ein weiteres Paar, bei dem er ertrunken ist und sie gerettet wurde, heute Vormittag erst die Freundin einer Bekannten", zählte die Ordensfrau auf. "In der Kirche sind ihre Plätze leer, ihre Wohnungen still, ihre kleinen Läden geschlossen."
Leichenhalle am Anschlag
Besonders drastisch spürbar sei die Lage in der Stadt Sfax, die der wichtigste Ausgangsort für die Abfahrten von Flüchtlingsbooten nach Lampedusa ist; ausgerechnet aber zugleich auch ein Ort mit sehr gefährlichem Meer. Die auf 35 Plätze ausgelegte Leichenhalle sei am Anschlag. Allein dort seien allein am Palmsonntags-Wochenende die Überreste von 42 aus dem Meer geborgenen Ertrunkenen eingeliefert worden; in der Woche zuvor seien es sogar 70 gewesen. Der Zuständige habe bei internationalen Organisationen Kühlwagen angefordert – "wie während der Pandemie", so Rohrer.
Die meisten der an die tunesische Küste gespülten Leichen sind nach Aussage der Ordensfrau tote Schwarzafrikaner, die von den tunesischen Behörden pauschal als Christen angesehen und an christliche Pfarreien für die Bestattung in Massengräbern "zurückgegeben" würden. Sie erhielten somit ein "christliches Begräbnis für Unbekannte", auch da die Toten vor der Bootsfahrt aus Sicherheitsgründen alle Identitätsnachweise weggeworfen hätten und somit weder ihre Identität noch Nationalität feststellbar sei. Für die Bestattung würden die Friedhöfe der ganzen Region gebraucht, berichtete Rohrer.
Dennoch handele es sich bei den in der katholischen Pfarrei bekannten Personen "nicht einmal um die Spitze des Eisberges", so viele Ertrunkene gebe es derzeit, so die seit vier Jahrzehnten in Afrika tätige Ordensfrau weiter. Beklemmend sei, dass das Drama trotzdem niemanden zurückhalte. "Sie gehen weiter, jeder in der Hoffnung, in Lampedusa anzukommen." Auch wenn die Kirche bereits Ostern feiere, wähne sie sich weiter "mitten in einer Karwoche, die schon wochenlang dauert", sagt die Schwester.
Zahlen verfünffacht
Die tunesische Küstenwache hat nach eigenen Angaben seit Jahresbeginn mehr als 14.000 Menschen in insgesamt rund 500 Booten von der Überfahrt nach Europa abgehalten, wobei fast alle der Geretteten aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara stammten. Die Zahlen haben sich damit im Vergleich zum Vorjahreszeitraum mehr als verfünffacht.
Die Menschen machen sich trotz der gefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer weiter auf den Weg nach Europa. Seit Anfang 2023 sind 28.028 Migranten und Flüchtlinge auf dem Seeweg in Italien angekommen, gegenüber 6.832 im gleichen Zeitraum 2022 und 8.394 im Jahr 2021, so die Statistik des Innenministeriums in Rom. Über die bei der Überfahrt Ertrunkenen oder Schiffbrüchigen gibt es keine Übersicht.
Auf das Leid der Migranten und der Opfer des Menschenhandels hat zuletzt Papst Franziskus am Ostersonntag verwiesen. Er betete auch für das tunesische Volk. (KNA)