Bizarre Splittergruppe zeigt zentrale Streitfragen des 20. Jahrhunderts

Mit eigenem Papst und Vatikan: Die palmarianisch-katholische Kirche

Veröffentlicht am 09.12.2023 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Palmar de Troya ‐ Im Süden Spaniens lebt eine kleine traditionalistische Splittergruppe, die einen eigenen Papst und Vatikan hat. An der palmarianisch-katholischen Kirche lassen sich einerseits bizarre Ausformungen des Traditionalismus ablesen – aber auch die großen Fragen der Kirche.

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Wer ist Papst und wo befindet sich der Vatikan? Die Mehrheit der leidlich informierten Menschen würde darauf antworten: Franziskus, Rom. Doch es könnte auch ganz anders sein: Petrus III., Palmar de Troya in Südspanien könnte ebenfalls als Antwort fallen – jedenfalls von einer kleinen traditionalistischen Splittergruppe, die sich schon seit mehreren Jahrzehnten behauptet: Die palmarianisch-katholische Kirche. Sie ist ein Indikator für Spaltungen und Auseinandersetzungen in der Kirche der vergangenen Jahrzehnte.

Alles begann in den auch für die Kirche sehr bewegten 1960er Jahren. Das Zweite Vatikanische Konzil war gerade erst seit ein paar Jahren vorüber, da kam es in der kleinen spanischen Ortschaft Palmar de Troya in der Nähe von Sevilla zu Marienerscheinungen – jedenfalls behaupteten das vier Mädchen im Alter zwischen elf und 13 Jahren. Doch sie zogen sich nach den Erscheinungen schnell aus der Öffentlichkeit zurück, schreibt der schwedische Religionswissenschaftler Magnus Lundberg, der zur palmarianischen Kirche geforscht hat. "Sie hatten nur angegeben, dass sie ein paar sehr ähnliche Visionen hatten und ihre Eltern und Verwandten wollten sie aus der Unruhe heraushalten", schreibt er in einem Buch zur Entstehung der Gemeinschaft. Seit den 1970er Jahren habe "keines der Mädchen mehr mit einem Außenstehenden über diese Sache gesprochen".

Nichtsdestoweniger machte die Rede von den Marienerscheinungen schnell die Runde und immer mehr Menschen kamen an den etwas abgelegenen, kleinen Ort. Es entwickelte sich ein reger Betrieb und einige Besucher gaben an, Visionen gehabt zu haben. Das auch ungeachtet der Tatsache, dass die Amtskirche die Erscheinungen nie anerkannte. Die sich entwickelnde Volksfrömmigkeit war im Spanien dieser Zeit nicht so ungewöhnlich. Entgegen dem Klischee des frommen Spaniens gab es bis ins 20. Jahrhundert vor allem auf dem Land oft keine Kirchengebäude. Die Menschen dort gingen – wenn überhaupt – nur zu Lebenswendeanlässen wie Hochzeit oder Taufe in die Kirche. So auch in Palmar.

Vom Buchhalter zum "Papst"

Erst nach einiger Zeit kam auch ein junger Mann aus Sevilla nach Palmar, Clemente Domínguez y Gómez. "Nach verschiedenen Angaben war Clemente in der Schule und seiner Nachbarschaft nicht besonders beliebt und wurde beschimpft und gemobbt", schreibt Lundberg über ihn. Die Ablehnung seiner Umgebung hing auch mit Clementes Homosexualität zusammen. In seiner Jugend versuchte er sogar einmal, sich umzubringen. Obwohl er eine Berufung spürte, durfte er nicht ins Priesterseminar, auch der Dominikanerorden wollte ihn nicht aufnehmen. Mit 22 Jahren wurde er dann Buchhalter. Ab dem Sommer 1969 kam er fast jeden Tag nach Palmar und verlor dadurch seinen Job. Er erzählte später, dass ihm auf dem Feld in einer ersten Vision am 30. September 1969 Christus und Padre Pio erschienen seien, später sei ihm auch die Jungfrau Maria erschienen. In seinen Visionen habe Maria die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils verdammt und sich gegen Häresie und Progressivismus gewendet. Zudem behauptete er, Stigmata gehabt zu haben. Einmal sollte er 15 Liter Blut verloren haben – es stellte sich jedoch heraus, dass das Blut nicht von ihm stammte.

