Castellucci: Brauchen Berichtspflicht über Aufarbeitung im Bundestag
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Seit zehn Jahren ist SPD-Politiker Lars Castellucci Mitglied des Deutschen Bundestags. Im Interview spricht er darüber, ob das Thema Religion in dieser Zeit an Bedeutung gewonnen oder verloren hat. Außerdem erklärt er, warum er Mitglied der Kirche bleibt und mit welchen Themen er sich als "Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften" auseinandersetzt.
Frage: Sie sind "Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften" der SPD-Bundestagsfraktion. Von der Konfession her sind Sie evangelisch und stehen auch dazu. Welche Rolle spielt der Glaube heute noch für Sie? Für viele wird die Kirchenmitgliedschaft ist immer schwieriger in den Zeiten, wo es berechtigte Kritik an sowohl der katholischen, aber auch an der evangelischen Kirche gibt.
Castellucci: Es gibt den Spruch: Aus der Kirche, aus der Ehe und aus der SPD – oder aus der Partei – tritt man nicht aus. Das bleibt so, auch wenn es manchmal graue Haare bereitet. Persönlich empfinde ich den Glauben aber als einen Halt. Er strukturiert mir auch das Jahr mit den Festen, die gefeiert werden. Wenn in der Kirche ein Posaunenchor loslegt, dann merke ich irgendwie immer sofort: Ich bin hier richtig. Das hat einfach was mit meiner Identität zu tun.
Das streife ich nicht ab, nur weil mich aktuell irgendwas stören könnte. Wenn jemand auch aus der SPD austritt, weil irgendjemand was gesagt hat, dann wundere ich mich auch. Man tritt ja auch nicht in eine Partei ein, weil jemand was gesagt hat.
Man hat irgendwie eine Idee, dass das Sinn macht und das die richtige Seite ist. Natürlich kann es immer auch unzureichend sein, wenn Menschen miteinander tätig werden. Dann muss man eben wieder weitermachen oder von neuem beginnen. Das gehört zum Leben einfach dazu. Deswegen lasse ich mich da nie entmutigen.
SPD-Politiker fordert einheitliche Missbrauchsstudie der Kirche
Die Politik sei zu nachlässig gewesen mit den Kirchen und habe ihnen zu sehr vertraut, sagt der religionspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Lars Castellucci. Er fordert eine einheitliche Missbrauchsstudie der katholischen Kirche in Deutschland.
Frage: Sind Sie im Kontext der Ampel oder Ihrer Partei ein Sonderfall? Als die CDU die Bundeskanzlerin gestellt hat, waren natürlich mehr Leute mit einem christlichen Hintergrund in der Regierung.
Castellucci: Naja ja, vielleicht von der Mitgliedschaft her oder wenn man hört, wie die Vereidigung läuft und ob die Gottesformel gesprochen wird. Wenn es aber um den konkreten Einsatz für Schwächere geht: Wenn ich mich zurückerinnere, was das für ein Kampf gegen Windmühlen war, irgendwelche Menschen aus der Union dazu zu bewegen, das Lager Moria auf Lesbos zu evakuieren, weil da einfach unwürdige Zustände herrschten und die Menschen im Schlamm und Dreck fest steckten, dann sieht das doch anders aus.
Manchmal habe ich das Gefühl, die haben ihr "C" unten beim Pförtner abgegeben und vielleicht holen sie es wieder ab, wenn sie rausgehen. Die Ampel hat ein klares Bekenntnis zu Kirchen- und Religionsgemeinschaften und zur Religionsfreiheit im Koalitionsvertrag formuliert.
Der Kanzler selbst war in diesem Jahr bei den beiden großen Empfängen der katholischen und der evangelischen Kirche und konnte zum Teil auch dort das Wort ergreifen. Ich glaube, es geht weiter in einem guten und kooperativen Verhältnis, das wir in diesem Land ja auch schon lange pflegen.
Frage: Sie sind Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften. Warum heißt das bei Ihnen nicht wie bei den anderen Parteien "religionspolitischer Sprecher"?
Castellucci: Wir formulieren gar keine Sprecherfunktionen, weil immer jemand Sorge hat, dass dann da viel gesprochen wird, was nicht abgestimmt ist. Das ist so eine Eigenheit. Die Leute in den Ausschüssen, die fachlich für Themen zuständig sind, heißen bei uns Berichterstatter oder Berichterstatterinnen. Und dann haben wir Beauftragte in der SPD-Bundestagsfraktion für unterschiedliche Bereiche, deren Aufgabe jetzt auch nicht in erster Linie ist, dauernd was zu sagen.
Ich verstehe auch meine Arbeit sehr stark als Ansprechpartner und Brücke in die Institutionen und weniger als derjenige, der inhaltlich immer für die Sache spricht.
Was wir bisher nicht haben, ist jemand, der für die Weltanschauungsfreiheit oder die Weltanschauungen zuständig ist. Das ist bei Kirchen und Religionsgemeinschaften bisher verblieben. Und was meine Person angeht, bin ich damit auch zufrieden, denn das ist auch schon eine große Aufgabe.
