Geistlicher Missbrauch: Das steht in der Arbeitshilfe der Bischöfe
Fünf Jahre ist die Veröffentlichung der MHG-Studie nun her. Fünf Jahre, in denen sich jede Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) mit der Aufklärung, Prävention und Intervention von Missbrauch beschäftigt hat, betonte der Vorsitzende Bischof Georg Bätzing bei seinem Auftakt-Statement am Montag. Das wird sich auch in diesem Jahr nicht ändern: Am Dienstag stellten die Bischöfe in Wiesbaden ihre Arbeitshilfe "Missbrauch geistlicher Autorität – Zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch" vor – und bearbeiten damit einen öffentlich bislang noch wenig diskutierten Komplex: "Anders als beim sexuellen Missbrauch stehen wir beim Umgang mit geistlichem Missbrauch aber erst am Anfang der Aufklärung und Aufarbeitung", schreibt Bischof Heinrich Timmerevers in seinem Vorwort zur Arbeitshilfe.
Diese ist nicht auf öffentlichen Druck entstanden, betonte Timmerevers am Dienstag. "Nein, öffentliches Interesse an dem, was Geistlicher Missbrauch anrichtet, gab und gibt es leider noch immer viel zu wenig." Die Initiative zum Papier komme von Betroffenen, erklärte der Bischof von Dresden-Meißen. Er ist Teil der im vergangenen Frühjahr eingesetzten Fachgruppe der DBK für Fragen des sexuellen Missbrauchs und von Gewalterfahrungen und einer der Hauptautoren des Dokuments. In seinem Bistum fand 2020 die internationale Fachtagung "Gefährliche Seelenführer? Geistiger und Geistlicher Missbrauch" statt – eine der ersten kirchlichen Tagungen, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Zuvor hatten 2018 die Pastoralkommission und die Kommission für geistliche Berufe und kirchliche Dienste der DBK auf einer internen Tagung geistlichen Missbrauch explizit als solchen thematisiert. Eine anschließend eingerichtete Arbeitsgruppe erteilte den Auftrag, die nun vorgelegte Arbeitshilfe zu formulieren. Bereits bei ihrer Frühjahrsvollversammlung in Dresden haben die Bischöfe den Text diskutiert und verabschiedet.
Speziell kirchliches Problem
Geistlicher Missbrauch ist ein speziell kirchliches Problem und meint in diesem Zusammenhang den Missbrauch geistlicher Autorität, die jemandem beispielsweise als Seelsorger, geistlichem Begleiter, Ausbildungsleiter oder Religionslehrer zugeschrieben wird. Dabei müssen die manipulierenden geistlichen Autoritäten nicht unbedingt ein Amt in der Kirche ausüben und damit eine institutionelle Machtposition einnehmen: Kleriker wie Laien, Haupt- wie Ehrenamtliche können ihre geistliche Autorität missbrauchen.
Mit ihrer 47-seitigen Arbeitshilfe wollen die deutschen Bischöfe jetzt einen großen Aufschlag machen und das Phänomen geistlichen Missbrauchs zunächst genauer definieren. Denn das hat gleich mehrere Dimensionen: Zum einen eine spirituelle, da Täterinnen und Täter die Betroffenen zur aus ihrer Sicht einzigen richtigen Spiritualität und gottgewollten Lebensweise zu verpflichten versuchen. Der Missbrauch hat zudem eine soziale Komponente, wenn – gerade in geistlichen Gemeinschaften – Ausgrenzung und Vereinsamung forciert werden und damit Abhängigkeit erzeugt wird. Der Druck, die soziale Anpassung, die krankmachende Ideologie – das alles kann außerdem psychische und physische Konsequenzen haben. Nicht zuletzt hat geistlicher Missbrauch auch eine theologische Dimension. "Geistlicher Missbrauch missachtet gewollt oder ungewollt den bleibenden Geheimnischarakter Gottes und den bleibenden Geheimnischarakter des Menschen – mit allen unabsehbaren Folgen solcher Verletzungen", heißt es in der Arbeitshilfe. Die Folgen seien mit denen des sexuellen Missbrauchs durchaus vergleichbar. Und nicht nur das: Oftmals bahnt Geistlicher Missbrauch sexuelle Übergriffe an.
Die Arbeitshilfe
Die Arbeitshilfe "Missbrauch geistlicher Autorität – Zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch" ist abrufbar auf der Webseite der Deutschen Bischofskonferenz.
