Wie sich ein Jesuit als politischer Aktivist radikalisierte
Jörg Alt ist seit 30 Jahren Priester, seit 42 Jahren Jesuit – und seit zwei Jahren Straftäter. So steht es kurz und knapp in seinem Lebenslauf. Erst am Dienstag wurde er vom Amtsgericht München wegen Beteiligung an einer Straßenblockade verurteilt. Es war nicht sein erster derartiger Kontakt mit der Justiz. Die demonstrative Entwendung verfallener oder weggeworfener Lebensmittel aus einem Supermarkt-Container wurde ihm als schwerer Diebstahl ausgelegt.
Wie der gebürtige Saarbrücker zu dem wurde, was er heute ist, kann man jetzt in einem Buch nachlesen. Es heißt "Die letzte Generation – das sind wir alle". Alt hat es zusammen mit zwei jungen Klimaaktivisten verfasst. Am Mittwochabend stellten sie es in der Münchner Jesuitenkirche Sankt Michael vor.
Ein Drama, das beinahe schlecht ausgegangen wäre, hat die drei zusammengeschweißt. Lina Eichler (20) und Henning Jeschke (22) entschlossen sich im September 2021 vor der Bundestagswahl zu einem unbefristeten Hungerstreik in Berlin. Sie verlangten noch vor der Wahl ein öffentliches Gespräch über den Klimanotstand mit den Spitzenkandidaten von Union, Grünen und SPD. Am 27. Tag, nachdem Jeschke auch das Trinken eingestellt hatte, rief ihn Olaf Scholz an. Kurz danach kam der Student aus Greifswald auf die Intensivstation. Der Nürnberger Hochschulseelsorger Jörg Alt wurde über die Medien auf die ungewöhnliche Protestaktion aufmerksam. Er recherchierte die Anliegen der Gruppe im Internet und bot ihnen schließlich per Mail seine Unterstützung bei der Kontaktaufnahme zu den Spitzenpolitikern an.
"Jesuitischer als die Jesuiten"
Die jungen Leute, die da ihr Leben riskiert haben, imponieren Alt: "Die sind ja jesuitischer als die Jesuiten." Der Einsatz für Gerechtigkeit hat ihn selbst in seinen Orden geführt. Und kämpft die "Letzte Generation" nicht genau dafür, wofür sich sein Mitbruder auf dem Stuhl Petri, Papst Franziskus, in seiner Umwelt- und Sozialenzyklika "Laudato si" einsetzt? Ein Jahr später kleben sich die drei nebeneinander auf einer Nürnberger Hauptverkehrsader fest.
Mit Kampagnen kennt Alt sich aus. 1986, in einem Praktikum bei der Würzburger Caritas, stritt er für eine bessere Versorgung von Asylbewerbern. Von 1995 bis 1997 koordinierte der Ordensmann die deutsche Beteiligung am Bündnis für die weltweite Ächtung von Antipersonenminen. Auch damals bekam der Jesuit zu hören: Das schafft ihr nie. Doch dann kommt die "Ottawa-Konvention" auf den Weg – und die Kampagne erhält den Friedensnobelpreis. Alt ist bei der Zeremonie im Rathaus von Oslo dabei. Dort geht ihm dieser Gedanke durch den Kopf: "Ätsch, euch haben wir es gezeigt." Er erlebt nicht zum ersten Mal, was Solidarität bewegen kann.
Doch es dauert noch, bis Alt den Klimaschutz für sich entdeckt. Zuvor treibt er ein Forschungsprojekt über illegale Migranten in Deutschland voran. Er schreibt ein Buch, mit dem er an der Humboldt-Universität in Berlin zum Doktor der Soziologie promoviert wird, "ohne dieses Fach einen Tag studiert zu haben", wie er betont.
Über "Fridays for Future" findet der Pater zu seinem heutigen Hauptthema. Bücher und Petitionen zur notwendigen sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft schreibt er weiterhin, aber muss man dafür auch Straftaten begehen? "Ich bin ein Mittelstandskind und hatte immer einen hohen Respekt vor dem Staat", sagt er.
Mitbrüder unauffällig dabei
Der Jesuit räumt ein, sich zunächst gesträubt zu haben. Er diskutiert leidenschaftlich mit seinen jungen Freunden über den Unterschied zwischen zivilem Ungehorsam und zivilem Widerstand: Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung in den USA, Mahatma Gandhis "Salzmarsch" in Indien. Wie weit darf, soll, muss der Protest gehen? Dann aber kommt ein Brief von Mitbrüdern aus Afrika. Die Blockaden von Autofahrern in Deutschland seien nichts im Vergleich zu den Störungen, die durch den Klimawandel südlich der Sahara bereits jetzt verursacht würden, schreibt einer sinngemäß. Für Alt kommt dies einer direkten Aufforderung zum Mitmachen gleich.
Von seiner Ordensleitung fühlt sich der Jesuit getragen, auch wenn diese öffentliche Solidaritätsbekundungen vermeidet. Sitzt er mal wieder auf der Anklagebank, mischen sich stets einige Mitbrüder unters Publikum.