Domínguez war charismatisch und ambitioniert. Zunächst versuchte er, Kontakt mit dem traditionalistischen Bischof Marcel Lefebvre aufzunehmen, doch der schickte nur eine kleine Delegation. Auf seine Empfehlung hin weihte der vietnamesische Bischof Pierre Martin Ngô Đình Thục den Mann, der nie eine Universität oder ein Priesterseminar besucht hatte, zuerst zum Priester und kurz danach zum Bischof. Der Erzbischof vom vietnamesischen Huế hatte sein Amt aufgegeben, weil er mit den Reformen des Konzils nicht einverstanden war, später wurde er ein bekannter Sedisvakantist, also jemand, der den Stuhl Petri als unbesetzt ansieht. Wegen der unerlaubten Weihen wurde er exkommuniziert. Die hier entstandene Verbindung zwischen der Volksfrömmigkeit um die Erscheinung in Palmar und dem Traditionalismus in der Ablehnung des Konzils sollte der Boden für die palmarianische Kirche werden.

Bild: ©picture-alliance/dpa/dpaweb/Emilio_Morenatti

Gründer und erster "Papst" der Palmarianer: Clemente Domínguez y Gómez.

Um den nun geweihten Domínguez scharten sich in der Folge mehr und mehr Menschen. Seitdem er bei einem Autounfall Mitte der 1970er Jahre das Augenlicht verlor, war er noch nachdrücklicher in seiner Mission. 1978 gründete er die "palmarianisch-katholische Kirche", benannt nach ihrem Gründungsort. Er weihte "Priester" und "Bischöfe" und ließ sich nach einer weiteren Vision zum "Papst" krönen, er nannte sich "Gregor XVII." Für die Amtskirche war seine Gemeinschaft schismatisch und häretisch – laut ihm hatte der einzig wahre "Vatikan" seit 1976 seinen Sitz in Palmar de Troya. Dort entstand bis 2014 für etwa 100 Millionen Euro eine große, reich geschmückte Kathedrale als Papstsitz. Finanziert wurde sie durch die hohen Beiträge und Spenden, die die Gläubigen an ihre Kirche leisteten – und weiterhin leisten.

Umgeschriebene Bibel und verkürzte Liturgie

Bis heute ist die palmarianische Kirche reich an exzentrischen Charakteristika: So hat Domínguez die Bibel umgeschrieben, da ihm laut eigenen Angaben Gott persönlich gesagt habe, wo es darin Lügen gäbe. Zudem wurde die Liturgie einschneidend geändert. Die Messe ist nur noch eine weniger als zehn Minuten dauernde Kurzform – mehr oder minder reduziert auf die Wandlung –, die dafür im Rahmen eines Messzyklus immer wieder hintereinander gefeiert wird. Das Motto: Je mehr Messen gelesen werden, desto besser. Es gibt eine Inflation an Heiligen: Fast jedes verstorbene Gemeindemitglied mit einer besonderen Funktion wird heiliggesprochen, aber auch etwa Christoph Columbus oder der faschistische Diktator Francisco Franco sind Heilige. Zudem gibt es prozentual gesehen extrem viele Bischöfe unter den Gläubigen. Maria ist fast so etwas wie eine Co-Gottheit und in der Apokalypse soll es laut den Palmarianern neben dem Antichristen auch eine Antimaria geben.

Das alles klingt bizarr, ist aber keineswegs so singulär wie man denken könnte, schreibt Lundberg. "Ein Leitmotiv der himmlischen Botschaften, die Clemente empfangen hat, war, dass das Ende der Welt nahe ist. Prophezeiungen über das Ende der Zeit sind zentrale Themen für viele katholische traditionalistische Gruppierungen, die sich um Marienerscheinungen gebildet haben", so der Religionswissenschaftler.

Bild: ©picture alliance/dpa/Raul Caro

Ganz links unter den palmarianischen Heiligen zu sehen: Der spanische Diktator Francisco Franco.

"Bis heute ist nicht ganz klar, ob Domínguez das damals wirklich alles ernst gemeint hat, oder ob diese palmarianische Kirche nicht eine große Täuschung ist, um sich selbst mehr Bedeutung zu verschaffen", sagt Thomas Schmidinger. Der österreichische Politikwissenschaftler hat sich im Rahmen seiner Forschung unter anderem mit den Palmarianern beschäftigt und war sogar bei einer Liturgie in deren "Vatikan". Das hat durchaus Seltenheitswert, denn die Gemeinschaft hat sich mit den Jahren mehr und mehr von der Außenwelt abgeschottet. Heute sind den Mitgliedern keine privaten Kontakte außerhalb der Gemeinschaft erlaubt, selbst Gespräche müssen sich auf das beruflich unbedingt Notwendige beschränken.

