Historiker: Wir müssen Missbrauchs-Forschung internationalisieren
Mit ihrem Pilotprojekt haben Forschende der Universität Zürich den Aufschlag gemacht zur Beleuchtung des Missbrauchs in der Kirche in der Schweiz. Sie identifizierten dabei 1.002 Fälle, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene. Im Interview erzählen sie von Hintergründen und Herausforderungen für weitere Projekte. Monika Dommann ist Professorin für Geschichte der Neuzeit, Marietta Meier Titularprofessorin für Geschichte der Neuzeit, beide haben das Pilotprojekt geleitet. Der wissenschaftliche Mitarbeiter Lucas Federer hat gemeinsam mit drei weiteren Forschenden den Bericht erarbeitet.
Frage: Wie sind Sie an dieses Projekt herangegangen?
Dommann: Marietta Meier und ich haben mit der Bischofskonferenz, der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz und der Konferenz der Ordensgemeinschaften und anderer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens in der Schweiz länger verhandelt. Für uns war klar, dass wir zu hundert Prozent unabhängig arbeiten wollten, und dass wir vollständigen Aktenzugang brauchen. Das haben wir vertraglich zugesichert bekommen und diese Verträge öffentlich publiziert.
Federer: Als es dann losging, haben wir drei Schneisen in dieses sehr komplexe Thema geschlagen: Wir haben die Forschungsliteratur zu ähnlichen Projekten in anderen Ländern konsultiert und uns Aufbau und Ergebnisse angeschaut. Außerdem haben wir mit Expertinnen und Experten gesprochen, innerhalb und außerhalb der Kirche. Dann haben wir uns mit der Archivlandschaft beschäftigt, sind in die Archive gefahren und haben uns dort orientiert.
Frage: Ein Jahr ist für ein solches Forschungsprojekt nicht viel. Wie haben Sie Ihr Vorhaben angesichts der großen Materialfülle eingegrenzt?
Meier: Es sollte von Anfang an ein Pilotprojekt sein. Wir wollten zunächst die Kooperationsbereitschaft der Kirche testen. Und wir haben klar gemacht, dass dies bloß der Anfang sein kann. Wir haben Forschungsquellen ausgemacht: Das waren die Archive der Diözesen, aber auch der diözesanen Fachstellen für Missbrauch. Denn dort werden Akten in Zusammenhang mit Meldungen geführt. Dazu kamen Medienberichte. Wir haben also die Archivlage geklärt und wollten Zugänge für weitere Forschung eröffnen.
Dommann: Dazu kam der Austausch mit Betroffenenorganisationen. Sie haben uns sehr unterstützt und Informationen mit uns geteilt. Es haben sich auch Betroffene bei uns gemeldet, was für das Projekt auch sehr wertvoll war. Diese Stimmen waren neben der kirchlichen Perspektive ein wichtiger Zugang. So konnten wir die mündlichen und die schriftlichen Quellen miteinander abgleichen und auch nachschauen, welche Fälle in den Archiven schriftliche Spuren hinterlassen haben. Da zeigte sich jedoch eine Ungleichzeitigkeit: Während es in der französischsprachigen Schweiz seit 2010 eine Betroffenenorganisation gibt, wurde sie in der Deutschschweiz erst 2021 gegründet, in der italienischsprachigen Schweiz gibt es bis heute keine. Wir hoffen, dass sich Letzteres noch ändert.
Frage: Im Bericht ist auch die Rede davon, dass Sie nicht alle Archivbestände einsehen konnten und dass Einiges auch vernichtet wurde.
