Tomas Halik – Pfadfinder im Labyrinth der Freiheit
Er ist einer der größten zeitgenössischen Denker seines Landes und hat sich Renommee weit über die Grenzen der Tschechischen Republik hinaus erworben. Tomas Halik war ein Freund und Weggefährte des späteren Staatspräsidenten Vaclav Havel (1936-2011). Mit dessen Nachfolgern Vaclav Klaus und Milos Zeman verband ihn nurmehr eine herzliche Rivalität. Der neue Präsident und Ex-General Petr Pavel dagegen dürfte nun wieder eher auf seiner Linie liegen. Am 1. Juni wird der Soziologe und Religionsphilosoph Halik 75 Jahre alt.
Sich mit dem Establishment anzulegen, liegt Tomas Halik. Vorgedachtes wiederzukäuen, ist seine Sache nicht. Den Traum von einer christlich geprägten Post-Wende-Gesellschaft hat er nicht mitgeträumt, sondern schon früh als Nostalgie verworfen. Und als sich im ersten Jahrzehnt nach der politischen Wende in der Kirche Tschechiens alles um die Fragen von Rückgabe und Entschädigung für enteignete Güter aus vorkommunistischer Zeit zu drehen schien, forderte er längst eine Kirche, die sich mental aus dem Ghetto der Verfolgung löst und ganz neu lernt, mit einer völlig veränderten Gesellschaft ins Gespräch zu kommen.
Lange Zeit war er sozusagen ein katholischer Geheimtipp
Lange Zeit war er sozusagen ein katholischer Geheimtipp. Inzwischen hat Halik mit Bucherfolgen und Auftritten etwa bei Katholikentagen auch in Deutschland größere Bekanntheit erlangt. Sein Werk "Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage" von 2022 wurde zu einer Art Pflichtlektüre für Reformkatholiken. Auch bei der Europa-Etappe der katholischen Weltsynode im Februar 2023 hörte man ihm zu – denn er hat tatsächlich etwas zu sagen.
„Die Wahrheit ist mächtiger als die Macht!“
Dabei war Haliks Forscherkarriere eigentlich schon beendet, bevor sie begann. Im Juli 1972 rief er bei seiner eigenen feierlichen Promotion der nach dem Prager Frühling von allen Freidenkern gesäuberten Fakultät das Karol-Capek-Zitat zu: "Die Wahrheit ist mächtiger als die Macht!" Ein moralischer Triumph, doch ein Quasi-Suizid im wissenschaftlichen Betrieb.
Erst damals kam der politisch Geächtete aus liberalem Elternhaus tiefer mit der Kirche in Berührung. Nach einem geheimen Theologiestudium wurde er 1978 im Untergrund zum Priester geweiht; seine Mutter sollte bis zu ihrem Tod nichts davon erfahren. Tagsüber arbeitete Halik als Psychotherapeut mit Drogensüchtigen. Zu seinem abendlichen Dissidenten-Zirkel gehörte auch Vaclav Havel, der oft in seinem Landhaus für die Gruppe kochte. "Manchmal hörte ich in seinen Reden als Staatspräsident noch ein Echo unserer Diskussionen von damals", verriet Halik einmal.
2003 hätte er vielleicht sogar Präsident werden können
Die alte Freundschaft – nur ein Grund, warum er Havel in den schwierigen Jahren seiner Präsidentschaft (1989-2003) immer den Rücken gegen Kritiker freihielt. Sie zogen an einem Strang, der Dichter und der Soziologe: für Toleranz und Zivilcourage, für Weltoffenheit und Dialogbereitschaft – und für mehr gesellschaftliche Kontrolle der Macht der Parteien.
An der Prager Karls-Universität hatte Halik den renommierten soziologischen Lehrstuhl des einstigen Staatsgründers Tomas Masaryk (1850-1937) inne. Als Schriftsteller ist er Träger eines der höchsten Literaturpreise seines Landes. Und er ist katholischer Priester, der als Rektor der Prager Universitätskirche in der Nachfolge von Frühreformator und National-Ikone Jan Hus stand. Wäre da nicht der vermeintliche Makel des Priestertums in der säkularisierten Tschechischen Republik, hätte Halik 2003 vielleicht sogar Präsident werden können – als Nachfolger und Wunschkandidat seines Freundes Havel.
Dem gnadenlosen Materialismus und der angeblich aufgeklärten Mediengesellschaft hält er in Essays, Predigten, Talkshows und Vorträgen den Spiegel vor. Halik ist ein Rufer. Kein Schreier, sondern ein unabhängiger Intellektueller, der zum Mitdenken auffordert. Im "Laboratorium Demokratie" hat er unzählige Überstunden gemacht.
Ehrungen sind am Ende nicht Haliks Ziel
Halik will "bestimmte Themen und einen gewissen Stil in die politische Debatte einbringen", die Tschechen zu mehr Selbstkritik und Mitgestaltung ermutigen. Damit bringt der Querdenker Machtpolitiker und Parteifunktionäre immer wieder auf die Palme. Und es verschafft ihm – über sein Land hinaus – "hervorragende Verdienste um die Interpretation von Zeit und Welt", wie es 2010 bei der Verleihung des Romano-Guardini-Preises hieß.
2014 folgte die bislang höchste Auszeichnung: der Templeton-Preis, landläufig auch als "Nobelpreis für Religion" bezeichnet. Er hob Tomas Halik in eine Liga mit Mutter Teresa, Frere Roger, Desmond Tutu oder dem Dalai Lama. 2019 folgte das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse für seine Verdienste um die deutsch-tschechische Versöhnung, den interreligiösen und internationalen Dialog. Doch Ehrungen sind am Ende nicht Haliks Ziel. Lieber ist ihm, wenn man über seine Gedanken nachdenkt.