Kirchenaustritt des eigenen Oberhaupts

Das hat auch damit zu tun, dass die Gemeinschaft von einigen Ereignissen erschüttert worden ist. Nach dem Tod von Domínguez 2005 übernimmt Petrus II. als Papst, der die harten Abschottungsbestimmungen erlässt und die Schriften seines Vorgängers vernichtet. Nach dessen Tod 2011 wird Gregor XVIII. Papst, der verlässt jedoch 2016 mit einer zu seiner Lebensgefährtin gewordenen Nonne aus dem kircheneigenen Orden seinen Vatikan, entsagt der Kirche und bezeichnet sie als eine große Täuschung von Anfang an. Die allermeisten der anfangs etwa 10.000 Mitglieder verlassen nun die Kirche – sie verschwindet jedoch nicht. "Das ist das eigentlich Interessante", sagt Schmidinger: "Diese Kirche hat nicht nur den Tod ihrer Gründungsfigur, sondern sogar den Austritt ihres eigenen Papstes überlebt." Seit 2016 ist nun der Schweizer Joseph Odermatt als Petrus III. Papst und hat es geschafft, die Gemeinschaft zu konsolidieren, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau. In einer Predigt spricht er 2011 von etwa 1.000 bis 1.500 verbliebenen Mitgliedern.

Bild: ©Privat

Der Wiener Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger hat eine palmarianische Liturgie besucht.

Die leben in aller Welt, weit verstreut. Wirklich erlebbar wird die Gemeinschaft, die manche auch als Sekte bezeichnen, nur in Palmar de Troya. Wer dort den Vatikan besuchen will, muss rigide Kleidungsvorschriften einhalten: Männer dürfen keine langen Haare, Frauen keine Hosen tragen. Große Markenvignetten sind ebenso verboten. "Ich war extra vorher nochmal beim Friseur", erzählt Schmidinger. Bei seinem Besuch habe ihn ein Bischof die ganze Zeit begleitet, ohne Aufsicht mit Gläubigen sprechen kann er nicht. "Was die Menschen, die ich getroffen habe, gesagt haben, klang alles sehr auswendig gelernt." Es habe sich auf missionarisch geprägte Ansprachen beschränkt, viel über die Leute habe er nicht erfahren. Was aber klar ist: "Von ihren Werthaltungen sind die Palmarianer ultrakonservative, mit dem spanischen Franquismus sympathisierende, sehr körperfeindliche Menschen", fasst Schmidinger zusammen. Dazu passen auch einige Fälle von Selbstverstümmelungen, die es in die Schlagzeilen geschafft haben.

Dorf ist gespalten

Als erhellend beschreibt Schmidinger das Gespräch mit den Menschen im Dorf abends in der Dorfkneipe: "Die Dorfgemeinschaft scheint mit Blick auf die palmarianische Kirche sehr gespalten zu sein. Einerseits findet man die Palmarianer komisch, aber andererseits heißt es auch: 'Wer hat schon einen Vatikan vor der Haustür'", resümiert der Politikwissenschaftler.

Doch wie die Palmarianer ihren eigenen Papst haben, haben sie auch ihre eigenen Sedisvakantisten. In einem Dorf bei Málaga lebt eine kleine Gruppe, die sich nach dem Rückzug von Papst Georg XVII. von ihrer Kirche losgesagt haben und seitdem eine kleine Untergruppe bilden.

An der palmarianisch-katholischen Kirche lassen sich die Streitfragen, die die Kirche im 20. Jahrhundert beschäftigt haben, in Miniaturform ablesen. Das Zweite Vatikanische Konzil hatte die Kirche einschneidend verändert. Die neuen Messbücher waren der für Laien augenfälligste Ausdruck dafür. "Viele Menschen erkannten ihre Kirche nicht mehr wieder und betrachteten die postkonziliaren Entwicklungen als Bruch mit der Vergangenheit", schreibt Lundberg. Dass die Kirche viele Marienerscheinungen nicht anerkannte, sorgte für noch mehr Kritik an der Amtskirche. Das schaffte eine kritische Masse an Katholiken, "die zu dem Schluss kamen, dass die Amtskirche nicht auf die Warnungen des Himmels hörte", so der Religionswissenschaftler. Das schlägt sich bis heute in der Ablehnung alles Liberalen und Modernen durch Ultrakonservative nieder, aber eben auch in den Schriften Clemente Domínguez'. Er schuf für seine Anhänger eine kirchliche Welt, in der die alten, harten Werte wie Keuschheit noch galten – und in der man selbst im Recht war, denn die Amtskirche sei ja von Kommunisten und Freimaurern unterwandert. Mit der Einbindung des Kardinals Thục hatten sie ein amtskirchliches Pfund in der Hand, auch wenn der ehemalige Erzbischof sich sehr bald von der Bewegung distanzierte und zur katholischen Kirche zurückkehrte. Die Palmarianer sind ein Ausdruck für den Blick zurück, für schlichte Vorgaben – und für die Gegnerschaft zu Reformen in der Kirche.

Von Christoph Paul Hartmann