Geistlicher Missbrauch ist aber nicht nur sehr facettenreich, er ist auch schwer zu greifen. Es gab und gibt praktisch keine Eintragungen in Personalakten mutmaßlicher Täter. Es kommt kaum zu einer Strafverfolgung durch Staatsanwaltschaften, wenn geistlicher Missbrauch nicht in Verbindung mit sexuellem Missbrauch auftritt. Auch kirchenrechtlich gibt es keine Anzeigepflicht.
Beim Umreißen des Komplexes geistlicher Missbrauch bleibt die Arbeitshilfe aber nicht stehen. Ein ganzer Fragenkatalog soll Betroffenen und unabhängigen Ansprechpersonen die Einordnung erleichtern, inwiefern es sich beim Erlebten um einen solchen Missbrauch handelt. Wenn etwa Sakramente oder intime Details aus geistlichen Gesprächen genutzt werden, um Personen emotional unter Druck zu setzen, wenn die Kontakte zu Herkunftsfamilie und Freunden untersagt werden, es einen auffälligen Personenkult um eine Oberin, einen Pfarrer oder einen Seelsorger gibt oder theologische und spirituelle Überzeugungen nicht infrage gestellt werden dürfen, können das deutliche Indizien für geistlichen Missbrauch sein. Doch – auch das macht die Arbeitshilfe deutlich – nicht jeder zwischenmenschliche Konflikt in religiösen Fragen ist schon geistlicher Missbrauch.
Indizien, die in der Vergangenheit häufig bei neuen geistlichen Gemeinschaften aufgetreten sind. Mit ihnen beschäftigt sich der Großteil der bisherigen Veröffentlichungen zum Thema geistlicher Missbrauch. In der Arbeitshilfe werden sie erwähnt, ohne dass auf ihre speziellen Gefahren und Probleme genauer eingegangen wird. Vielmehr benennt das Papier neben dem Indizienkatalog Kriterien für Anlaufstellen für Betroffene, Voraussetzungen und Möglichkeiten für eine Intervention durch Verantwortliche und Beispiele für Präventionsmaßnahmen.
In seinem Vorwort äußert sich Timmerevers auch selbstkritisch. "Aus Sicht der Betroffenen ist es eine viel zu lange Zeit, in der ihr Leiden nicht ansprechbar und benennbar war, nicht gesehen, nicht erkannt, ja bagatellisiert wurde." Berichte von Betroffenen, Erfahrungen von Seelsorgenden und Veröffentlichungen zum Thema geistlicher Missbrauch hätten jedoch deutlich gemacht, dass es sich um einen ganzen Komplex von geistlicher Manipulation und Entmündigung handele. "Aber auch innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz fehlten uns die Worte und die Begriffe, um das zu fassen und zu begreifen, was uns berichtet wurde und was nicht mehr zu übersehen war."
Mit dem Papier wollen die Bischöfe Anhaltspunkte zur Intervention und Prävention liefern. Aber es geht auch um Aufarbeitung. "Gerade dann, wenn kirchlichen Institutionen und Verantwortungsträgern schwerwiegende Fehler unterstellt werden, sei es durch Wegschauen, Nichtreagieren oder Bagatellisieren, sei es durch bewusstes oder achtloses übergriffiges Handeln, braucht es grundlegende Untersuchungen", fordert die Arbeitshilfe. Erst dann könnten wirksame Konsequenzen gezogen werden und "sich bei den Betroffenen ein Empfinden von Gerechtigkeit und Frieden einstellen". Eine juristische Aufarbeitung könne dabei nur der Anfang sein.
Evaluation und Überprüfung in drei Jahren
Nicht nur auf organisatorischer Ebene muss Aufarbeitung stattfinden, heißt es am Schluss der Arbeitshilfe. "Geistlicher Missbrauch ist eine radikale Anfrage, die jede theologische Disziplin betrifft." Der Text nimmt die Ordensgemeinschaften und Bistümer in die Pflicht, Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit die Aufarbeitung nicht nur Stückwerk bleibt und am Ende weiterer dauerhafter Schaden für die Betroffenen droht.
Eine lange Halbwertszeit wird die Arbeitshilfe unter Umständen aber nicht haben. Die Forschung in diesem Feld geht weiter. Die Bistümer Osnabrück und Münster führen zusammen mit den Universitäten der beiden Städte derzeit eine auf drei Jahre angelegte Untersuchung mit dem Titel "Geistlicher Missbrauch im Kontext Geistlicher Gemeinschaften" durch. Bereits für 2026 ist auch eine Evaluation und Überprüfung der Arbeitshilfe auf der Grundlage aktueller Entwicklungen in Aussicht gestellt.