Frage: Machen wir das noch mal konkret. Was sind das für Themen, mit denen Sie sich in Ihrer Funktion im Moment auseinandersetzen?
Castellucci: Die ganze Bandbreite. Angeblich sind wir ja in einer Zeit, die man als säkularer werdend beschreiben kann. Sie haben ja die Kirchenmitgliedschaften angesprochen, die sinken. Evangelische und katholische Christinnen und Christen im Lande sind nicht mehr die Mehrheit von über 50 Prozent der Bevölkerung.
Andere Mehrheiten gibt es aber auch nicht. Es ist auch so, dass natürlich Leute austreten, die sich weiter als Christen oder Christinnen empfinden, aber an den Institutionen einfach verzweifeln oder nichts damit anfangen können. Was ich jetzt auch nicht gutheißen muss. Die Institutionen werden auch nicht besser, wenn man ihnen den Rücken kehrt. Da ist meine persönliche Haltung immer, dabei bleiben und versuchen, was zu verändern, soweit man die Kraft hat. Die Themen sind aber omnipräsent.
Angeblich wird alles säkularer, aber gleichzeitig ist überall von Religionen die Rede. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, also wie Religionsfreiheit bei uns im Land, aber auch weltweit gelebt werden kann; was für Potenziale Religion auch für Politik und auch für eine Entwicklung der Welt hat; und auf der anderen Seite, welche Gefährdungen durch Religionen auch gegeben sind, dass man das gut miteinander verhandelt und versucht, positiv zu gestalten.
Besonders schmerzlich ist für mich in Deutschland im Moment der anwachsende Antisemitismus. Das ist natürlich auch ein Teil der Arbeit, hier die Kontakte zu pflegen zu den jüdischen Einrichtungen und Vertretern des Judentums. Es ist immer wieder erschreckend, wenn man durch Sicherheitsvorkehrungen in Gotteshäuser gehen muss.
Wenn man sich vorstellt, an Weihnachten wäre das so in den christlichen Kirchen, dass man da nur durch Sicherheitsapparat und Kontrollen in die Kirchen gehen könnte, das würde nicht geduldet werden. Es würde einen Aufschrei geben. Für Jüdinnen und Juden ist es aber Realität. Dafür kann man sich schon auch schämen. Und es passieren viele Übergriffe.
Ich habe manchmal auch einfach vor Ort angerufen und gefragt: Wie gehts und wie fühlen Sie sich jetzt? Passiert was? Sind die Sicherheitsvorkehrungen noch mal verstärkt worden? Haben eigentlich andere Religionsgemeinschaften reagiert, ihnen die Solidarität ausgesprochen? Es geht also einfach darum, zu versuchen, auch den Kontakt zu halten.
Wir haben aber auch mit der Islamkonferenz und natürlich generell damit, wie es mit muslimischem Leben in Deutschland gelingen kann, große Fragen. Und wir haben die Frage der Ablösung der Staatsleistungen. Es ist also schon einiges im Koalitionsvertrag angelegt und auch in der Gesellschaft präsent. Da wird einem nicht langweilig mit dieser Aufgabe.
Frage: Sie sind jetzt seit zehn Jahren Mitglied des Bundestages. Hat der Themenbereich Religion in dieser Zeit an Bedeutung gewonnen oder verloren?
Castellucci: Einerseits wird darüber geredet, dass das immer weniger wichtig wird, weil die Gesellschaft säkularer wird. Gleichzeitig ist Religion ständig in den Medien. Meistens, weil irgendwas passiert und weil Religion auch nie davor gefeit ist, gekapert zu werden, wo es eigentlich um Macht und Einfluss geht und gar nicht um religiöse Fragen.
Umso wichtiger ist aber natürlich, Menschen kompetent zu halten und an der religiösen Alphabetisierung im Land zu arbeiten. Denn wenn das Phänomen da ist – es ist da, dann muss ich damit auch gut umgehen können. Ob ich jetzt persönlich gläubig bin oder nicht, spielt da gar keine Rolle. Ich muss aber damit umgehen können, dass das in der Gesellschaft da ist. Diese Kompetenz hochzuhalten, das halte ich für eine sehr wichtige Frage. Das nimmt eher zu. Also je schwächer es wird und je weniger es automatisch in den Familien da ist, umso mehr muss man das über Bildung und über Begegnungen versuchen zu stärken im Land.
„Wir brauchen keine Kultur des Hindeutens auf die Kirche nach dem Motto, die sind böse und wir fühlen uns dann besonders gut im Vergleich, sondern wir brauchen eine Kultur des Hinsehens überall, wo solche Taten passieren können.“
Frage: In den letzten zehn Jahren hat besonders die katholische Kirche sehr an Ansehen verloren, auch durch den Missbrauchsskandal in Deutschland und die Probleme bei der Aufarbeitung. Es gibt aus verschiedensten Richtungen immer wieder die Forderung an die Politik, dass mehr unternommen werden muss, dass diese Aufarbeitung nicht bloß in den Händen der eigenen Organisation liegen sollte. Nun sagen kirchliche Vertreter, sie würden gerne, die Politik wolle nur nicht, die wolle sich das nicht ans Bein binden. Wie erleben Sie den ganzen Themenkomplex?