Federer: Man muss unterscheiden zwischen dem, was da ist und dem, was wir bereits gründlich anschauen konnten. Es völlig klar, dass wir uns in einem Jahr Projektzeit in erster Linie einen Überblick verschafft haben. So wissen wir von einigen vermutlich wichtigen Archivbeständen, hatten aber noch nicht die Kapazitäten, sie zu bearbeiten. Aktenvernichtungen in den Geheimarchiven können wir für zwei Bistümer belegen, für die anderen sind sie zumindest anzunehmen. Wir haben aber auch Lücken festgestellt, die noch geschlossen werden können. So sind einige Akten des Bistums Chur nach der Gründung des Erzbistums Vaduz 1997 dorthin gegangen. Diese Lücke könnte also eventuell noch geschlossen werden. Es ist ganz schlicht noch sehr viel zu tun. Wir haben die Leerstellen benannt, jetzt müssen Prozesse beginnen, sie zu schließen.
Frage: In Deutschland hat die MHG-Studie als deutschlandweites Gutachten 2018 für Aufsehen gesorgt. Was unterscheidet Ihr Projekt?
Dommann: Ein wichtiger Unterschied ist, dass das Forschungsteam selbst in die Archive gegangen ist und die Quellen unbearbeitet angeschaut hat. Das war bei der MHG-Studie nicht der Fall. Mit eingeschwärzten Akten kann man eigentlich nicht historisch forschen. Die Studie der Ciase in Frankreich ist stark in Bezug auf die quantitative empirische Sozialforschung. Allerdings ist sie in Bezug auf Quellenanalyse und Kontextualisierung eher dürftig. Wir sind von den Akten und den mündlichen Quellen ausgegangen und haben auf dieser Basis unsere Daten gewonnen und unsere Forschungsfragen entwickelt.
Frage: Erklärt der direkte Zugang zu den Archiven auch die im Vergleich zur MHG-Studie hohen Fallzahlen?
Federer: Dieser Vergleich ist auf jeden Fall kompliziert und man muss sich die Datengrundlage sehr genau anschauen. Nicht zuletzt wegen der verschiedenen Forschungsansätze und Vorgehensweisen. Die hohen Zahlen bei uns erklären sich unter anderem aus den Akten der diözesanen Fachgremien, die zum Teil seit mehr als 20 Jahren Meldungen zu Fällen von sexuellem Missbrauch bearbeiten und diese Dokumente archiviert haben.
Frage: Im Zentrum Ihrer Arbeit stehen systemische Ursachen für Missbrauch. Was ist da Ihr Fazit?
Meier: Es gibt auf der einen Seite Strukturen in der Kirche, die auch in anderen Institutionen anzutreffen sind. Die Kirche ist eine sehr mächtige Institution. Überall, wo Macht ist, kann auch Macht missbraucht werden. Zudem ist sie eine internationale und hierarchisch verfasste Institution. Was spezifisch katholisch ist, ist für uns nach wie vor eine Forschungsfrage. Es gibt aber Hinweise: Eine spezifisch katholische Sexualmoral, eine Tabuisierung von Sexualität, das ambivalente Verhältnis der katholischen Kirche zu Homosexualität beispielsweise. Dann der spezifische Status der Priester, die als Stellvertreter Jesu handeln, das gibt ihnen eine besondere Macht. Gewisse dieser Faktoren trugen dazu bei, dass Betroffene die Schuld für den Missbrauch oft bei sich selbst gesucht und sich nicht getraut haben, über das Erlebte zu sprechen.
Frage: Die Kirche in der Schweiz hat eine Doppelstruktur, den Bischöfen stehen in jedem Kanton gewählte Laienvertretungen auf Augenhöhe gegenüber. Hatte das Einfluss auf das Missbrauchsgeschehen?
Federer: Das ist eine Frage, die wir nur ansatzweise behandeln konnten. Es gibt in Schweizer Kirchenkreisen die These, dass durch dieses System Missbrauch verhindert wurde, etwa indem aufgrund bestimmter Gerüchte manche Priester nicht zu Pfarrern gewählt wurden. Wir haben auch einzelne Fälle gefunden, die das bestätigen. Allerdings haben wir es auch vielerorts mit einem katholischen Milieu zu tun, das mitvertuscht und Täter gedeckt hat. Man könnte da auch von Klerikalismus von unten sprechen. Was am Ende jeweils stärker wirkte, diese Frage müssen wir für den Moment offenlassen.