Castellucci: Ja, genau so. Das ist auch weiterhin unbefriedigend und ausgesprochen schwierig. Auf der anderen Seite ist da aber so viel Leid und Elend passiert und es passiert ja auch immer noch mal weiter irgendwo etwas, sodass das auch kein Wunder ist, dass es schwierig und elend ist.
Man schämt sich und denkt: Wie konnte das passieren? Dann verweist man gleichzeitig wieder auf das viele Gute, was Kirche auch macht. Und das ist dann natürlich auch schon wieder falsch, weil man natürlich das Leid nicht damit verrechnen darf, sondern sich dem Verbrechen mit aller Konsequenz stellen muss.
Wir wissen, dass die meisten Taten sexualisierter Gewalt im privaten Raum stattfinden und das auch Sport, Ehrenamt, Bildungseinrichtungen, Heime etc. betrifft. Das ist also omnipräsent. Die Kirchen sind jetzt seit über zehn Jahren besonders im Fokus und sollten das aus meiner Sicht nutzen – so schlimm alles ist, einen noch beispielhaften Umgang zu versuchen hinzubekommen, damit die anderen gesellschaftlichen Bereiche, in denen noch überhaupt gar nichts oder wenig passiert ist, auch in die Gänge kommen.
Wir brauchen keine Kultur des Hindeutens auf die Kirche nach dem Motto, die sind böse und wir fühlen uns dann besonders gut im Vergleich, sondern wir brauchen eine Kultur des Hinsehens überall, wo solche Taten passieren können. Das ist in der Regel eher im sozialen Nahraum. Das finde ich grundsätzlich ganz wichtig bei diesem Thema.
Die Frage der Verantwortung der Politik ist natürlich gegeben, ganz konkret, weil natürlich auch unsere Ämter eine Mitverantwortung haben. Wir können aber nicht sagen, wir nehmen das jetzt den Organisationen weg. Ein Lernen mit Blick nach vorne, also wie können wir für die Zukunft bestmöglich vermeiden, dass es weitere Übergriffe gibt, wird es nur geben, wenn die Organisationen sich den Fragen selber stellen, und nicht wenn man ihnen das von außen anträgt.
Deswegen möchte ich gerne, dass das mit Engagement gemacht wird in den Institutionen. Aber ich möchte, dass der Staat darauf achtet, dass es auch passiert und wie es passiert. Wir werden ein Gesetz, dass die Unabhängige Beauftragte und die Aufarbeitungskommission stärkt, noch in den Deutschen Bundestag bekommen im nächsten Jahr. Da werde ich versuchen, darauf zu achten, dass wir hier die Zügel etwas enger ziehen und als Parlament auch klarmachen, was unsere Erwartungen an gute Aufarbeitung sind.
Dazu gehören dann am Ende auch Fragen von Prävention und auch von Entschädigung usw. Erst mal gehört aber dazu, dass die Menschen, denen Schlimmes widerfahren ist, nicht wieder das Gefühl haben, gegen die Wände der Organisation zu rennen, in denen ihnen schon Schlimmes widerfahren ist, sondern dass es Prozesse gibt, auf die sie sich verlassen können, die auch eine wirkliche Aufarbeitung dann am Ende bringen.
Frage: Was steht in diesem Gesetzentwurf? Was muss sich verändern?
Castellucci: Er liegt noch nicht vor. Das ist auch schlecht, dass der noch nicht vorliegt. Es ist viel los, darauf schiebe ich es jetzt mal. Auf der anderen Seite ist es auch kompliziert. Es ist nicht ganz leicht, eine gute Architektur der Aufarbeitung zu entwickeln. Ich habe dazu Vorschläge gemacht. Und im Kern muss man die Institutionen, die sich mit Aufarbeitung beschäftigen, stärken. Das sind am Ende ganz banal Fragen von Ressourcen. Also wie viele Leute sind da? Wie sind die ausgestattet? Wir werden aber auch die Transparenz erhöhen, indem wir eine Berichtspflicht einführen werden gegenüber dem Deutschen Bundestag. Das ist für mich auch die Haltelinie, was meine Zufriedenheit mit diesem nächsten Gesetz angeht, dass wir das schaffen, dass regelmäßig dem Deutschen Bundestag berichtet wird.
Da muss die Arbeit dann in den Ausschüssen dann fortgesetzt werden. Und Institutionen, die sich der Aufarbeitung stellen, können wissen, dass in regelmäßigen Abständen der Zwischenstand dieser Aufarbeitung auch Gegenstand der Debatten im Deutschen Bundestag sein kann. Ich glaube, ein solcher Schatten der Zukunft, der dann da droht, der macht möglicherweise auch noch mal Leuten Beine, die bisher zu zögerlich sind. Das hilft auch vor allem denjenigen in den Institutionen, die schon seit vielen Jahren versuchen, da mehr und schneller was nach vorne zu bewegen, aber auch intern immer wieder auf Hürden stoßen. Da sollten wir helfen, sie zu überwinden.