Frage: Ebenfalls besonders ist bei Ihrer Untersuchung, dass jeder siebte Betroffene volljährig ist.
Meier: Es war wichtig, dass wir den Blick geöffnet haben und uns nicht nur um Minderjährige gekümmert haben. Denn das Ergebnis bedeutet: Gewisse Machtmechanismen spielen auch bei Volljährigen eine Rolle. Da geht es um spirituellen Missbrauch, der auch Erwachsene betrifft und dem sexuellen Missbrauch durchaus vorausgehen kann oder parallel läuft. Das ist natürlich verheerend, weil diese Erwachsenen oft völliges Vertrauen in die Täter hatten und bei ihnen Rat in Krisensituationen gesucht haben.
Frage: Schauen wir auf die Täter. Andere Studien haben Namen genannt und Versäumnisse wie Vertuschungen aufgezeigt. Sie nennen mit Absicht keine Namen – wieso?
Dommann: Wir haben uns ganz bewusst dafür entschieden, übergeordnete Phänomene an konkreten Fallbeispielen zu zeigen. Bei diesen Fallbeispielen tauchen auch Namen auf, der ehemalige Basler Bischof Kurt Koch und der Sankt Galler Bischof Markus Büchel. Da ging es uns aber nicht darum, diese Bischöfe zu belangen, das ist nicht unsere Aufgabe, das ist Sache der Kirche. Uns interessiert eine Analyse, die versucht Vorkommnisse zu erklären und Hintergründe zu analysieren. Zum Beispiel: Wenn in einem Bistum ein Fachgremium besonders gewissenhaft gearbeitet hat, gibt es dort viele Akten, es tauchen viele Fälle auf. Mehr als an einem Ort, wo man nicht so gewissenhaft war. Das könnte den Eindruck erwecken, dass an Orten mit guter Aktenarbeit mehr missbraucht wurde und das stimmt ja nicht. Genaue Erkenntnisse können erst Folgearbeiten mit einer größeren Datenbasis bieten.
Frage: Ein Folgeprojekt beginnt 2024, darin soll unter anderem das katholische Milieu, katholische Missbrauchs-Spezifika und die staatliche Mitschuld erforscht werden – ganz schön viel für drei Jahre Forschungszeit. Haben Sie nicht Angst, dass es entweder zu wenig Zeit ist oder die Ergebnisse öffentlich nicht mehr so rezipiert werden?
Dommann: Was wirklich ansteht, ist die internationale Vernetzung. Wir haben uns schon mit Forschenden in Deutschland ausgetauscht. Künftig müssen diese deutschsprachigen Netzwerke noch stärker mit lateinischen Sprachräumen wie Frankreich, Portugal und Spanien verbunden werden. Und Kontakte zu Italien scheinen uns besonders wichtig, auch weil da die Forschung noch am Anfang steht. Wir müssen die Forschung internationalisieren. Die katholische Kirche ist eine internationale Organisation. Und deshalb muss auch die Forschung transnational ausgerichtet sein. Einige Quellen stehen uns auch noch nicht zur Verfügung, besonders prominent etwa die Archive des vatikanischen Glaubensdikasteriums. Dass sich diese, aber auch andere kirchliche Institutionen bewegen, können wir aber nicht alleine bewerkstelligen. Nur durch öffentlichen Druck entsteht Veränderung. Die Medien haben in der Vergangenheit (beispielsweise die Spotlight-Recherche des Boston Globe) eine wichtige Rolle gespielt. Wir ziehen uns nun erstmal wieder in die Forschung zurück. Wir sind Teil eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses. Ohne das Engagement der Zivilgesellschaft, der Medien und der an Aufklärung interessierten Kräfte innerhalb der katholischen Kirche werden wir keine Fortschritte erzielen.